Beiträge von Ben

    Die ersten 11 Kapitel von "Krieg und Frieden" hab ich auch gleich zweimal hintereinander gelesen, auch die Schlacht bei Hollabrunn und Schöngrabern, und fand es beim 2.Mal (auch wenn es natürlich dann die ausführlichere Version war) noch besser.


    So ungünstig, wie diese Schlacht für die Russen begonnen hatte, hat es mich erstaunt, bei Wikipedia zu lesen, dass auch die Franzosen gar nicht soo viel weniger Verluste hatten als die Russen:


    "Die 30.000 Franzosen trafen unter dem Kommando von Marschall Joachim Murat auf eine Nachhut von 8000 Russen und Österreichern unter dem Kommando von Pjotr Iwanowitsch Bagration. Zahlenmäßig überlegen, versuchten die Franzosen am 16. November um 16 Uhr, die Nachhut anzugreifen. Aber die Russen schossen mit der Artillerie den Ort Schöngrabern in Brand. Dadurch wurden die Franzosen nicht geschlagen, aber aufgehalten. Sie verloren dabei 2000 Mann, während die Russen 3000 Tote zu beklagen hatten.

    Durch diese Verzögerung konnten sich die anderen Truppen doch vereinigen. In der Folge kam es zur Schlacht bei Austerlitz im Dezember 1805."

    Die Absätze 5-8 hab ich jetzt auch mal mit Röhl verglichen.

    In Absatz 5 übersetzt er etwas anders, "Napoleon ist ein großer Geist", und wieder etwas ausführlicher, "nur durch dieses Verfahren hat er die Macht erlangt".

    In Absatz 6 finde ich ihn spannender: "entgegnete der Vicomte" zeigt den Konflikt deutlicher.

    Absatz 7 ist in Bezug auf Pierre negativer: "und bekundete durch diese unnötige Hinzufügung" (...) "seinen Eifer, alles möglichst schnell herauszureden".

    Absatz 8 ist wieder spannender: "Revolution und Königsmord eine große Tat . . .! Wenn jemand so redet . . .", sowie "... wiederholte Anna Pawlowna ihre Aufforderung".

    aber jetzt erkenne ich, wie ein Text auch durchweg abgespeckt werden kann, sodass er kürzer wird. Nur leider muss die Wirkung des Textes dafür einbüßen.

    Eigentlich hatte ich es so verstanden, dass du Texte durch (kleine) Kürzungen lebendiger und knackiger, also wirkungsvoller findest. Aber wahrscheinlich hat sich das auf die Hauffsche Art der "lebendigen" Kürzung bezogen. Und längere, ungekürzte Werke wirken natürlich mit der Zeit "epischer", also in anderer Hinsicht wirkungsvoller. Z.B. dadurch, dass sie mehr und tiefere Gedankengänge enthalten. Auch ausführliche Landschafts-, Umgebungs- und Personenbeschreibungen können letztlich (zumindest auf lange Sicht) die Wirkung des Textes erhöhen, auch wenn sie für manche Leser weniger spannend sind.

    Graf Kiríll Wladímirowitsch Besúchow: Hat er wirklich nur einen Sohn? Und dann noch unehelich. Wer ist eigentlich Pierres Mutter. Und warum sollte Wasilli etwas erben, aber Pierre nicht. Inwieweit hat Wasilli etwas mit dem Grafen zu tun, außer, dass der Graf Pierre damals mit einem Brief und Geld zu Wasilli geschicht hatte. Und warum hatte Ánna Micháilowna Drubezkája ein Interesse daran, dass Pierre alles erbt? :gruebel

    Bei Röhl bekommt man die Infos dazu in Teil 1 mitgeliefert. Zum Beispiel, dass der Graf (zumindest laut Klatsch und Tratsch) viele uneheliche Kinder hatte. Wassili ist ein Cousin oder so von Besuchow. Normalerweise würden die unehelichen Kinder wohl nichts oder nur wenig erben, aber Pierre ist Besuchows Lieblingssohn. Drubezkaja hat natürlich Interesse daran, dass Pierre ihren Sohn Boris unterstützt.

    Als dann alle bei den Rostows am Tisch saßen, war ich ganz zufrieden mit der Situation. Ich liebe es, wenn sich die ganze Gesellschaft auf einem Haufen tummelt. Es wird dann richtig turbulent.

