Beiträge von Maarten

    Tom es ist mein 5. Mitchell und das erste Mal, dass ich direkt einen weiteren hinterher schieben musste. Einfach weil dieser zu gut war, um jetzt irgendwo ganz anders weiterzulesen. Überragend sind sie aber bisher alle.
    (Randnotiz: Aus Knochenuhren musste ich damals beim Lesen 2 Seiten fotografieren und verschicken, einfach weil sie so unglaublich gut geschrieben waren. Hab ich nie vorher oder nachher gemacht. Aber es gab eben auch Längen.)

    Ich stecke jetzt in 'Der dreizehnte Monat', was sich bisher großartig liest und wieder ganz anders, als andere Bücher von Mitchell. Der Protagonist ist ein 13-jähriger Stotterer (Mitchell stotterte selbst als Kind, es ist von Semi-Autobiographie die Rede). Sprachlich mal wieder unglaublich kreativ und virtuos.

    Der dreizehnte Monat bzw. Black Swan Green war sein 1. Roman nach Wolkenatlas.
    Mitchell sagte dazu:
    After doing a half Chinese-box, half Russian-doll sort of a novel, I wanted to see if I could write a compelling book about an outwardly unremarkable boy stuck in an outwardly unremarkable time and place without any jiggery-pokery, without fireworks—just old-school.


    Bin eigentlich noch nicht weit genug, aber ich schätze, Du hättest großen Spaß daran...

    Dieser Tage habe ich mich mal ein bisschen umgeschaut und mich gewundert, dass Utopia Avenue in Rezensionen von Literaturkritikern meist schlecht abschneidet.

    Was von diesen wiederum häufig damit begründet wird, dass man von David Mitchell, der das geniale Wolkenatlas geschaffen hat, eben mehr erwarten würde.

    Deswegen noch etwas Nachschlag von mir hier.


    Die Art wie Mitchell erzählt, war schon immer etwas besonderes. Er geht sehr nah an die Perspektive seiner vielen Protagonisten heran, gibt ihnen eine individuelle Sprache. Und er bedient sich gerne innerhalb eines Romans verschiedener Genres und verknüpft eine Vielzahl an Themen, die ihn gerade interessieren, vielfältig miteinander.

    In Cloud Atlas macht er das alles sehr offensichtlich, der Roman kommt durchaus prätentiös daher. Das muss man als Autor erst mal können, ohne dabei unterzugehen. Und Mitchell kann das.

    Das und der eigenwillige Aufbau hat offensichtlich die Literaturkritiker seinerzeit beeindruckt.


    Mitchell selbst sagt über Cloud Atlas:

    "I feel the need to resist the temptation to read it in editing mode, and change everything. I want to say, ‘well done’ to the kid I was when I wrote it. It’s the best thing I could have written at the time."


    Nach meinem Empfinden hat Mitchell sich deutlich weiterentwickelt seit Cloud Atlas, er kann heutzutage viel unauffälliger seine Qualitäten umsetzen.

    Die verschiedenen 'Genres' hat er in Utopia Avenue so dicht miteinander verflochten, dass es kaum noch auffällt, vielen der Literaturkritikern anscheinend gar nicht mehr.

    Die geben sogar häufig schon den Plot falsch wieder.


    Dabei *ist* der Roman Utopia Avenue die Band, ihre Musiker und die Alben und ihre Musik gleichzeitig.

    So wie die fiktive Musik dem Wesen und den Erlebnissen der jeweiligen Komponisten in dieser Geschichte entsprungen sein würde - gäbe es sie denn - so sind auch die einzelnen Kapitel dem Wesen und den Erlebnissen der fiktiven Musiker entsprungen.

    Aus den Musikgattungen Blues, Folk, Psychedelic die die Komponisten von Utopia Avenue beisteuern, sind Literaturgattungen geworden, die Mitchell in dieser Bandgeschichte vermischt, um etwas Größeres als die Summe der Einzelteile entstehen zu lassen.
    Die Themen entsprechen dabei den Musikgattungen:

    Dean/Blues: Kein Geld, keine Arbeit, keine Bleibe, Gefängnis, One-Night-Stands, Gewalt, Drogen, usw.

