Beiträge von SchreibwettbewerbOrg

    Wunderbare Jahre

    von Inkslinger


    Tjana schnaubt frustriert. „Ich werde kirre!“

    Sischa schaut von seiner Zeitung auf und mustert sie lange. „Was soll ich dazu sagen, Schatz? Glückwunsch?“

    Tjana stöhnt. „Echt lustig. Guck dir mal diesen Schlamassel an!“

    Sie deutet auf den Haufen Fotos, der vor ihr auf dem Küchentisch liegt. „Ich finde einfach kein schönes Familienfoto für Oma. Sie hat schon 9 ½ Mal deswegen angerufen.“

    „9 ½ Mal?“

    „Genau. Neun Mal hat sie zugegeben, sich aus diesem Grund zu melden. Einmal hat sie ihr krankes Haustier vorgeschoben. Aber ich weiß es besser!“

    „Oh nein, was ist denn mit Fido?“

    „Nichts! Das ist es ja gerade! Fido geht es gut. Er hatte sich nur an einem Menschenkind verschluckt und ein bisschen gehustet. Oma dramatisiert immer alles.“

    „Hat sie denn auch darauf geachtet, dass der Mensch sauber war? Die sind voller Bakterien. Das kann gefährlich für Raptoren werden. Ein kleiner Virus, und sie gehen ein.“

    Tjana straft ihren Mann mit einem vernichtenden Blick. „Fido. Geht. Es. Gut. Kannst du dich vielleicht mal für mein Problem interessieren, bitte?“

    Sischa faltet die Zeitung zusammen. „Natürlich, Schatz. Tut mir leid.“


    Tjana nickt zufrieden und atmet tief durch. „Das hier ist eine Katastrophe. Es gibt nur ganz wenige Fotos, auf denen wir alle drei drauf sind.“

    Sie zieht ein paar Bilder aus dem Haufen und schiebt sie ihrem Mann rüber, der sie geflissentlich begutachtet. „Dieses hier sieht doch ganz gut aus.“

    Tjana schaut auf und schüttelt energisch den Kopf. „Nein! Auf dem hast du nur drei Augen auf, das sieht total scheel aus!“

    Sischa hebt noch eins hoch. „Und was ist falsch an dem?“

    „Dein Tentakelbart. Wie ein Ursus ums Gemächt. Der geht gar nicht.“

    Er ging zum nächsten über. „Das hier finde ich aber wirklich gut.“

    Tjana lächelt. „Ja, das ist schön. Aber das können wir auch nicht nehmen.“

    „Aber wieso denn, um Zorks Willen?“

    Seine Frau nimmt ihm das Foto aus der Hand und hält es neben das Gesicht ihres Sohns, der rechts von ihr am Tisch sitzt und lustlos Futter in sich rein schaufelt. „Na, guck doch mal richtig hin.“


    Sischa gehorcht. Stück für Stück vergleicht er die Züge seines Sprosses mit dem auf dem Bild.

    Der abgebildete Junge strahlt mit seinen blauen Zähnen munter in die Kamera. Jedes seiner sieben Augen ist offen und aufgeweckt. Die Hufe stehen brav zusammen und die Schaufeln sind zu einem freundlichen Hallo erhoben.

    Der Junge am Tisch scheint - trotz offensichtlicher Ähnlichkeiten – das komplette Gegenteil zu sein. Ungewaschene Tentakeln hängen schlaff vom Kinn herab und hindern Essensreste daran, zurück in die Schüssel zufallen. Violette Pusteln prangen zwischen seinen Augen, von denen es nur eins mühsam offen halten kann. Die Zähne, die träge die Nahrung zerkleinern, sind unnatürlich weiß, als hätten sie alle Farbe verloren.