    Dann solltest du Dostojewski lesen. :)

    Marja Dmitrijewna ist eine interessante Person, der offensichtlich viel Respekt gezollt wird. Sie ist eine etwas merkwürdige Person. Sie nennt Pierre Väterchen. :unverstanden

    Die Abschnitte, in denen Dmitrijewna vorkommt, habe ich bisher nur in der Lorenz-Version gelesen; da wurde sie wohl weitgehend wegrationalisiert. Die Anreden mit Väterchen, Mütterchen, Täubchen etc. waren (bzw. sind heute noch?) in Russland so üblich, soviel ich weiß.

    Die Abschnitte 3 und 4 habe ich jetzt auch mal mit Röhl verglichen. Röhl nennt Anna Pawlowna beim Namen, was ich gut finde; so muss man nicht immer wieder überlegen oder nachschlagen, wer gemeint ist.

    In der sehr stark gekürzten Version von H. Lorenz ist das noch extremer; da gibt es oft kaum Zwischenbemerkungen oder Namensbezeichnungen während den Dialogen; ziemlich oft gibt es logische Fehler, z.B. sind Personen da, die man gar nicht hat kommen sehen, oder man muss rätselraten, auf wen sich die Personalpronomen beziehen könnten, oder was in dem zuvor offensichtlich weggekürzten Abschnitt passiert sein könnte.


    In Abschnitt 4 übersetzt Röhl ausführlicher bzw. weitschweifiger:

    "Aber Pierre fuhr, ohne ihr zu antworten, in seiner Meinungsäußerung fort."

    Die ersten zwei der Absätze hab ich mal mit meiner Röhl-Übersetzung verglichen. Bei Bergengruen und Röhl mag ich, dass es detaillierter ist und dass sie die Reaktionen der verschiedenen Personen mitübersetzen; auch das französische "capital" finde ich nett - bei Röhl heißt es "Vorzüglich!". Hauffs Oh! Oh! finde ich auch aufregender als Ah! Oh! oder Röhls Ah! Ah!


    Das Wort "triumphierend" (auch bei Röhl) ordne ich ganz anders ein, nämlich als begeisterten Stolz über seine (aus seiner Sicht) kraftvollen Argumente und darüber, den bewunderten Napoleon in so gelungener Weise verteidigen zu können. So gesehen also deutlich eher als Ausdruck von Pierres Gefühlen, nämlich seiner Begeisterung.


    "Napoleon allein hat es verstanden..."/"Napoleon war der einzige, der es verstand..." (Röhl) finde ich auch überzeugter/siegreicher. Röhls "fuhr er kühnen Mutes fort" ist positiver als Bergengruens "tollkühn".


    In Abschnitt drei stimme ich zu, dass Hauff deutlich 'aufregender' ist als Bergengruen.

    OK, sorry, ich drücke mich manchmal etwas missverständlich aus. Deutsche Sprache, schwere Sprache. :)


    Ich meine, ich hätte beim Recherchieren vor 2 Tagen eine Bestätigung gefunden, dass Nikolai Bolkonski Tolstois Großvater als Vorlage hatte, finde die Seite aber nicht mehr.

    Woanders hab ich dagegen einen Hinweis dafür gefunden, dass der Vetter von Tolstois Großvater die Vorlage für Nikolai Bolkonski lieferte:


    "Ein Vetter des Großvaters des Schriftstellers [Tolstois], Graf Peter Alexandrowitsch, diente mit Auszeichnung unter Suworow. (...) Er war in Wirklichkeit ein würdiges Vorbild zum alten Fürsten Nikolai Bolkonski, des Vaters des Fürsten Andree in »Krieg und Frieden«." (E. Schuyler)


    Wegen Pierre hab ich jetzt auch mal die Hauff-Übersetzung bei gutenberg.spiegel mit den anderen verglichen und finde sie in der Hinsicht tatsächlich positiver. "großer, plumper" klingt natürlich nicht so negativ wie "derber, dicker" (M. Kegel); "guter" Blick besser als "kluger" Blick.