    Elf/Folk: Herzschmerz, Gesellschafterwartungen und Konventionen, usw.

    Jasper/Psychedelic: Autismus, Schizophrenie, Transzendenz, Phantastik, usw.


    So wie die Band Utopia Avenue diese Musikgattungen auf einem Album verschmilzt, so verschmilzt Mitchell diese 3 'Literaturgattungen' jeweils in Form eines individuellen Entwicklungsromans.

    Wenn Elf die Musik von Utopia Avenue als eklektisch bezeichnet, gilt dies genauso für diesen Roman, wie es auch damals schon für Wolkenatlas und Knochenuhren galt.

    Nur ist es hier viel weniger offensichtlich, weniger prätentiös als in den früheren Romanen.


    Viele der Literaturkritiker halten sich, die Themen anscheinend nicht erkennend, an den ganzen Cameos auf, der Tapete im Hintergrund. Und suchen im Netz nach der Musik von Utopia Avenue, ohne zu Begreifen, dass Alleine ihre Suche nach fiktiver Musik schon zeigt, wie authentisch Mitchell das Ganze erzählt. Und das, obwohl er so viele Themen darin verarbeitet, der Aufbau so stark strukturiert ist und obwohl er auch noch einen Fantasy-Erzählstrang darin unterbringt.


    Für mich ist das Mitchell at his best...

    Treffen eine Folksängerin, ein Bluesrock-Bassist, ein Jazzschlagzeuger und ein Psychedelic-Rock-Guitarhero in einer Bar auf einen schwulen Manager.


    So in etwa ist die Ausgangslage bei Utopia Avenue, dem 8. Roman von David Mitchell. Es ist der unglaublich virtuosen Erzählkunst von David Mitchell zu verdanken, dass Utopia Avenue trotz dieser kruden Ausgangslage so authentisch wirkt.


    Sören und Tom haben bereits einiges über den Inhalt dieses sehr lesenswerten Romans geschrieben, ich möchte ein paar Themen, die mir besonders gefallen haben, beleuchten.


    Zunächst das Thema, dass mir durch den Romantitel in den Mittelpunkt gestellt zu sein scheint:

    Die große Spannbreite der Bandmitglieder ist natürlich von Mitchell bewusst so gewählt, er schiebt die Bandmitglieder möglichst weit auseinander, sie kommen aus vollkommen verschiedenen Lebensrealitäten, von Arbeiterschicht mit alkoholkrankem, gewalttätigen Vater bis zum adligen Bastard.

    Ein Interview mit David Mitchell scheint mir seine Motivation dazu zu verdeutlichen:


    Auf die Frage
    Has it ever proven to be daunting to write about different cultures or geographies?

    antwortet Mitchell

    It was easier when I started off in the ‘90s. The old Creative Writing Workshop advice — write what you know — has, in more recent years, become a kind of a commandment. I don’t want to just write novels about middle-class, middle-aged English guys with university degrees. I’m too hungry to try to see the world through other people’s eyes, maybe with slightly differently coloured skins.

    That’s where the excitement is for me. I think it’s just really important that we do try. Republicans should try to think like Democrats, Democrats should try to think like how Trump voters think. And, maybe in a multi-cultural society like India, it’s that or it’s civic distress. In the UK, in Ireland, and everywhere else, it’s the same story.

    I would love a world where it is a civic responsibility to try to think like other people in your society. That is a little glimpse of utopia.


    Erzählt wird hier nicht die übliche Bandgeschichte, also nicht über einen Haufen Konflikte, die irgendwann in 'Auflösung wegen musikalischer Differenzen' enden. Schon sehr früh wird durch einen pragmatischen Ansatz der Konkurrenzgedanke innerhalb der Band geklärt und nicht trotz, sondern auch dank der unterschiedlichen Ausrichtungen, wird Utopia Avenue zu einer Song-Verbesserungsmaschine.

