Interessante Einblicke und ein Schuss Polemik!
"Nicht schon wieder der Kachelmann, werden Sie sagen" - so beginnt JK ein Buch, von dem man froh sein kann, dass es auf dem Markt ist, sonst blieben einem viele Einblicke und emotionale Eindrücke verwehrt.
Zunächst: Kachelmann kann schreiben! Tiejes Vorwurf bei Jauch, es seien schon bessere Bücher geschrieben worden, läuft ins Leere. Besser als Boulevardzeitungsschreiber formuliert Kachelmann allemal, manchmal verspürt er gar die Lust zur Neuwortschöpfung ("Helmut-Schmidtigkeit" S. 219).
Da Tiedjes Berufsstand im Buch weniger als schlecht wegkommt, wundern seine Tiraden in der Talksendung kaum.
Wie gut es JK gelingt, Stimmung und Atmosphäre zu transportieren, zeigt sich bereits im ersten Kapitel, jener Verhaftung am Frankfurter Flughafen, die das monatelange Tauziehen einleitete.
Die Ausweglosigkeit seiner Situation überträgt sich auf den Leser; das bürokratisch-unnahbare Verhalten der Verhafter, die beklemmende Mischung aus Biederkeit und Voyeurismus - man glaubt sie selbst spüren zu können.
Auch den Hohn jener Beamten des mittleren Dienstes, als sie Miriams Statistik-Skript finden und nur wenig damit anzufangen wissen (war es deskriptive oder eher explorative Statistik?). Es gehört nun mal zum Handwerkszeug von Psychologiestudenten im ersten Semester, auch wenn es sich bei dem Fach um kein mathematisches, sondern um ein geisteswissenschaftliches handelt. Miriam, aus Leipzig anreisend, hatte es dabei. Wollte sie mit JK, der früher Mathe- und Physik-Nachhilfe gegeben haben soll, für eine Klausur üben? Sehr wahrscheinlich.
JKs Angaben über das Vorgehen der Polizisten sind durchweg glaubhaft, da fast jeder ähnliches schon einmal erlebt haben dürfte, sofern er auf Autoritätspersonen des Rechtsstaates traf. Wenn auch in viel milderer Form wie z.B. bei Verkehrsverstößen (Vorzeigen der Papiere, Aussteigen-Alkoholtest, Anhalten wg zu schnellen Fahrens, Abschleppen wg Parken im Halteverbot, etc.)
Diese Ohnmacht spürte JK, sie war nur ungleich größer und auch wenn er sich über die Beamten der "Außenstelle Schwetzingen" permanent beklagt, so war es doch Glück für ihn, dass der zuständige Kripoleiter es nicht für nötig erachtete, für die vorgesehene Verhaftung Spezialeinsatzkräfte anzufordern in Form des SEKs.
Denn dann wäre JK zu Boden gerissen worden, man hätte ihm die Arme auf den Rücken gedreht und ihn unsanft herumgestoßen. Körperliche Blessuren wären zu den seelischen hinzugekommen.
Allein, dass JK solche Art der Verhaftung in seinem Buch nicht beschreibt, zeigt dass der Einsatz der Spezialisten nicht statt gefunden hat. Man muss kein bewaffneter Schwerverbrecher sein, der zur Festnahme ausgeschrieben ist, damit die "harten Jungs" mit den Sturmhauben anrücken. Manchmal reichen schon ein hoher Intellekt, ein geschicktes Mundwerk und die Fähigkeit, Berufe ohne entsprechende Ausbildung auszuüben wie im Falle des Hochstaplers Gert Postel, der bei seiner Festnahme unsanft aus einer Stuttgarter Telefonzelle gerissen wurde (skurilerweise telefonierte er gerade mit einer Richterin).
Die Spezialisten für Festnahmen üben nicht von morgens bis abends den Ernstfall, um dann im Einsatz die Samthandschuhe anzuziehen. Deren Fernbleiben könnte also tatsächlich und zum einzigen Mal so etwas wie ein "Promibonus" für Kachelmann gewesen sein. Vielleicht aber war es auch nur der bloßen Tatsache geschuldet, dass die "Schwetzinger" die polizeiliche Lage nicht aus der Hand geben wollten.
