Treffen eine Folksängerin, ein Bluesrock-Bassist, ein Jazzschlagzeuger und ein Psychedelic-Rock-Guitarhero in einer Bar auf einen schwulen Manager.
So in etwa ist die Ausgangslage bei Utopia Avenue, dem 8. Roman von David Mitchell. Es ist der unglaublich virtuosen Erzählkunst von David Mitchell zu verdanken, dass Utopia Avenue trotz dieser kruden Ausgangslage so authentisch wirkt.
Sören und Tom haben bereits einiges über den Inhalt dieses sehr lesenswerten Romans geschrieben, ich möchte ein paar Themen, die mir besonders gefallen haben, beleuchten.
Zunächst das Thema, dass mir durch den Romantitel in den Mittelpunkt gestellt zu sein scheint:
Die große Spannbreite der Bandmitglieder ist natürlich von Mitchell bewusst so gewählt, er schiebt die Bandmitglieder möglichst weit auseinander, sie kommen aus vollkommen verschiedenen Lebensrealitäten, von Arbeiterschicht mit alkoholkrankem, gewalttätigen Vater bis zum adligen Bastard.
Ein Interview mit David Mitchell scheint mir seine Motivation dazu zu verdeutlichen:
Auf die Frage
Has it ever proven to be daunting to write about different cultures or geographies?
antwortet Mitchell
It was easier when I started off in the ‘90s. The old Creative Writing Workshop advice — write what you know — has, in more recent years, become a kind of a commandment. I don’t want to just write novels about middle-class, middle-aged English guys with university degrees. I’m too hungry to try to see the world through other people’s eyes, maybe with slightly differently coloured skins.
That’s where the excitement is for me. I think it’s just really important that we do try. Republicans should try to think like Democrats, Democrats should try to think like how Trump voters think. And, maybe in a multi-cultural society like India, it’s that or it’s civic distress. In the UK, in Ireland, and everywhere else, it’s the same story.
I would love a world where it is a civic responsibility to try to think like other people in your society. That is a little glimpse of utopia.
Erzählt wird hier nicht die übliche Bandgeschichte, also nicht über einen Haufen Konflikte, die irgendwann in 'Auflösung wegen musikalischer Differenzen' enden. Schon sehr früh wird durch einen pragmatischen Ansatz der Konkurrenzgedanke innerhalb der Band geklärt und nicht trotz, sondern auch dank der unterschiedlichen Ausrichtungen, wird Utopia Avenue zu einer Song-Verbesserungsmaschine.
Oder wie Elf es sagt: "Eine Band ist eine Band, weil sie mehr ist als die Summe ihrer Mitglieder. Warum würde man sonst in einer spielen?"
Die Band hat zunächst den Arbeitsnamen 'The way out' bis Jasper 'Utopia Avenue' vorschlägt. Er sieht es, als ein Paradox aus etwas Alltäglichem, der Straße und etwas, was nicht existiert, der Utopie.
Hier haben wir sie vor uns - diese Utopie - lebendig geworden in Form einer Band, die eben mehr ist als die Summe ihrer Mitglieder.
Mitchell erzählt uns diesen Weg zur utopischen (Kleinst-)Gesellschaft so reizvoll und authentisch überzeugend, dass man nur zu gerne Teil davon wäre. (Gelungen in diesem Zusammenhang auch das kurze Aufeinandertreffen von Pavel und Mekka relativ am Anfang dieses Romans).
Dann das Thema Autismus, das wunderbar in Form von Jasper im Roman in Szene gesetzt wird, ohne das es jemals im Roman benannt wird.
In Jasper spiegelt sich die Geschichte des Autismus wider. Zu Zeiten Jaspers Kindheit steckte die Autismusforschung in den Kinderschuhen, Autismus wurde für eine kindliche Variante der Schizophrenie gehalten.
Die 'Behandlung' erfolgte häufig auf grausame Weise, Einsperren, Fixieren, Elektroschocks, Drogen usw. Jaspers Angst aufzufallen, ist also sehr berechtigt.