    Oder wie Elf es sagt: "Eine Band ist eine Band, weil sie mehr ist als die Summe ihrer Mitglieder. Warum würde man sonst in einer spielen?"

    Die Band hat zunächst den Arbeitsnamen 'The way out' bis Jasper 'Utopia Avenue' vorschlägt. Er sieht es, als ein Paradox aus etwas Alltäglichem, der Straße und etwas, was nicht existiert, der Utopie.

    Hier haben wir sie vor uns - diese Utopie - lebendig geworden in Form einer Band, die eben mehr ist als die Summe ihrer Mitglieder.

    Mitchell erzählt uns diesen Weg zur utopischen (Kleinst-)Gesellschaft so reizvoll und authentisch überzeugend, dass man nur zu gerne Teil davon wäre. (Gelungen in diesem Zusammenhang auch das kurze Aufeinandertreffen von Pavel und Mekka relativ am Anfang dieses Romans).


    Dann das Thema Autismus, das wunderbar in Form von Jasper im Roman in Szene gesetzt wird, ohne das es jemals im Roman benannt wird.

    In Jasper spiegelt sich die Geschichte des Autismus wider. Zu Zeiten Jaspers Kindheit steckte die Autismusforschung in den Kinderschuhen, Autismus wurde für eine kindliche Variante der Schizophrenie gehalten.

    Die 'Behandlung' erfolgte häufig auf grausame Weise, Einsperren, Fixieren, Elektroschocks, Drogen usw. Jaspers Angst aufzufallen, ist also sehr berechtigt.

    Mitchell liebt es seine Bücher so zu erzählen, dass sie - obwohl sie sich überhaupt nicht ähneln, zu verschiedensten Zeiten spielen und er die Genres ständig wechselt - einander Aufgreifen in Bezug auf wiederkehrenden Personen, Themen und einer übergeordneten Geschichte, die sich aus allen Büchern gemeinsam ergibt.

    Es ist eine fraktale Art zu erzählen, die ich so von keinem anderen Autor kenne. Er versucht dabei so zu erzählen, dass je nachdem, welches seiner Bücher man bereits kennt, man ein Buch unterschiedlich versteht.

    Für jemanden, der 'Die tausend Herbste des Jacob de Zoet' gelesen hat, ist vielleicht erkennbar, dass Jasper keine schizophrenen Episoden hat, sondern etwas anderes dahintersteckt.

    Für jemanden, der 'Knochenuhren' gelesen hat, ist glasklar, dass keine Schizophrenie vorliegt.

    Jasper selbst sagt:

    "Das Hirn konstruiert ein Modell der Realität. Wenn dein Modell sich in etwa mit den Modellen der anderen deckt, bekommst Du das Etikett 'gesund'. Wenn es abweicht, heftet man dir das Etikett 'Genie', 'Sonderling', 'Prophet', oder 'Spinner' an. Im Extremfall wirst Du als schizophren abgestempelt und weggeschlossen."


    Mitchell zeigt in Jaspers Perspektive u.a. die Schwierigkeit Gesichter lesen zu können. In Deans Perspektive ist es umgekehrt, vieles wird über Gesichter gelesen und beim Lesen ist mir aufgefallen, wie komplex die Emotionen sind, die man von Gesichtern ablesen kann. Oder eben auch nicht


    Dann das Wesen der Zeit und ihre Vergänglichkeit, das mir immer eine besondere Aufmerksamkeit bei Mitchell zu genießen scheint.

    Es ist da naheliegend einen Roman über Musik zu schreiben, einer Kunstform die die Zeit in kleine Abschnitte teilt und festlegt, was in diesen zu hören ist. Zeitlich einsortierte Klänge, die Emotionen hervorrufen. Kompositionen, die Jahrhunderte überdauern können, lebendig bleiben.

