Original von Skeptiker
...ist natürlich aus dem Zusammenhang gerissen, aber ich wäre über ein Feedback dankbar smile
Von Wolken, Totengräbern und Nuttennattern - ein Bewerbungsgespräch
Ich ersticke an nebelartigen Kondensationsprodukten des Wasserdampfs. An Aerosol. An Wassertropfen, die am Himmel unbeirrt ihre Kreise ziehen und in der Atmosphäre schweben.
Tropfen sind die einzigen Konstanten in diesem Leben. Scheisswolken. Sie verkörpern etwas, das ich nicht leiden kann. Ich betätige die Klingel. Ein gnomhafter, tief zerfurchter Herr öffnet mir. Das flüchtige Gezucke seiner Oberlippe lässt den Anflug eines müden Lächelns vermuten.
«Guten Tag, Sie sind also der tüchtige Bursche, mit dem ich telefoniert habe. Ausgezeichnet», sagt er.
Während ich mich zögernd umsehe, verschwindet sein schwarzer Anzug im düsteren Karma seiner Seriösität. Ein Tarnumhang, denke ich himmelhochjauchzend.
Herr Chago wirkt wie ein stummer Statist, der ein einziges Mal durch das Bild huscht und eine Minute später ist es so, als wäre er nie dagewesen.
«Na, dann kommen Sie mal mit, junger Mann. Wir machen einen kleinen Rundgang.»
Zarte Federwölkchen wirken delinquent, wenn sie am babyblauen Horizont ungelenk vor sich hin stolpern. Sie türmen sich auf und fallen ineinander zusammen wie ein schlecht dekupiertes Kartenhaus.
«Ich würde Ihnen gerne vorschwärmen wie abwechslungs- und facettenreich sich die Arbeit eines Bestattungsunternehmers gestaltet.», seufzt Herr Chago. «Aber es ist der ewig währende Fließbandjob. Feststellung des Todes, zack. Leichenwaschung, zack. Ankleidung, zack. Einsargen, zack. Bestattung, bums aus. Ab unter die Erde.»
Er redet wie ein Wasserfall, denke ich. Und dennoch wirkt er wie ein Komparse. Wie ein Fremdkörper, dem die Toten hinterherzischen, als wollten sie sagen: «Verpiss dich, du Nebenrolle.»
Ich lasse meinen Blick über den Friedhof schweifen. Die Stille nimmt mich gefangen und das behagt mir.
Haufenschichtwolke, kleine Schäfchenwolke, hohe Schleierwolke – wie sie alle heißen! Man mag mich für verrückt halten, aber es schlägt sich niederschmetternd auf mein Temperament nieder, wenn ich meine Wohnung ohne Regenschirm verlasse.
«Es ist immer die selbe Seifenoper. Die Wiederholung einer Wiederholung einer Wiederholung.», sagt er.
«Beerdigt wird hier, aber gestorben wird zuhause. Um sich nicht pietätlos und unangemessen zu kleiden, ist ein schwarzer Anzug mit einer sehr schwarzen Krawatte, noch schwärzeren Strümpfen und dem schwärzesten Paar Schuhe, das sich auftreiben lässt, Pflicht. Auflockern können Sie diese Kombination durch ein unbeflecktes, frisch gebügeltes Hemd in strahlendem Weiß. Es sollte zum Anlass passen. Zudem versteht es sich von selbst, dass exotische, schrille und laszive Kleidung zur Zurschaustellung weiblicher Reize strikt untersagt ist. Warum, weiß nur der barmherzige Schöpfergott im Himmel. Die alte Schwuchtel.»
Wolken sind widerwärtige Geschöpfe, wabernde Dunstbetten, weißlackierte, säureartige, ätzende Gebilde, die mich erschaudern lassen und ihren penetranten Duft der Unabhängigkeit in meine Nüstern pumpen.
Sieh zu, dass du Land gewinnst, du Komparse!, zischt die listige Würgeschlange auf meiner Schulter. Ich bin der Leierkastenmann. Sie nimmt die Rolle des Affen ein. Ich nenne sie Rosario.
Ich habe mal in irgendeiner Zeitschrift gelesen, dass man sich seinen Wahnvorstellungen stellen und als Teil seiner Welt akzeptieren soll, da man sonst auch an der eigenen Wahrhaftigkeit zweifelt. Da stand: Damit man dieser Angst entgegenwirkt, muss man sich vergegenwärtigen, dass man ist. Und das vorzugsweise in Form von ICH EXISTIERE-Bekenntnissen, die einen wie Saugnäpfe auf der Erde halten. Die Idee ist angelehnt an einen soliden Pantheismus, Gottheiten in jeder Urinblase, in jedem Tannenzapfen, in jeder Glasfigur. Und auch ich existiere in jeder Urinblase, sagt der Verfasser des Artikels. ICH EXISTIERE, egal wie abstrus dieses Mittel der Selbstidentifikation auch erscheinen mag, wie weithergeholt der Vergleich. Über die Seriösität solcher Modern Psychology-Blätter mag man streiten, aber schaden kann es nicht. ICH EXISTIERE, ihr Pisser. Klingt doch gut? Oder, Rosario?
«Nach dem Trauergottesdienst kutschiert man den Sarg zur Grabstätte. Ich führe die Verwandten, Freunde und Bekannten dort hin und halte eine Predigt, die mit dem Vaterunser würdig zuende gebracht wird. Anschließend wird der Sarg mithilfe von Seilen vorsichtig ins Grab hinuntergelassen und dort in das dunkle, kalte Loch eingebettet, in dem die vermoderte Knochenhülle des Leichnams auf ewig ruht.»
ICH EXISTIERE in Rosarios toastbrotscheibenförmigem Schwanzansatz.