    Bei Wikipedia hab ich dazu Folgendes gefunden:


    "In die allgemeinen Beschreibungen und Analysen der vom Autor recherchierten geschichtlichen Ereignisse, v. a. der verschiedenen Schlachten des Dritten und Vierten Koalitionskrieges und des Russlandfeldzugs eingearbeitet sind die fiktiven Einzelhandlungen, in denen Romanfiguren gemeinsam mit den ca. 120 historischen Persönlichkeiten agieren, z. B. Napoleon Bonaparte, Zar Alexander I. oder der Oberkommandierende Michail Illarionowitsch Kutusow. Einige Protagonisten sind nach real existierenden Personen gezeichnet wie die Bolkonskis, die Ähnlichkeiten mit der Adelsfamilie Wolkonski haben."


    Das mit Graf Nikolai Bolkonski war vielleicht etwas zu weit von mir spekuliert. :gruebel Ich hatte irgendwo gelesen, dass Tolstoi seiner eigenen Mutter Marja Wolkonskaja in der Figur von Marja Bolkonskaja (der Tochter von Graf Nikolai) "ein liebevolles Denkmal gesetzt habe". Daraus hatte ich geschlossen, dass auch Marjas Vater Tolstois Großvater als Vorlage hat; das müsste ich mal nachrecherchieren.

    Zuerst hatte ich in der sehr stark gekürzten Übersetzung von Hertha Lorenz gelesen; jetzt habe ich die ersten Abschnitte nochmal in der Version von Hermann Röhl gelesen. Mir gefällt, wie Tolstoi auch die unsympathischen Figuren interessant darstellt, z.B. Fürst Wassili. Auch Graf Nikolai Bolkonski, der später auftritt und, so viel ich weiß, den Großvater mütterlicherseits von Tolstoi zum Vorbild hat, ist keine so positive Person, aber mir macht es Spaß, von ihm zu lesen.

    Ok, bei Tolstoi hatte ich tatsächlich gerade nur an die Romane gedacht; ich lese gerade "Krieg und Frieden" und "Auferstehung" parallel. Gerade "Auferstehung" ist in einigen Kapiteln die reinste Satire, über Gerichtsbeamte, das Rechtswesen der damaligen Zeit, die orthodoxe Kirche, politische Bewegungen etc. . Über Dostojewski habe ich vor kurzem das Buch "Dostojewskis Gelächter - die Entdeckung eines Großhumoristen" (E. Henscheid) gelesen; der Autor beweist auf etwa 300 Seiten, dass Dostojewski mehr oder weniger einer der größten Humoristen der Weltliteratur ist.


    Bei Dostojewski kommen, glaube ich, öfters verhaute Generäle a.D. vor; ich erinnere mich da an General Iwolgin und die Geschichte mit dem Bologneser-Hündchen im "Idiot".

    ich würde insgesamt auch sagen, dass menschen nicht allzu schwer zu durchschauen sind, solange sie nicht vom durchschnitt abweichen. mit geld, arbeit, frauen/männer, streben nach sozialer anerkennung und aufstieg sowie seichter unterhaltung lässt sich der großteil ihres alltags und lebens beschreiben.

    Ziemlich gut zusammengefasst, würde ich mal sagen. Die grundlegenden Motive/Antriebskräfte sind meist die gleichen.

    Ich denke, das ist auch etwas, was ich an Dostojewski und Tolstoi sehr mag, dass sie wohl relativ gute Menschenkenner waren, auch sich selbst intensiv reflektierten und das dann in ihren Büchern sehr ehrlich (über sich selbst) und eindrücklich darstellen konnten. Vor allem Tolstoi oft auch in sehr humorvoller/sarkastischer Weise, Dostojewski eher in dramatischer und erschreckender Weise.


    Man kann sich bei anderen Menschen natürlich in aller Regel nicht zu 100 Prozent sicher sein, aber manche grundlegenden Absichten oder Motive kann man ab und zu schon mit 99 Prozent Sicherheit erkennen, denke ich. Manche Leute (vor allem junge) sind schon manchmal wie ein offenes Buch.

    das mag schon so sein, irgendeine information auf die der geist dann reagieren kann, braucht man ja immer. aber eine erfahrung muss auch etwas in einer person ansprechen, um wirkung zu haben (egal in welcher hinsicht, welche erkenntnis man auch immer aus einer gewissen erfahrung folgern will), und wenn dieses etwas nicht vorhanden ist, dann passiert einfach - nichts...oder sehr wenig.