    In der Mitte dieses Buches wird z.B. das Sommerfest bei den Hersheys erzählt, es wirkt sehr lebendig, es ist als wäre man dabei, es ist im Präsens erzählt, gleichzeitig ist es ein Fest der Toten.

    Eingeleitet wird es folgendermaßen:

    "Später, als Grootvader Wims Wagen Formaggio in eine strahlende Zukunft entführte, wurde Jasper blitzartig klar, dass der Tod eine Tür ist, und er fragte sich: Was macht man mit einer Tür.


    Die Tür öffnet sich in eine Halle, erfüllt von Lachen, Partygeplänkel und den laut gedrehten Klängen von Getz / Gilberto..."


    Crispin Hershey - der kleine Sohn der Hersheys - bekannt als Protagonist eines der Teile von Knochenuhren, geht auf dieser Party herum und 'erschießt' spielerisch die Gäste "Peng, peng, du bist tot." Aus unserer heutigen Sicht, sind sie bereits alle längst tot.

    Das Wesen der Zeit wird an vielen Stellen hier betrachtet: Berauschend durch Musik, oder quälend langsam, oder ihre Endlichkeit so schmerzhaft, dass man sie nur schlafend verbringen möchte usw.

    Der Schlagzeuger Griff Griffin scheint mir dabei die Verkörperung der Zeit zu sein. Musikalisch ist das ohnehin naheliegend. Er verkörpert sie aber auch sehr überzeugend: Ohne die Zeit geht nichts, aber sie ist gleichzeitig eine Selbstverständlichkeit, wirkt anspruchslos, ist immer da. Bis etwas endet.

    (Er zählt übrigens passend dazu - aber ganz untypisch für eine echte Band - nie ein Stück an. Das machen immer Dean, Elf oder Jasper.)


    Bei den bisherigen Büchern von Mitchell hatte ich immer gemischte Gefühle beim Lesen. Er hat ein unglaubliches Erzähltalent, aber streckenweise hat er mich immer verloren. Alle seine Bücher waren ein Erlebnis, aber dieses Buch ist das erste von ihm, dass ich bis zur letzten Seite geliebt habe und das ich gerne noch weitergelesen hätte.

    Über Miles Davis habe ich vor kurzem das kunstvolle 'miles davis and the search for the sound' von Dave Chisholm gelesen. Chisholm ist selbst ambitionierter Trompeter und Jazzmusiker, er überträgt Musik sehr gekonnt in Bilder und Farben. Eine sehr gelungene graphic novel!

    ASIN/ISBN: B0B91634J3


    Hier kann man ein bisschen zuschauen beim Blättern:

    Mich erstaunen die Meinungen hier bzgl. Kamala Harris.
    Natürlich liegt es nicht an Kamala Harris, dass Trump gewählt wurde. Sie ist in jeder Hinsicht die bessere Wahl und hat ab dem Moment, ab dem sie zur Kandidatin wurde, sich durchaus überzeugend präsentiert.

    Welche Vision soll das sein, die die Republikaner erzählen?
    Sie haben lediglich eine Handvoll Slogans. Die lediglich eine Lüge sind.

    Das Phänomen ist, dass Trump trotzdem gewählt wird.
    Weil ihm auf irgendeine merkwürdig magische Weise abgenommen wird, dass jeder der ihn wählt, dadurch ein paar Dollar mehr in seiner Brieftasche findet, für die er dann auch noch im Geschäft mehr bekommt, als es unter Biden der Fall war.
    Und für dieses leere Versprechen sind die Leute bereit alles in Kauf zu nehmen.

    Das Gegenteil wird eintreten.
    Und mal sehen was in den nächsten Jahren übrig bleibt von Pressefreiheit und 'checks and balances'.

