Eins vorab: ich nix Deutsch, also bitte ich, sämtliche Sprachfehler zu entschuldigen. Muttersprachlich komme ich aus den Untiefen von Dostojewskij und Bulgakow.
Klappentext:
Sebastian Kunze ist als Großstadtmensch gescheitert. Er landet mit Frau und Tochter in der brandenburgischen Provinz, denn Melanie ist Psychotherapeutin, und auf dem Land gibt es was sie braucht: einen Kassensitz und therapeutischbedürftige Menschen. Doch die ländliche Realität zwischen gutenständen und Landgaststätten hält für das Paar einige Überraschungen bereit. Melanie traut sich bald kaum mehr auf die Straße – wegen all der „Bescheuerten“. Sebastian hingegen lernt die Überschaubarkeit des neuen Lebens zu schätzen.
Zur Hauptperson: auch wenn es mittlerweile viele arrogante Journalisten durch die Literaturlandschaft tingeln, konnte ich mit Sebastian Kunze durchaus etwas anfangen. Selbstverliebt, scharfsinnig, faul, streift er durch das (hauptsächlich) nächtliche Berlin, um das -zigste Weibchen flachzulegen und zwischendurch den Stoff für Tausend Zeilen pro Monat zusammenzutragen. Beides fällt ihm sehr leicht. Die Schreiberei bringt zwar wenig Geld, gibt jedoch die Möglichkeit, das Ego zu befriedigen. Herr Kunze ist für jeden (kindischen) Mist zu haben. Einen Apfel in der Sauna anbeißen und zurück in die Schale legen? Kein Problem. Das Einfahrt eines Fünf-Sterne-Hotels mit eigenem Auto zu blockieren? Bitte sehr. Was man ihm zugute halten muss, ist, dass er seine Arbeit als Journalist ernst nimmt und sehr hohe Ansprüche an sich hat.
Er ist seit sechs Jahren mit Melanie verheiratet (das verflixte siebte Jahr) und hat zwar eine 3,5-Jährige Tochter, zu der er jedoch so gut wie keine Beziehung hat. Er wollte sie nicht und bezeichnet als „Eindringling“ in seinem Leben.
Das Leben meint es gerade nicht gut mit Herrn Kunze. Eine Hiobsbotschaft kommt nach der anderen und das in einem ziemlich sportlichen Zeitraffer. Am 16. Juni wird er arbeits-, am Vormittag des 17. Juni mittellos, am Abend des 17. Juni bekommt er von der Ehefrau ein zweites Kind (im Bauch) serviert und muss entscheiden, ob er in eine gottverlassene Gegend mitziehen will.
Durch das ganze Buch sind kleine Beobachtungen verstreut, die mein Herz höher schlagen lassen. Ich liebe es, wenn ein Schriftsteller seine Arbeit ernst nimmt. „die verfrühten Wespen“ (das Geschehen spielt sich im Juni ab); „Die Smartphone-Junkies, die an einem sonnigen Tag versuchen, etwas auf dem Display zu erkennen“. Köstlich. Das Buch ist witzig, warmherzig und auch paar Tage nach dem Lesen musste ich schmunzeln, wenn ich daran dachte.
Der Rest ist eigentlich für die gedacht, die das Buch gelesen haben.
Beim Lesen ist mir lediglich ein eine Sache aufgefallen, die ich gar nicht nachvollziehen konnte. Seite 268: „Ich habe mich in der Praxis unter falschem Namen angemeldet, die Behandlung in bar bezahlt und auch bei der Anreise auf mein Inkognito geachtet“. Und trotzdem sagt der Arzt in Tschechien auf der Seite 12 „Herr Kunze, nehmen Sie Platz“. Wozu hat Kunze dem Arzt seinen richtigen Namen verraten? Und wann?
Einen Punkt finde ich auch im Nachhinein nicht schlüssig. Die Verwandlung eines Raubtieres in ein weinerliches Reh geht mir zu schnell. Zugegeben, ich bin kein Psychologe, aber ein Mann, der gerade erfuhr, dass seine Frau ihn betrogen hat, will keine Beziehung zu seiner ersten Tochter aufbauen. Auch nicht für eine Sekunde. Er fragt sich, ob das erste Kind überhaupt von ihm ist. Sofort. Diese Frage stellt sich für SK erst unendlich viele Seiten später. Die Szene mit dem Schwindelanfall. Das Zittern beim Kochen. Weinen beim Kindinsbettbringen. Alles für sich genommen ist glaubwürdig, aber nicht am 3. Tag der Geschichte. Nö. Sorry. So schnell geht dat net. Schon gar nicht bei SK. Er hat irgendwie zu schnell den Glauben verloren, dass er wieder in der Hauptstadt-Presse Fuß fassen kann. Dabei war er eine der schillerndsten Persönlichkeiten der Presselandschaft. Sogar seine Gastrokritiken wurden überall wiederholt... Polarisierende Arschlöcher sind gut für die Auflage, das wissen auch die Chefredakteure, mit denen sich SK angelegt hat. Vielleicht wurde SK´s Talent etwas übertrieben dargestellt?