    Da stimme ich zu. Es ist schon deutlich wichtiger, was in der Person innerlich da ist, als was die äußere Situation ist. Bei einem Dimitri Karamasow oder einem Raskolnikow, zum Beispiel, gibt es fast nur deshalb Hoffnung auf eine positive Veränderung, weil sie schon irgendwo innerlich darauf vorbereitet sind und sie schon länger mit sich selbst gerungen haben. Obwohl ihre Krisensituationen natürlich extrem sind.

    ich will aber auch nicht sagen, dass man sich selbst allgemein am schlechtesten erkennt - wenn ein mensch irgendetwas weiß, dann weiß er zumindest etwas über sich selbst.

    Ich würde schon sagen, dass man oft Dinge über andere Menschen sehr klar erkennen kann, obwohl diese gar kein Bewusstsein dafür haben. Über sich selber weiß man viel mehr als über Andere, aber gerade in wichtigen Punkten ist man den eigenen Fehlern gegenüber oft blind oder sehr nachsichtig, während man manche Fehler der Anderen deutlich sieht.

    Ich hatte ja schon mal geschrieben, dass ich schon ein bisschen angefangen hatte; hab aber langsam gemacht wegen der Leserunde. Inzwischen bin ich bei S. 95, hab aber festgestellt, dass meine Ausgabe deutlich gekürzt ist. Nur 640 Seiten statt ca. 1600. Aus der Bücherei hab ich mir eine wahrscheinlich ungekürzte Werkausgabe bestellt und werde die weggekürzten Stellen dann vermutlich nachlesen.

    auch dazu, dass es irgendein "traumatisches" erlebnis sein soll, dass einem dabei helfen soll, sich selbst zu erkennen, finde ich im leben keinen beweis.

    Ich denke schon, dass manche Leute durch einschneidende Erlebnisse zu einer Selbsterkenntnis finden. Ich kann mir kaum vorstellen, dass da die Wahrscheinlichkeit nicht höher wäre als in anderen Situationen.

    und bei all diesen myriaden von menschen, die diesen schritt bereits tun mussten, sollte es doch so sein, dass die menschheit daraus irgendeine gröbere, weitumfassendere erkenntnis gezogen hat. - über das leben, wie man leben sollte, was am ende wichtig ist. aber das ist nicht so - nur bei einzelnen persönlichkeiten-, weil eine erfahrung nur so viel wert ist, wie der mensch der sie macht

    Was lernen wir aus der Geschichte? Dass wir aus der Geschichte nichts lernen.

    die persönlichkeit und der innere kern - auch wenn sie maßgeblich von natur vorgegeben sind - sind etwas, an der man arbeiten muss; Oswald Spengler meinte, dass die seele größer und strahlender wird, je einsamer sie steht und je mehr sie gezwungen ist, sich mit sich selbst zu beschäftigen.

    Sicherlich muss man daran arbeiten. Zeiten der Einsamkeit können einem dabei unter Umständen helfen, aber vielleicht dadurch, dass man durch Einsamkeit eher in innere Krisen kommt. Zu viel Einsamkeit kann aber auch gefährlich sein (siehe Raskolnikow, Iwan Karamasow etc.), weil man ohne Halt von außen mit der eigenen Seele vielleicht nicht fertig wird.

    es spricht für hohe sensibilität der bösartigkeit gegenüber, die man eigentlich nur haben kann, wenn man selbst nicht viel bosheit in sich hat.

    Du solltest anderen Leuten nicht so große Komplimente machen; am Ende glauben sie noch dran :--)

    Dieses Zitat von Bahr ist auch nicht schlecht:


    "Jeder Mensch enthält die ganze Menschheit, freilich weiß er es aber nicht, denn nur einen geringen Teil von uns haben wir inne. Erziehung, Gewohnheit, Beispiel, Umgebung, Beruf, die Nötigung, andere über uns zu täuschen, ja auch uns selbst, der Wunsch, mit den Forderungen, die die Welt an uns stellt, übereinzustimmen, das Bedürfnis, uns bequem handhaben zu können, alles wirkt zusammen, um uns eine besondere Rolle zuzuweisen und uns so darin zu bestärken, als wären wir wirklich nichts anderes mehr. Nur ein starker Schlag des Schicksals, ungeheures Glück oder tiefstes Leid, reißt zuweilen für einen Augenblick unser Inneres auf und läßt uns vor dem Getümmel von Menschen erschaudern, das wir sind. Dann erkennen wir, einen Augenblick lang, was alles in uns versammelt ist, unfaßlich für das winzige Ich, das wir uns herausgefischt haben, erkennen es und – wenden uns ab; wir können den furchtbaren Anblick nicht ertragen, wir wenden uns ab und verkriechen uns in unserer Enge wieder. Wie ein solches großes Schicksal tritt Dostojewski seine Gestalten an und sprengt ihre Form, reißt ihre Tiefen auf und stößt sie in das Chaos zurück, dem sie sich entwunden haben; er stellt den Urzustand wieder her."