    „Oh mein Zork. Du hast recht. Somon sieht sich gar nicht mehr ähnlich. Wie alt ist denn das Foto?“

    „Zehn Erdumrundungen.“

    Sischa ist fassungslos. „Das kann doch nicht... Wieso...“

    Tjana nimmt seine Schaufel in ihre. „Pubertät, mein Schatz. Pubertät.“

    Vorbei, aber nicht vergessen

    von Marlowe


    Ist es falsch, in der Vergangenheit zu schwelgen? Vorbei ist vorbei, schau nicht zurück, sieh nach vorne. Für eine lange Zeit mochte es stimmen alle Kraft nach vorne auszurichten. Aber die Zukunft ist schneller als das Verstehen, das Verdauen der Vergangenheit, das Bedauern verpasster Gelegenheiten oder die Gewissheit, eine gute Entscheidung getroffen zu haben. Wir stolpern in das Kommende, wir straucheln, wir gehen aufrecht, wir schlendern. Nur um dann plötzlich los zu rennen. Erster sein, immer bereit nichts zu verpassen, zu genießen, das Leben mit beiden Händen zu packen und dabei zu merken, diese Fülle ist nicht zu fassen, dazu bräuchte es viele Arme und Hände.


    Das eigene Leben verläuft linear mit vielen Wendungen wegen hunderter Abzweigungen, die rufen hier lang und es klingt verlockend, sie wollen verführen diesen und nicht jenen Weg zu gehen. Entscheidungen sind getroffen, nicht mehr rückgängig zu machen, schau bloß nicht zurück, die nächste Minute kann entscheidend sein.


    Die nächste Minute ist immer entscheidend für den Rest, der noch kommt. Doch irgendwann wird aus dem Lebenslauf ein ruhiges Sein, ein Schlendern in das Kommende mit der Zeit für das Erinnern.


    Er dachte oft zurück. Wäre er in Gesellschaft gewesen, meistens hätte diese ihn dabei lächeln sehen. Aber es sah ihn ja niemand. Reisen in das Gewesene genießt man am intensivsten im Alleinsein.


    Sie tauchten alle immer wieder auf. Menschen, mit denen er den Weg eine Weile gemeinsam gegangen war. Orte, an denen er gerne gewesen war, die er deshalb mehr als einmal besucht hatte, um sie mehrfach zu genießen.


    Konzerte, bekifft und angetrunken glückselig, die er lange Zeit vergessen hatte. Doch plötzlich tauchten sie auf, zuerst nur die Bilder, dann die Töne und zu guter Letzt sogar die vertrauten Gerüche. Gras, Bier, Pommes, billiges Parfum, teures Parfum, Schweiß, alles vermischt und wieder so vertraut als wäre er gerade dort.

    Partys und Treffen mit Leuten, die er meistens nicht leiden konnte, aber die nützlich waren oder sein konnten. Sie benutzten ihn, er benutzte sie, es war ein Spiel, ein nie endendes Schauspiel menschlicher Falschheit und Schauspielerei. Auch hier tauchten sie auf. Geräusche und Gerüche. Das Klirren der Gläser, das Gemurmel von Stimmen, das Klappern der Bestecke, schrilles Kichern oder tiefes Lachen, Schweinebratenduft und Zigarettenrauch.


    Frauen als Partnerinnen, Freundinnen, Wegbegleiterinnen, Helferinnen, Feindinnen.

    Das Lachen jeder Einzelnen, das Flüstern, die Bedeutsamkeit der Blicke, der Duft ihrer Haare, der Geschmack ihrer Haut. Aber auch der hasserfüllte Ton, das Scheppern von Geschirr, wuterfüllte Augen und betrunkener Zungenschlag.


    Doch er lächelte, gerade jetzt musste er daran denken, wie es damals anfing, als er die Frau seines Lebens kennenlernte. Auch das war vorbei, aber wie alles andere niemals vergessen. Die Augen geschlossen tauchte er hinab in diese Zeit. Nur in der Erinnerung zählt Glück doppelt und dreifach.