Der Wanderer
von polli
„He, Sie da! Was machen Sie in meinem Vorgarten?“
Der Mann zuckte zusammen und zog seine Hand etwas zu schnell aus dem Rosenstrauch. Die Dornen hinterließen zwei lange Schrammen.
„Ich, äh, suche meinen Würfel.“
„In meinen Rosen? Im Ernst?“
„Er ist von der Mauer gefallen. Wenn ich ihn gefunden habe, bin ich gleich wieder weg, entschuldigen Sie bitte.“
„Erklären Sie mir erst, wie Ihr Würfel in meinen Vorgarten gekommen ist. Falls Ihre Geschichte überhaupt stimmt.“
Er betrachtete seinen Handrücken und verzog das Gesicht.
„Haben Sie eventuell ein Pflaster für mich? Danach erzähle ich Ihnen alles.“
Ella dachte nach. Zumindest brachte dieser Mann in tadelloser Wanderkleidung etwas Abwechslung in ihren Sonntagmorgen. Ein Räuber oder ein Irrer schien er nicht zu sein. Kurz entschlossen bat sie ihn ins Haus.
„Danke fürs Verarzten“, sagte er eine Weile später. „Ich gehe dann mal wieder. Wenn ich bitte noch meinen Würfel suchen dürfte ...“
„Halt, erst möchte ich Ihre Geschichte hören, das haben Sie versprochen!“
„Stimmt. Also, Sie müssen wissen, dass ich, seit ich allein lebe, ein ziemlich langweiliges Leben führe. Werktags Büro, abends Couch, Fernsehen, ein bisschen Internet. An den Wochenenden bemühe ich mich, etwas Bewegung in meinen Alltag zu bringen. Manchmal fahre ich mit dem Rad, manchmal mache ich eine kleine Wanderung. Nichts Besonderes.“
Er machte eine Pause. Ella nickte.
„Kenne ich. Job, Feierabend, Haushalt, meine Rosen, das ist wohl ähnlich wie bei Ihnen“, sagte sie. „Kaffee?“
„Gerne. Ach so, die Geschichte. Heute früh hatte ich einen herben Anflug von Sinnlosigkeit. Radtour oder schon wieder eine Wanderung, runter zum Fluss oder zum tausendsten Mal Richtung Wald. Vor lauter Grübeln habe ich mir irgendwann einen Ruck gegeben und beschlossen, dass ich etwas anders machen muss als sonst. Wenn ich mich nicht entscheiden kann, muss die Entscheidung auf anderem Wege fallen. Also habe ich einen Würfel genommen. Ungerade: Radtour. Gerade Zahl: Wanderung. Zur Haustür raus und nach links: Ungerade. Nach rechts: Gerade. Und immer so weiter. Ich hatte die Hoffnung, dass durch dieses Spiel ein wenig Abwechslung in meinen Alltag kommt. Verstehen Sie?“
„Oh ja, nur zu gut. Aber wie sind Sie dann in meinen Rosensträuchern gelandet?“
„Seit heute Morgen bin ich schon mehrmals im Kreis gegangen. Ziemlich öde, die Sache. Vorhin hatte ich einfach keine Lust mehr. Ich habe auf Ihrer Gartenmauer den Würfel entscheiden lassen, ob ich meine Wanderung abbreche. Ungerade. Weitermachen: Gerade. Und dann ist er auf die falsche Seite gekullert. In Ihren Vorgarten. Den Rest kennen Sie. Ich wollte kein Eindringling sein, entschuldigen Sie bitte!“
Ella nickte. Das klang logisch. Sie hielt einen Moment inne, dann öffnete sie die Kramschublade unter dem Esstisch und holte einen Würfel heraus.
„Hier, nehmen Sie diesen. Ich brauche ihn nicht mehr, die Kinder sind längst aus dem Haus. Obwohl – einmal würde ich gern Ihr Spiel ausprobieren. Darf ich?“
Sie notierte ein paar Worte auf einem Zettel und schrieb noch etwas auf die Rückseite, faltete ihn zusammen und würfelte. Eine Vier.
„Gerade!“
Sie lächelte.
„Auf die Gefahr, dass ich Ihnen zu neugierig erscheine: Was bedeutet denn eine gerade Zahl?“
„Auf die Gefahr, dass ich Ihnen zu abenteuerlustig erscheine: Sie bedeutet, dass ich jetzt ein paar Sachen zusammenpacke, meine Jacke anziehe und mit Ihnen wandere.“
Nachwort für diejenigen, die wissen möchten, was auf dem Zettel stand:
Gerade: Mutig sein und mitwandern!
Ungerade: Bitte wenden!