    Dass ich sehr vom Guten im Menschen überzeugt wäre, denke ich eigentlich nicht; aber vielleicht ist es ja so, und Du hast das entdeckt.

    Bahr spricht vorher noch einen etwas anderen Aspekt an:


    "Individuen und Nationen sind gleich trügerisch (...). Es war der Irrtum des Rationalismus, dies zu verkennen. Indem er von der Nation absah, zog er dem Menschen, während er ihn über die Wolken zu heben glaubte, nur unter den Füßen den Boden weg. Die russischen Rationalisten werden Westler genannt. Dostojewski mußte, mit seiner tiefen Einsicht in die Zweifaltigkeit des menschlichen Wesens, ihnen notwendig widerstreben und geriet dabei in die Gesellschaft der Nationalisten, die freilich die menschliche Natur ebenso mißverstehen, bloß auf der anderen Seite. Das Individuum wie die Nation lebt nur im Gleichgewicht von Expansion und Konzentration. Da es damals die Westler waren, die dieses Gleichgewicht störten, konnte Dostojewski, vor Angst, die losgerissen im Winde treibende Seele seines Volkes müsse verströmen und entdampfen, übersehen, daß sie, von den Nationalisten in die Enge getrieben, in sich ersticken muß. Übrigens meint er, wenn er wider das Ausland für Rußland spricht, im Grunde stets einen anderen Gegensatz: den zwischen Verstand und Gefühl. Leben ist zu tief, um ausgedacht zu werden. Es setzt sich in Gefühl um, vor dem der Verstand ratlos steht; er kommt ihm mit seinen Wahrheiten nicht bei. Sie sind unbrauchbar zur Tat, sie bringen nichts hervor."

    ja, ich bin relativ sicher, dass die meisten menschen in diesem kontext wenig mitfühlend reagieren würden (...) es wird schon kaum jemandem wahres mitleid zu teil, der er es quasi erbettelt wie Hippolit es getan hat. (...) und je mehr du versuchst es in anderen zu provozieren, desto mehr rückt es von dir ab. (...) in einer von Bunins kurzgeschichten las ich mal den satz (nicht ganz wortgetreu): "Bekommt denn im Leben nie, was man sich am sehnlichsten wünscht?". ein erschreckender satz für mich damals, aber wahrscheinlich ist es so. im leben nicht.

    Ich habe auch eigentlich nicht Mitgefühl für Hippolit an sich erwartet, sondern eine Betroffenheit und einen Versuch, einen möglichen zweiten Selbstmordversuch zu verhindern, anstatt von "heiterem Gelächter" und "schadenfrohem Vergnügen".


    Das Bunin-Zitat ist wirklich beeindruckend. Ich habe auch mal ein ähnliches (aber viel weniger weit gefasstes) Zitat gehört, etwa so:

    Wenn du versuchst, die Anerkennung eines Menschen zu bekommen und das dir das wichtigste ist, wirst du mit Sicherheit scheitern.

    In "Dostojewski" von Hermann Bahr habe ich zu der Puschkin-Rede diesen Abschnitt gefunden:


