Ein Menschenleben
von Inkslinger
Manchmal kotzt es mich echt an, ein Mensch zu sein.
Besonders, wenn ich wie heute nach einem langen Tag im Büro im Stau stehe. 74 Minuten und kein Ende in Sicht.
Das Meer fehlt mir. Dort hatte ich immer freie Bahn, egal, in welche Himmelsrichtung ich unterwegs war. Ich konnte mir die Sonne auf den Pelz scheinen und mich einfach treiben lassen.
Bei den Menschen ist alles anstrengend. Laufen, Arbeiten, Autofahren. Sogar aus dem Essen machen sie ein Riesenthema. Früher habe ich das gegessen, was mir vor die Nase geschwommen ist. Direkt, ohne über Zubereitung nachzudenken. Um heute ohne Aufsehen rohen Fisch zu verspeisen, muss ich erst ein passendes Sushi-Restaurant finden. Und ein Label habe ich auch aufgedrückt bekommen: Pescetarier. Seltsames Völkchen.
Die Blechlawine rollt mühsam voran. 147 Minuten für 40 Kilometer. Egal. Hauptsache, zu Hause. Schnell den Tag abwaschen und die Forelle verputzen. Dank Netflix ist mein Meerweh bald vergessen.
Ein paar Stunden später wache ich auf. Nacken und Chipskrümel knacken um die Wette, als ich mich aufrichte und verpeilt auf die Uhr schaue. Mist, schon halb fünf. Zu früh zum Aufstehen, zum Bettgehen zu spät. Grummelnd stapfe in die Küche.
Gerade, als ich eine Kanne Tee aufsetze, höre ich ein leises, doch erschütterndes Geräusch.
Ich gehe ins Wohnzimmer und schalte den Fernseher aus. Da ist es wieder, ein Weinen. Diesmal noch verzweifelter. Ich laufe die Wohnung ab und lausche. Es scheint direkt von Mrs Brown nebenan zu kommen.
Mir wird das Herz schwer. Die arme Frau ist ganz alleine, seit ihr Mann vor acht Jahren gestorben ist.
Soll ich zu ihr rübergehen und nach ihr sehen? Aber kann ich um diese Uhrzeit einfach so bei Fremden klingeln?
Ich schnapp mir meine Schlüssel und flitze auf Zehenspitzen zu der Tür gegenüber. Um die anderen Hausbewohner nicht zu wecken, klopfe ich, anstatt zu klingeln. Wenn Mrs Brown wach ist und Gesellschaft möchte, wird sie mir öffnen. Doch sie antwortet nicht.
Mein zweiter Versuch läuft ebenfalls ins Leere. Also schleiche ich zurück in meine Wohnung und starte in den Tag.
Wie jeden Morgen nehme ich mir Zeit, meinen kostbarsten Besitz zu betrachten. Ich streiche über das silbergraue Fell und denke wehmütig an meine salzige Heimat. Trotzdem entscheide ich mich auch heute wieder dafür, ein Mensch zu sein. Das Meer bedeutet Freiheit und Freude – aber auch Einsamkeit. Die meisten meiner Art haben das Wasser längst verlassen. Nicht nur Menschen brauchen Gesellschaft, wir Selkies genauso.
Das Geräusch von letzter Nacht lässt mich nicht los, deswegen klingle ich nach der Arbeit als Erstes bei meiner Nachbarin, die mir freudig die Tür öffnet.
»Oh, hallo, Miss Carson. Was kann ich für Sie tun?«
»Das wollte ich Sie fragen. Geht es Ihnen gut?«
Sie zieht die Augenbrauen zusammen. »Wieso fragen Sie?«
»Ich habe Sie gestern Nacht weinen gehört und möchte Ihnen helfen.«
»Das ist lieb, mein Kind, doch das war ich nicht. Ich bin erst heute Vormittag aus Oxford zurückgekommen.«
»Oh, da bin ich erleichtert.«
Seltsam. Ich war mir so sicher. Aber wo kam das Weinen dann her?
In der Nacht wache ich wieder auf. Die gleiche Zeit, dasselbe Geräusch: herzzerreißendes Wimmern.
Ich schaue aus dem Fenster, und da sehe ich sie. Eine alte Frau mit langen grauen Haaren und einem weißen Kleid. Sie steht im Hof und starrt mich direkt an. Tränen laufen ihr über das runzlige Gesicht. Obwohl ihr Mund geschlossen ist, kann ich sie schluchzen hören.
Der Todesgesang der Banshee.
Ich muss meine Familie warnen.
Benommen gehe ich zum Schrank und ziehe mir mein Fell an.
Wir können ihr nicht entkommen, aber wir werden ein letztes Mal zusammen Meer sein.