Der Ausflug von SK in den Spreewald, wo die Ehefrau das Haus gekauft hat, war etwas anstrengend zu lesen. Aus einem scharfen Beobachter, wie Kunze vorher gezeigt wurde, wird ein gescheiterter Hellseher. Worte „vermutlich“ und „wahrscheinlich“ sind auf jeder Seite doppelt zu finden. „Der Porsche Panamera... gehörte wahrscheinlich dem Chefarzt, der mit Sicherheit nicht in der Region wohnte“. „Ich legte mein Badetuch zwischen der Blondinen und der Brünetten, die wahrscheinlich direkt aus dem OP der Spezialklinik für Plastische Chirurgie ins Hotel gewechselt war.“ Auf Dauer haben mich diese Wiederholungen genervt. Schlechte Laune kann man auch durch andere Stilmittel zum Ausdruck bringen. Gerade Kunze, der ein Lexikon auf zwei Beinen ist, sollte fähig sein, etwas bösartigeres von sich zu geben.
Die Nebenpersonen sind größtenteils sehr ausdrucksstark dargestellt, besonders Petra und Gabriele, die Mutter von Melanie, Mike Schuster.... Gibt es eigentlich Buchpreise für Nebenfiguren? Dafür bleibt Melanie selbst über das ganze Buch erstaunlich blass. Für SK ist sie mehr oder weniger Sexualobjekt, eine absolute Nummer 10 (er vergibt jeder Frau eine Nummer auf der Skala von 1 bis 10) . Über ihre wahnsinnige Attraktivität lesen wir immer wieder, ansonsten versagt SK´s Humor bei der Ehefrau komplett. Schade eigentlich.
Ich habe generell eine starke Abneigung gegen Kleinkinder in Romanen, denn sie sind eine Art Erpressung. Man muss sie einfach lieb haben, so wie man lachen muss, wenn man gekitzelt wird, auch in der tiefsten Depression. Noch schlimmer als in den Romanen sind sie nur mit ihren Mamis an der roten Fußgängerampel. Kein Auto weit und breit, aber man steht wie angewurzelt und wartet auf Grün. Ohne Lara wäre die Beziehungskrise der beiden Hauptpersonen viel brutaler gewesen. Eine Grundschülerin Lara würde die Honigsüße verlieren und einerseits die Eltern schärfer beobachten, andererseits auch die neue Umgebung mit frischen Kinderaugen sehen.
Das Kapitel „Gin Tonic“ ist für mich etwas zu kitschig geworden. Der Sturm naht heran. Der Freund erzählt, dass er sterbenskrank ist. Eine Abmachung mit dem kranken Freund wird getroffen. Das Propaganda gegen das Rauchen wird betrieben. „Ich werde sterben. Wegen der Scheiße hier.“ Thorben hielt die Zigarette in die Höhe.“
Stilistisch hat mir auch einiges weh getan. „Das ist schlimmer, als die eigene Mama zu beklauen. Die eigene kranke Mama. Die eigene kranke, behinderte Mama, die ans Bett gefesselt ist und nichts mehr sehen oder hören kann“. Hat Thorben diese Rede vorher einstudiert? Klingt so, als ob er genießen würde, das alles sagen zu dürfen.
Oder das hier: „Ich brauche jetzt einen Schnaps“, sagte er. Ich sah auf die Uhr, es ging auf halb drei zu. „Das ist eine schräge Idee“, antwortete ich... „Aber eine gute“. Wieso ist es für SK eine schräge Idee? Trinkt kein Sterbender in Deutschland Schnaps um halb drei? Ein Fallschirmsprung wäre eine schräge Idee. Schaut man überhaupt auf die Uhr in dieser Situation?
Um es mit SK zu formulieren: das Buch ist eine 7. Grundsätzlicher Vorwurf: Was man in sechs Jahren verbockt hat, kann man nicht in neun Tagen therapieren.
Und nun für alle, die sich fragen, was der ganze Scheiß hier soll: Punkt 1. Ja, Sie haben mich erwischt: ich war mal als Redakteur tätig und, was noch wichtiger ist,
Punkt 2. Mir ist gerade langweilig.
So long...
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