    Dostojewski wundert sich in Florenz, wie sehr italienische Bauern seinen Russen gleichen. Daß es gemeine Leute sind, daß sie noch das Gleichgewicht der inneren Kräfte haben, daß sie Volk sind, darauf kommt es an; der nächste Gassenbub tut es auch. Nun aber die heilende Kraft, die in allem Volk ruht, dem einen zuzuschreiben, an dem gerade man sie selbst gefunden hat, ist der Irrtum aller Nationalisten, des Dostojewski wie des Lagarde wie des Barrès (ich nenne diese drei, weil sie in ihrer politischen Gesinnung einander oft geradezu bis aufs Wort gleichen). Dostojewski muß dies übrigens irgendwie selbst insgeheim empfunden haben, an manchen Stellen seiner Puschkin-Rede ist er schon ganz nahe daran, es auszusprechen, daß wir bloß ins Volk einkehren müssen, ganz gleich in welches. Sein Nationalismus haßt nicht. Vom russischen Volk erwartet er vielmehr, daß es den anderen die »Allversöhnung« bringen wird. Er rühmt die »hohe synthetische Begabung« der Russen. Er findet im russischen Volk noch das Gefühl lebendig, daß der Mensch »nicht wie ein gewöhnliches Erdentier nur sein Leben friste, sondern mit anderen Welten und der Ewigkeit verbunden sei«. Das fehlt ihm im übrigen Europa, das er in Erwerb und in Genuß versunken sieht und in Zwietracht. »Sowohl der Franzose wie der Engländer sieht in der ganzen Welt nur sich allein und in jedem anderen ein Hindernis auf seinem Wege; und ein jeder will bei sich allein das vollbringen, was nur alle Völker mitsammen vollbringen könnten, mit vereinten Kräften.« Er bemerkt nicht, daß er von den Franzosen, von den Engländern eben nur die Intellektuellen kennt und daß sein Kampf gegen die »Westler« doch überall in Europa gekämpft wird, (...). Wie wir aus unserer inneren Anarchie gerettet werden könnten, das ist heute das Thema Europas. Es ist das einzige Thema Dostojewskis. Er glaubt bloß zu Russen zu sprechen, doch er spricht von uns allen.


    Nochmal zu einem vorigen Zitat von Dir, weil mich die Stelle immer noch wundert, allerdings - wie gesagt - ohne den Kontext gut zu kennen:


    "das stimmt, denke ich auch, z.b. die reaktion auf Hippolits gescheiterten selbstmordversuch, würde in vielerlei gesellschaft auf dieselbe reaktion treffen wie von dir im beitrag weiter oben beschrieben."


    Meinst Du wirklich? Wenn es so ist, wie Du es beschrieben hast, dass Hippolit sich völlig lächerlich gemacht hatte, dann kann man das natürlich irgendwo verstehen. Aber meinst Du, dass man (zumindest teilweise) aus Gründen von Oberflächlichkeit in vielerlei Gesellschaft so reagieren würde? Das würde mich schon wundern.


    Bei Schuld und Sühne hattest Du laut Wikipedia schon recht:


    "Der Roman wurde, während Dostojewski laufend weitere Kapitel schrieb, als Feuilletonroman in 12 Fortsetzungen in der Monatszeitschrift Russki Westnik veröffentlicht, beginnend Ende Januar 1866 und endend im Dezember 1866."

    "Da die Fertigstellung von Schuld und Sühne während dieser Zeit nicht gelang, unterbrach Dostojewski die Arbeit am Roman zwischenzeitlich, um den kürzeren Roman Der Spieler einzuschieben, den er innerhalb von 26 Tagen fertigstellte. Nach dieser Unterbrechung wandte er sich wieder Schuld und Sühne zu, den er Ende 1866 fertigstellte."


    Danke für den Hinweis zum 4. Teil! Einen Teil des 9-Seiten-Abschnitts habe ich gelesen, und ich denke, das stützt meine These von der Darstellung der Gesellschaft anhand von ihren Extremen:


    "Die Schriftsteller bemühen sich in ihren Romanen und Novellen größtenteils, aus der Gesellschaft solche Charaktere herauszugreifen und sie so plastisch und künstlerisch darzustellen, wie sie in der Wirklichkeit nur ganz selten anzutreffen sind, Charaktere, die aber trotzdem fast wirklicher sind als die Wirklichkeit selbst. Podkolessin in seiner charakteristischen Gestalt ist vielleicht eine Übertreibung, aber durchaus keine bloße Erdichtung. Unzählige kluge Leute, die Podkolessin durch Gogol kennengelernt haben, haben sofort zwischen Podkolessin und Dutzenden, ja Hunderten ihrer guten Freunde und Bekannten eine überraschende Ähnlichkeit gefunden."


    "Wir wollen also, ohne uns auf ernsthaftere Erklärungen einzulassen, nur sagen, daß in der Wirklichkeit das eigentlich Typische der Charaktere gewissermaßen mit Wasser verdünnt ist und daß alle diese George Dandins und Podkolessins wirklich existieren und alle Tage, wenn auch in etwas verdünntem Zustand, an uns vorüberhuschen und vorüberlaufen."