Das sanfte Schwarz seines Bestattungsunternehmeranzugs schwappt in meinen Augen oszillierend umher und glättet die Wogen.
Er spielt keine tragende Rolle. Er trägt nicht zum Handlungsverlauf bei. Hier auf seinem verregneten, alten Friedhof hat er seinen großen Cameo-Auftritt im Halbscheinwerferlicht. Klappe zu.
«Etwaige weiße Baumwollhandschuhe werden dem Toten hinterhergeschmissen, Rosen oder akkurat zusammengestellte Blumengestecke folgen. »
Kamera auf Position.
«Um die Trauergemeinde von ihrem tiefen Schmerz abzulenken, lässt man sie körperliche Arbeit verrichten. Mit gekonnten Spatenwürfen pfeffert man dem Toten die neben der Grabstätte aufgeschüttete Erde um die Ohren. Er ruhe in Frieden und so weiter.»
Und bitte!
Bla, bla, denke ich und werde vom Spotlight der Unwichtigkeit geblendet.
Die Leierkastenschlange auf meiner Schulter erzählt mir, dass das Schlangenmännchen nur zwei Tage braucht, um einen seiner wuchtigen Hemipenisse in die Kloake des Schlangenweibchen zu stecken.
Ich hasse sie: Durchscheinende, faserige Wolkenschleier. Ich hasse die von starken Höhenwinden stark geformten und zerzausten Cirruswölkchen.
Was für eine Nuttennatter, denke ich. Hat die denn überhaupt keine Würde? Als Frau und so.
Rosario pflichtet mir bei und zischt mir ins Ohr, dass manche Nuttennatterweibchen ihre ausgeschlabberte Kloake von mehreren Männchen gleichzeitig nattern lassen, alle jeweils mit mehreren Schwänzen bestückt. Gangbang, ih!
Paarungsknäuel nennt man das, sagt sie.
Schlampen!, denke ich.
Wenn ich die Wölkchen eine Milisekunde ansehe, sehe ich dem Tod frech ins Gesicht. Ohne die eng anliegenden Handschellen könnte ich den freien Himmel nicht ertragen!
Wenn sinflutähnliche Gewitter über die Erdoberfläche ziehen, klatscht der Regen hartnäckig auf die verlassenen Straßen.
ICH EXISTIERE in Rosarios gehäuteter Exuvie.
«Während die Gäste beim Leichenschmaus Trauer heucheln, sich den Bauch vollschlagen und pathetische Reden auf den Verblichenen halten, erledigt der Friedhofsgärtner den Rest. Wir kassieren, weil Menschen sterben.», sagt der stumme Darsteller.
«Das ist das Business. Wir geben Mitgefühl, rituelle Zeremonien und einen würdigen Abschied von Mutter Erde. Wir erhalten Bestattungsgrundgebühr, Aufbewahrungsgebühr, Grabnutzungsgebühr und so weiter. Das ist der Job.»
ICH EXISTIERE in Rosarios blinzender Zieharmonika-Bewegung. Mimikry. Die Wolken. Ich bin verwirrt.
In diesen Momenten, kurz vor dem Schauer, halte ich mein Schutzschild in die Höhe, den lotrecht aufgesetzten Stiel, an dem die indigofarbene Polyamidplane auf die Kiele gespannt ist.
«Feuerbestattungen werden auch immer gerne genommen.», schwärmt er.
«Die werden im Krematorium vorgenommen. Nüchtern betrachtet: Die Verbrennungsanlage, das Höllenfeuer, das die Knochen lieblich zermalmt. Die Asche wird in einer Urne beigesetzt und das war es dann.» Laiendarsteller!, zischen die Toten.
Und die lavaähnliche durchsichtige Kotze, die vom Himmel regnet, wird abgeschmettert.
Danke, Regenschirm. Danke, Alcuin von Tours.
Ich merke, wenn was in der Luft liegt. Ich bin der Haruspex einer vergessenen Generation.
Alle dürfen mal rein. Wenn sich das erstmal herumsprechen würde mit der Nuttennatter, stände sofort eine prüde Feministinnenmamba auf dem Plan, sagt Rosario.
Flittchen, denke ich. Mieses Flittchen.
Wer hat noch nicht, wer will noch mal? Kloakenbesichtigung, Gruppenführungen, Mengenrabatt.
Das Schlangenweibchen würde mit Gott und der Welt schlafen, wenn Gott nicht nur einen einzigen Penis hätte.
Beerdigt wird hier, aber gestorben wird zuhause.
«Die Leichenwaschung macht unheimlichen Spaß», sagt Chago. «Die toten Körper haben diesen ganz besonderen Farbton, den man sonst nur auf den virtuosen Gemälden großer Maler ausfindig machen kann. Ich träume davon kurz vor meinem Ableben ein ähnlich unsterbliches Bild auf meiner Staffelei zu pinseln. Ich sterbe, aber der Welt wird es erhalten bleiben.»
Gabunviper, Lanzenotter, albinotischer Tigerpython. Immer herein, werte Herren.
Ich hasse sie. Graue, dünne Altostratusschichten, die der Sonne lediglich ein milchiges Beige entlocken. Das ist dieser ganz besondere Farbton. Ich verachte sie.
Ja, sage ich alibihaft und zusammenhangslos mein erstes Wort zum Bestattungsunternehmer und verstumme wieder. Ein begeistertes Lodern flammt im Schatten seiner regenschirmartigen Augenhöhlen auf. Mein aktives Engagement scheint ihm wirklich zu imponieren. Rosario möchte von meiner Schulter aus die Drehorgel ankurbeln, aber sie hat keine Arme.
«Sie können gleich morgen anfangen», sagt Chago.
Hurensohn, denke ich.