Der Fluch
von Inkslinger
“Verdammt!”
Fluchend ziehe ich meine Hand zurück und stecke den Zeigefinger in den Mund. Der Geschmack von Metall und Frust legt sich auf meine Zunge.
Erschöpft sinke ich auf den Waldboden und starre die Tür vor mir böse an. Doch für Streitereien bleibt keine Zeit. Die Sonne versinkt schon hinter den Baumkronen. Bald wird es zu dunkel sein, um weiterzumachen.
Ich rapple mich auf und gehe wieder an die Arbeit.
Der Schließmechanismus der Rätselpforte besteht aus vier Reihen, die jeweils 36 Messingteile beinhalten. In jeder Reihe gibt es einen leeren Platz für ein Objekt, das vorher aus den Teilen zusammengesetzt werden muss. Unzählige Kombinationen habe ich in den letzten drei Monaten probiert. Doch es passiert nie etwas.
Auch heute habe ich kein Glück. Die Tür bleibt zu.
Plötzlich höre ich Schritte hinter mir. Ich drehe mich um.
Mark lächelt schief. “Hey, Meister. Bist du bereit für den Abflug?”
Ich seufze leise. “Nein. Aber ich werde mitkommen. Bevor du mich wieder in den Schwitzkasten nimmst.”
Er grinst. “Braver Henrik.”
Ich drehe mich noch ein letztes Mal zum Messingungetüm um und streiche sanft über die Puzzleteile, bevor ich meinem besten Freund zum Auto folge.
Auf dem Heimweg reden wir kein Wort. Mark hat es sich angewöhnt, mich abzuholen, nachdem ich mich mal nachts im Wald verirrt habe und beinahe mit einem Wildschwein aneinandergeraten bin. Er versteht nicht, was mich jeden Tag dort raus treibt. Und ich weiß nicht, wie ich es ihm erklären soll. Wie kann man etwas erklären, das man selber nicht versteht?
Ich weiß nur, dass ich das Rätsel knacken muss. Auch, wenn es mich meinen Verstand kostet.
Aber es ist so frustrierend! Nicht nur wegen der abertausenden Möglichkeiten, die die vier Teile zusammengebaut werden können. Es kommt mir so vor, als hätte ich diese Zeichen schon mal gesehen. Aber ich komme ums Verrecken nicht drauf, wo! Geschweige denn, wie es mir helfen könnte.
Zuhause falle ich sofort ins Bett. Natürlich träume ich wieder von ihr. Die wunderschöne Lichtgestalt, die mich verflucht hat.
Jede Nacht sehe und spüre ich sie. Ihre Blicke sind wie Stromstöße direkt in mein Herz. Ihre Stimme die Heilung all meiner Narben.
Sie nimmt meine Hand und führt mich durch das dichte Unterholz. Nur der Vollmond und das Leuchten ihrer Haut dienen uns als Lichtquelle. Trotzdem stolpern wir nicht, denn wir geben uns gegenseitig Halt. Nach einer Weile kommen wir an unserem Ziel an.
Die Tür schaut auf uns herab. Auch auf dieser Seite ist sie ein unüberwindbares Hindernis.
Ein wohliger Schauer rennt mir über den Rücken, als meine Traumfrau mich anspricht. “Liebster, wann kommst du zu mir? Ich warte schon eine Ewigkeit darauf, dich endlich in meinen Armen halten zu können.”
“Bald, das verspreche ich dir. Ich versuche es jeden Tag und werde nicht aufgeben. Egal, wie lang es noch dauert.”
Sie küsst mich, heiß und hungrig.
Bei Sonnenaufgang bin ich wieder im Wald. Und zuversichtlicher als jemals zuvor. Denn der Traum letzte Nacht hat mir die Lösung geliefert. Bei der Tür auf der anderen Seite, wo meine Liebste wartet, sind die vier Schlüsselobjekte schon zusammengesetzt und platziert gewesen. Wenn ich das bei meiner Tür reproduzieren kann, habe ich es geschafft!
Es kostet mich vier weitere Tage, aber dann ist es endlich so weit. Ich habe einen Rucksack dabei und einem irritierten Mark Lebewohl gesagt.
Ich setze die Teile ein und das Schloss öffnet sich knirschend.
Ich ziehe die Tür auf. Dahinter liegt ein Fluss mit einer kleinen Holzbrücke. Wo sie endet, kann ich nicht sehen, denn die andere Seite ist komplett in Nebel gehüllt.
Ich atme noch einmal tief durch und gehe los.