    Zusatz - die folgende Passage ist auch ziemlich interessant:


    "In der Tat, es kann nichts Ärgerlicheres geben, als zum Beispiel reich und von anständiger Familie zu sein, ein nettes Äußeres und eine hübsche Bildung sein eigen zu nennen, nicht dumm zu sein, sogar ein gutes Herz zu haben, und gleichzeitig kein Talent, keine Besonderheit, nicht einmal eine Wunderlichkeit, keine einzige eigene Idee zu besitzen, sondern einfach ebenso zu sein »wie alle Menschen«. (...) Solche Leute gibt es auf der Welt eine große Menge und sogar weit mehr, als man zunächst glauben möchte; sie zerfallen wie alle Menschen in zwei Hauptgruppen: zur einen gehören die beschränkten, zur andern die »weit klügeren«. Die ersteren sind glücklicher. Für einen beschränkten Alltagsmenschen ist zum Beispiel nichts leichter, als sich für einen ungewöhnlichen, originellen Menschen zu halten und davon ohne Bedenken das Gefühl hohen Genusses zu haben. (...)

    Eine der handelnden Personen unserer Erzählung, Gawrila Ardalionowitsch Iwolgin, gehörte zu der anderen Gruppe, zur Gruppe der »weit klügeren« Leute, obgleich er ganz und gar, vom Kopf bis zu den Füßen, von dem Verlangen, originell zu sein, erfüllt war. Aber diese Gruppe ist, wie wir das bereits oben bemerkt haben, viel unglücklicher als die erstere. Die Sache ist eben die, dass ein kluger Alltagsmensch, selbst wenn er sich zeitweilig (oder meinetwegen auch sein ganzes Leben) einbildet, ein genialer, origineller Mensch zu sein, doch in seinem Herzen den Wurm des Zweifels bewahrt, wodurch dieser kluge Mensch manchmal schließlich restlos in Verzweiflung gerät; wenn er sich aber auch in sein Schicksal fügt, so hat ihn doch die nach innen gedrängte Eitelkeit schon vollständig vergiftet."

    Der Vertrag war schon ziemlich extrem:


    "Weiterhin war es Teil des Vertrages, bis zum 1. November 1866 einen neuen Roman
    abzuliefern. Im Falle der Nichterfüllung bis zum ultimativen Termin
    drohte Dostojewski eine empfindliche Konventionalstrafe; nach dem
    ersten Dezember sollten die Rechte an seinen - bisherigen und künftigen
    - Werken endgültig an Stellowski übergehen - ohne dass Dostojewski auch
    nur einen Rubel bekommen hätte."



    OK, es hat wohl an sich keinen Sinn für Hippolit gemacht, vor ihnen sein Leben auszubreiten. Wenn sie aber zumindest die Möglichkeit einräumen, dass er tatsächlich daran denkt, Selbstmord zu begehen, macht eine "Abschiedsrede" schon irgendwo Sinn.


    Wie war das eigentlich mit dem Vorwort zu "Der Idiot", wo es um Ganja geht? Ein Vorwort habe ich weder in meiner Fischer-Version noch bei spiegel.gutenberg, noch sonstwo im Internet gefunden.

    Gerne. Mich motiviert es auch, mich umso mehr mit seinen Büchern zu befassen. In den letzten 2 Tagen habe ich, angeregt durch ein anderes Gespräch, das erste Drittel vom "Spieler" durchgelesen. Das ist ein ganz anderer Dostojewski (bisher), nicht besonders viel Tiefgang (obwohl es auch einige psychologische Einsichten gibt), aber locker-leicht zu lesen. Allerdings wird es wohl dann bei der Beschreibung der Spielsucht deutlich intensiver.


    Im "Idiot" hat Dostojewski die Figuren wohl bewusst von den Gegenpolen Myschkin-Rogoshin aus gestaltet, dazu dann Nastassja und die anderen dazwischen. Über die Reaktion über den missglückten Selbstmordversuch bin ich immer noch sehr erstaunt, obwohl ich den Kontext dazu immer noch sehr wenig kenne. Da scheint mir schon einiges an geradezu sträflicher Oberflächlichkeit dazusein. Dass die Leute es nicht wirklich merken, wie überspannt Hippolit ist und wie ernst er es meint. Jedenfalls eine bemerkenswerte Szene, wie so viele bei Dostojewski.