    Gewonnen hat er die Wahl gegenüber der letzten wohl vor allem durch eine Verschiebung des Wahlverhaltens bei den lateinamerikanischen Männern:
    https://eu.usatoday.com/story/…tion-victory/76084362007/

    Insbesondere die Inflation unter Biden scheint da den Ausschlag zu geben (die aktuell im Griff ist und laut Prognosen unter Trump zu einem großen Problem werden wird, aber mit Rationalität hat diese Wahl ja ohnehin nichts zu tun).
    Und ich fürchte auch Sexismus, anders kann ich es mir zumindest nicht erklären...

    Der Aktienkurs von DJT (Trump Media & Technology Group) spiegelt ja die öffentliche Meinung über die Chancen von Donald bei der anstehenden Wahl. Es ist eine Firma, die wahrscheinlich nur einen gewissen Wert erhalten kann, wenn er gewählt wird.

    So sank der Kurs nach der Debatte mit Biden (weil Biden so schlecht war, dass seine Ablösung befürchtet wurde), stieg nach dem Attentat und fällt kontinuierlich seit Harris übernommen hat, bis auf eine leichte Erholung die letzten Tage vor der Debatte.

    Jetzt war also die Debatte mit Harris, der Kurs öffnet heute mit -15% :)
    Bleibt spannend, aber das freut mich jetzt erst mal...

    (Spannend wird's auch am 20., ab dann darf Trump die Aktie verkaufen und damit das Geld der Leute, die an ihn glauben, in seine eigenen Taschen schieben...)

    Nicht passend zum Thread, aber weil's schön anzuschauen ist und zu unserer Mobilitätsdiskussion passt.

    Die ganze Problematik des Verkehrs in Städten wird ja sehr viel einfacher, sobald es selbstfahrende Autos als Abomodell gibt. Ich hatte meinen Kindern prophezeit, dass sie keinen Führerschein mehr brauchen werden, aber ganz so weit sind wir aktuell dann doch noch nicht.

    Weil so schön anzuschauen ist, hier ein Waymo-Robotaxi-Depot in San Francisco, wenn viele Robotaxis gleichzeitig angefragt werden:

    Ja, es ist frustrierend.


    Ich wundere mich auch immer wieder, dass in der Werbung häufig das größte Problem des Beworbenen ins Gegenteil verkehrt in den Fokus gestellt wird:

    'Die Freien Sachsen'

    'Freiheit zurückerobern'

    'Partij voor de vrijheid'

    'Bündnis Sahra Wagenknecht'

    'Mobile Vernunft'

    'Fairplay casinos'

    'Take back control' (Brexit-Slogan)

    Die sozialen Medien

    Wie war's noch bei Nutella? Das Beste aus einem Liter entrahmter Milch?


    Es genügt sehr häufig den beworbenen Punkt zu überdenken, um dem größten Problem genau mitten in die Augen zu schauen.


    'Make America great again'

    'Yes we can'

    ...

    Ich lese gerade upday News. Jürgen Elsässer, der Herausgeber des "Compact" Magazins lässt sich auf dem AfD Parteitag in Magdeburg feiern. Er bekennt sich zu Putin und bezeichnet unseren Verteidigungsminister Pistorius als Kriegsverbrecher. Was ist Putin in seinen Augen? Ein lupenreiner Demokrat der sein Land nur eisern gegen Feinde verteidigen muss. Wie verdreht ist das denn??

    Die AfD würde Deutschland ohne mit der Wimper zu zucken an Russland verkaufen, und die AfD Anhänger klatschen noch Beifall. Völlig irre, finde ich zumindest.

    Dieser ganze Ruck Richtung rechtsextrem der durch so viele Länder geht ist wirklich erschreckend. Und ich finde ihn auch unerklärlich, das hat auch nichts mit den Themen zu tun, die Tom vorhin angesprochen hat, es ist keine Klientelpolitik, es ist für mich einfach nur irrational. Mir ist bewusst, dass ein Teil der Menschen irrational wählt, aber ich schätze diesen Anteil eigentlich auf 10 maximal 15 Prozent. Es ist wirklich irre...


