Shopping Queen
von Annabas
„Vielen Dank, dass Sie das Paket für mich angenommen haben!“
„Kein Problem.“
Herr Claussen lächelte freundlich.
„Es ist ziemlich schwer. Soll ich es Ihnen wirklich nicht in den Hausflur tragen?“
Da war es wieder, das nett gemeinte Angebot, vor dem sich Sonja so fürchtete. Das Blut stieg ihr in die Wangen, während sie hastig die Wohnungstür aufschloss und darauf achtete, dass ihr Nachbar keinen zufälligen Blick in den Flur werfen konnte. Innen war alles dunkel, das war gut so.
„Nicht nötig, ich kann das selbst machen. Geben Sie nur her.“
„Na, wenn Sie meinen. Schönen Abend noch.“
Herr Claussen drückte Sonja das Paket in die Hand. Es war tatsächlich sehr schwer und dazu noch unhandlich, aber Sonja schaffte es, sich damit durch die spaltbreit geöffnete Tür in ihre Wohnung zu quetschen. Mit dem Fuß kickte sie die Tür hinter sich zu und stellte das Paket auf die gestapelten Kartons, die inzwischen eine ganze Seite des Flurs einnahmen.
Was hatte sie da wieder bestellt? Und wovon würde sie es bezahlen? Darüber wollte Sonja jetzt nicht nachdenken. Sie ging ins Wohnzimmer und goss sich ein Glas Rotwein ein, das sie in einem Zug austrank. Im Wohnzimmer fühlte sie sich sicher, hier schlief sie auf dem Sofa, seit sie auch noch im Schlafzimmer auf dem Bett ihre bestellte Ware lagern musste. Dort, wo normale Menschen schliefen, stapelten sich kreuz und quer Blumentöpfe, ein Staubsauger, ein Fitnessgerät, Drogerieartikel, in Einzelteilen verschickte Balkonmöbel, Kunststoffblumen und andere Dinge.
Sonja wusste selbst nicht mehr so genau, was alles in den Kartons lag. Nur ein schmaler Weg zum Kleiderschrank war noch frei und Sonja achtete peinlich genau darauf, dass er frei blieb. Niemand sollte sehen, wie es um sie stand, vor allem die tratschenden Kollegen nicht, deshalb hielt Sonja ihre Garderobe immer bestens in Schuss. Die Arbeit war das Einzige, das Sonjas Leben noch etwas Struktur gab, alles andere war im Chaos versunken.
Wann hatte sie zum ersten Mal dieses Glücksgefühl empfunden, das nach einem „Jetzt kaufen“-Klick in ihr hochstieg? Es musste schon länger her sein, denn das Glücksgefühl blieb immer öfter aus, wenn Sonja auf Schnäppchenjagd ging. Heute schämte sie sich entsetzlich, wenn sie sich in ihrer Wohnung umsah: Kartons auf dem Bett, Kartons auf dem Tisch, Kartons auf dem Boden, ungeöffnet, leer oder nur halb ausgepackt. Ihren Kontostand hatte sie schon seit drei Monaten nicht mehr angeschaut.
Der Wein hatte Sonja beruhigt. Sie holte das Smartphone aus der Tasche, um ihre Mails zu lesen. Eine Firma für Haushaltswaren hatte ihr ein Angebot geschickt: „Ein zehnteiliges Topf- und Pfannenset für nur 99,99 Euro!“ Sonja gefiel es und sie kaufte es. Der Rotwein war auch fast alle. Der war dauerhaft auf ihrem Merkzettel beim Weinhändler gespeichert – ein Klick und bald würden zwei Kisten vor ihrer Tür stehen.
Voller Vorfreude auf die Pakete zog Sonja den Rollladen am Fenster hoch und ließ die Abendsonne ins Zimmer scheinen. Sie hatte sich angewöhnt, immer die Läden geschlossen zu halten, damit niemand aus der Nachbarschaft in ihre Wohnung hereinschauen konnte. Das hier herrschende Chaos sollte keiner zu Gesicht bekommen.
Vor sich hin summend ging Sonja in den Flur, um das vorhin gelieferte Paket zu öffnen. Darin fand sie ein zehnteiliges Topf- und Pfannenset. Jetzt erinnerte sie sich, dass in der vorherigen Woche schon einmal ein Angebotsmail dazu gekommen war. Ihre gute Laune war von einer Sekunde auf die andere verpufft und Sonja fühlte die altbekannte Scham. Wie blöd, hirnlos und unfähig musste sie sein, wenn sie nicht einmal an die Bestellungen der letzten Tage erinnern konnte?
Sonja ließ alles stehen und rollte sich auf ihrem Sofa zusammen. Ob sie vielleicht doch Hilfe brauchte? Sie würde morgen darüber nachdenken. Oder besser übermorgen, nachdem der Wein geliefert worden war.