Mitchell liebt es seine Bücher so zu erzählen, dass sie - obwohl sie sich überhaupt nicht ähneln, zu verschiedensten Zeiten spielen und er die Genres ständig wechselt - einander Aufgreifen in Bezug auf wiederkehrenden Personen, Themen und einer übergeordneten Geschichte, die sich aus allen Büchern gemeinsam ergibt.
Es ist eine fraktale Art zu erzählen, die ich so von keinem anderen Autor kenne. Er versucht dabei so zu erzählen, dass je nachdem, welches seiner Bücher man bereits kennt, man ein Buch unterschiedlich versteht.
Für jemanden, der 'Die tausend Herbste des Jacob de Zoet' gelesen hat, ist vielleicht erkennbar, dass Jasper keine schizophrenen Episoden hat, sondern etwas anderes dahintersteckt.
Für jemanden, der 'Knochenuhren' gelesen hat, ist glasklar, dass keine Schizophrenie vorliegt.
Jasper selbst sagt:
"Das Hirn konstruiert ein Modell der Realität. Wenn dein Modell sich in etwa mit den Modellen der anderen deckt, bekommst Du das Etikett 'gesund'. Wenn es abweicht, heftet man dir das Etikett 'Genie', 'Sonderling', 'Prophet', oder 'Spinner' an. Im Extremfall wirst Du als schizophren abgestempelt und weggeschlossen."
Mitchell zeigt in Jaspers Perspektive u.a. die Schwierigkeit Gesichter lesen zu können. In Deans Perspektive ist es umgekehrt, vieles wird über Gesichter gelesen und beim Lesen ist mir aufgefallen, wie komplex die Emotionen sind, die man von Gesichtern ablesen kann. Oder eben auch nicht
Dann das Wesen der Zeit und ihre Vergänglichkeit, das mir immer eine besondere Aufmerksamkeit bei Mitchell zu genießen scheint.
Es ist da naheliegend einen Roman über Musik zu schreiben, einer Kunstform die die Zeit in kleine Abschnitte teilt und festlegt, was in diesen zu hören ist. Zeitlich einsortierte Klänge, die Emotionen hervorrufen. Kompositionen, die Jahrhunderte überdauern können, lebendig bleiben.
In der Mitte dieses Buches wird z.B. das Sommerfest bei den Hersheys erzählt, es wirkt sehr lebendig, es ist als wäre man dabei, es ist im Präsens erzählt, gleichzeitig ist es ein Fest der Toten.
Eingeleitet wird es folgendermaßen:
"Später, als Grootvader Wims Wagen Formaggio in eine strahlende Zukunft entführte, wurde Jasper blitzartig klar, dass der Tod eine Tür ist, und er fragte sich: Was macht man mit einer Tür.
Die Tür öffnet sich in eine Halle, erfüllt von Lachen, Partygeplänkel und den laut gedrehten Klängen von Getz / Gilberto..."
Crispin Hershey - der kleine Sohn der Hersheys - bekannt als Protagonist eines der Teile von Knochenuhren, geht auf dieser Party herum und 'erschießt' spielerisch die Gäste "Peng, peng, du bist tot." Aus unserer heutigen Sicht, sind sie bereits alle längst tot.
Das Wesen der Zeit wird an vielen Stellen hier betrachtet: Berauschend durch Musik, oder quälend langsam, oder ihre Endlichkeit so schmerzhaft, dass man sie nur schlafend verbringen möchte usw.
Der Schlagzeuger Griff Griffin scheint mir dabei die Verkörperung der Zeit zu sein. Musikalisch ist das ohnehin naheliegend. Er verkörpert sie aber auch sehr überzeugend: Ohne die Zeit geht nichts, aber sie ist gleichzeitig eine Selbstverständlichkeit, wirkt anspruchslos, ist immer da. Bis etwas endet.
(Er zählt übrigens passend dazu - aber ganz untypisch für eine echte Band - nie ein Stück an. Das machen immer Dean, Elf oder Jasper.)
Bei den bisherigen Büchern von Mitchell hatte ich immer gemischte Gefühle beim Lesen. Er hat ein unglaubliches Erzähltalent, aber streckenweise hat er mich immer verloren. Alle seine Bücher waren ein Erlebnis, aber dieses Buch ist das erste von ihm, dass ich bis zur letzten Seite geliebt habe und das ich gerne noch weitergelesen hätte.