    Mal als Gegengewicht: Damals hier mit der Bürgerinitiative da habe ich Lokalpolitiker aus den verschiedensten Parteien kennengelernt. Es gab, wie soll's anders sein, die unterschiedlichsten. Zum Teil tatsächlich Klientelpolitiker, zum Teil welche, die vor allem die eigene Karriere im Blick haben, oder welche, die einfach nur ein bisschen wichtig sein wollen. Aber ich habe auch sehr integre Menschen kennengelernt, die ihr Ideal in der Vertretung der Gesellschaft sehen, versuchen die verschiedenen Interessen aufzugreifen, die Umsetzung im Blick haben und tatsächlich nach guten Lösungen suchen und diese dann auch gegen Widerstände durchsetzen. Es hat mich sehr gefreut, dass diejenige, die ich in all den Jahren als die engagierteste und kompetenteste erlebt habe, tatsächlich dann irgendwann von der Lokalpolitik in den Bundestag gewechselt ist.

    Ein sehr kluger, durchdachter und zutreffender Post.
    Was fehlt, ist ein Lösungsvorschlag. ;)

    Ich glaube ja, es wird bei der Diskussion häufig der Fehler gemacht eine autoarme Innenstadt mit einer autolosen zu verwechseln.

    Tom's Post beleuchtet die richtigen Punkte, es fehlt eben tatsächlich der Lösungsvorschlag.

    Es ist ja tatsächlich so:

    - ÖPNV macht nur Sinn, wenn er gut besetzt ist. ZB die Doppelgelenkbusse, die bei uns eingesetzt wurden, verbrauchen 75l auf 100km. Die mit geringer Besetzung fahren zu lassen ist unsinnig, da ist ein PKW besetzt mit 'ner 5-köpfigen Familie immer besser

    - Deswegen macht es auch keinen Sinn den PKW-Verkehr komplett aus der Innenstadt zu verdrängen, es gilt Alternativen zu schaffen

    - Natürlich ist Fahrrad die beste davon, aber natürlich längst nicht für jeden die Richtige. Aber da sie die beste ist, ist sie förderungswürdig


    Alles andere ergibt sich daraus.


    Edit: Die Diskussion ist aus meiner Sicht viel zu häufig von Ängsten geprägt und viel zu selten von Zielen.

    Trotz Spaß beiseite:
    Es ist keine persönliche Erfahrung, sondern es sind 2 benachbarte Städte. In der einen stirbt der Einzelhandel, in der anderen nicht.
    Es sind hingegen persönliche Erfahrungen, wenn Leserbriefe darüber berichten, dass sie lieber in die Stadt mit der 'PKW-Entwaldung' zum Einkaufen fahren, als in die, in der das nicht der Fall ist. Und das unreflektiert als Argument gegen 'PKW-Entwaldung' anführen. Wenn sie sich häufen, sind es wiederum persönliche Erfahrungen, die man ggfls. als Erklärungsversuch heranziehen kann.

    Und es gibt hier bei uns auch keine Kontroverse darüber, dass es eben ein bequemes und schönes Erlebnis ist, in die dortige autoarme Innenstadt zu fahren und dort einkaufen zu gehen.

    Die Kontroverse entsteht ja nicht beim 'bequem', sondern beim Weg dahin.
    Es ist eine Behauptung, dass eine autoarme Innenstadt nicht mehr bequem erreichbar ist.
    Es gibt längst viele viele Beispiele guter Umsetzungen, wo das nicht so ist. Auch für den Individualverkehr.

    Und zugegebenermaßen auch viele, wo es schlecht umgesetzt wird. Typischerweise wegen kurzsichtiger Partikularinteressen.

    Das ist eine sehr, sehr komplexe Thematik, der leider allzu häufig mit extrem einseitigen Konzepten begegnet wird. Fahrradverkehr und ÖPNV sind fraglos für die Umwelt sehr gut, aber schlecht für schnelle Wege und mieses Wetter und hohes Alter und angeschlagene Gesundheit usw. (ja, klar, da gibt es tonnenweise Gegenbeispiele, die aber statistisch nicht relevant sind). Die PKW-Entwaldung der Innenstädte hat m.E. mit dafür gesorgt, dass der Einzelhandel den Bach runtergeht, aber natürlich nicht nur (der Einzelhandel hat da selbst auch rege zu beigetragen). Doch es ist einfach sehr viel anstrengender, mit ÖPNV und Fahrrad zu shoppen, möglicherweise auch noch mit Kids im Schlepptau usw. usf., da beißt der Hund der Maus keinen Faden ab oder wie das heißt: Die meisten Menschen setzen ihre eigene Bequemlichkeit als den am höchsten priorisierten Aspekt fest, das gilt für fast alles (sogar das Verhältnis zu Putin). ÖPNV auf dem Land ist ein noch einmal komplexeres Thema, denn da kippt irgendwann die Ökobilanz ganz mächtig, wenn man ihn komfortabel anbieten will, also nicht möchte, dass Hinterpupsingen nur einmal pro Woche mit dem Bus angefahren wird, und das auch nur in ungeraden Wochen ohne christliche Feiertage. Und es ist auch schwierig, eine Nation zu sein, deren Wirtschaft zu einem Gutteil davon abhängig ist, Autos zu bauen, während man zugleich den Individualverkehr stark zurückdrängen will. Eine Wirtschaft, die den ÖPNV mitfinanzieren muss und soll.


    Aber wenn man etwas ideologisch angeht, neigt man dazu, das Differenzieren aufzugeben. Das gilt für alle "Seiten", und da wir zudem im Zeitalter der Partikularinteressen leben, kommt noch dazu, dass jeder und jede meint, man müsse es ihm oder ihr recht machen, weil es genau darauf einen Anspruch gibt. Das macht es zum sensiblen Aufregerthema, weshalb die Diskurse von ad-hominem-Angriffen und Tiefschlägen und krassen Feindbildern beherrscht sind. Und eben vom "Ich will!".

    Wenn es um Verkehr in der Stadt geht, gibt es bei vielen genau diese beiden Positionen:
    - Es fährt zu viel Verkehr durch meine Straße
    - Ich möchte jederzeit überall mit jedem Verkehrsmittel sofort hinkommen

    Edit:
    Eine 'PKW-Entwaldung' der Innenstädte hat bei uns nicht stattgefunden. Ein Sterben des Einzelhandels sehr wohl. Das lässt sich bei uns sehr genau festlegen, es begann mit dem Bau eines großen Einkaufszentrums in der Innenstadt, einem Plan, der Jahrzehnte in der Schublade verbracht hat und leider wieder herausgezogen wurde. Das hat bei uns was den Einzelhandel angeht, tatsächlich die Innenstadt ziemlich entwaldet...

    Die niederländische Grenzstadt in der die 'PKW-Entwaldung' tatsächlich stattgefunden hat hingegen, die brummt. Da steht nix leer.

    Und wurde davon schon etwas oder alles (fett markierter Text) umgesetzt und falls ja, funktioniert das dann so wie theoretisch angedacht?

    In der niederländischen Grenzstadt ist das komplett umgesetzt, deswegen fahren ja alle so gerne da hin. Mit dem Auto.
    Die haben sich u.a. 2016 einen 2,3km langen, doppelstöckigen Tunnel gegönnt, mit der eine Autobahn unter der Stadt durchgeführt wird und der lokale Autoverkehr in die Innenstadt gebracht wird. Radinfrastruktur war dort ja nicht das Problem, die wurde da schon immer eingeplant und gebaut. Straßenbahn ist dort hingegen nicht notwendig, denn die Stadt ist kleiner (125.000 Einwohner) und Fahrrad fahren hat dort einen ganz anderen Stellenwert und entlastet entsprechend die anderen Verkehrsangebote viel stärker.

    In unserer Stadt werde ich nicht mehr miterleben, dass irgendwas in der Art umgesetzt wird...