Es geht interessant weiter mit der Gefängniszeit. Auch wenn für die Kakerlaken und Ratten weniger das "System Mannheim" als vielmehr das "System" Altbau ursächlich ist (es gibt auch moderne Gefängnisse wie die JVA Weiterstadt). Wir gestehen JK jedoch zu, dass die unliebsamen Tiere seinen Haftschock noch vergrößerten und für eine geistige Gemengelage sorgten, in der er nicht mehr so sehr differenzierte.
Hier, im Knast, erlebte JK dann, dass es auch anders zugehen kann in der gnadenlosen Justiz, sei es in Mannheim oder anderswo, dass es mitunter sehr stark menschelt. In der JVA Herzogenried in Form des "Stockwerksbeamten G.", der die Gefangenen duzt, obwohl es verboten ist (Dienstvorschrift: Gefangene sind zu siezen), was JK nicht stört, weil es ein warmherziges Du ist, kein respektloses. Es ist ein Du wie einer großen WG. Einer solchen ähnelt der Stockwerk der JVA, weil man auf engem Raum wohnt und sich täglich sieht, weil Gefangene und Wärter aufeinanderhängen und miteinander auskommen müssen, auch wenn die einen jederzeit gehen können - theoretisch.
Vielleicht sind es Bedienstete wie G., die durch ihre unkonventionelle Basisarbeit das Ganze zusammenhalten und ohne Engstirnigkeit dafür sorgen, dass die Subkultur nur manchmal brodelt und zischt (Bunker, Streitereien), aber nicht überschäumt oder explodiert (Haftschäden, Selbstmorde). Gs verbale Unterstützung für Kachelmann äußert sich in dem Satz: "Wenn du dir was machst, tret`ich dich in den Arsch" und auch die rüde Wortwahl und der breite Kurpfälzer-Idiom können die Empathie des Stockwerksbeamten nicht verbergen.
Und dann der Tag der Freilassung, die Stunde des OLG-Bescheids; die Senatsentscheidung aus Karlsruhe kommt per fünfzehnseitigen Fax. Kachelmann, der Schänzer, teilt zuvor das Essen aus. Noch kennt er nicht den Inhalt des Schreibens, er hofft nur und bangt, den Puls auf 180.
Es ist an G., seinem Häftling das Ergebnis der Beschwerde mitzuteilen ("Kachelmann, komm mal her") und er tut dies auf eine Weise, die so einfühlsam und schonend, so wenig überfordernd ist wie nur möglich: "Jetzt sammeln wir erst die Töpfe ein und dann machst du dich fertig."
Es ist jener Moment, in dem Kachelmann schwer mit sich zu kämpfen hat, in dem die Tränendrüsen drücken und wieder zeigt G., dass er weit mehr kann als verwahren, kontrollieren und verschließen. Er kann verstehen. Er lässt Kachelmann allein, zwei Minuten nur, doch die reichen; er lässt ihn allein in seinem Büro zurück, damit dieser sich fassen kann.
So sehr Oltrogge, Gattner und Seidling JKs Vertrauen in die Personen der Justiz erschüttert haben mögen, so sehr muss G. es wieder hergestellt haben.
Was Staatsanwälte und Richter auf der einen Seite zerstörten, rückte ein Stockswerksbeamte wieder gerade, wenn auch nur im Kleinen und ohne juristischen Belang.
Sehr spannend auch JKs nachfolgende Flucht: in Hotels, über Flughäfen und durch die Dünen. Nicht vor der Justiz, sondern vor den Paparazzis. Abenteuerlich ging es zu in Kachelmanns Leben, vor seinem Gefängnisaufenthalt und erst recht danach.
Das Kapitel liest sich spannender als jeder Krimi. Schade, dass es so schnell zu Ende ist, denn: "der Prozess beginnt".
Schade auch, dass Kachelmann uns vorenthält, warum Birkenstock ihn anbrüllte und zusammenschiss? (S. 114) Zumal sich der Vorgang wiederholte. Gerne hätte man zur der Anwalt-Mandant-Beziehung mehr erfahren, aber es ist wohl dem aktuellen Verfahren geschuldet, das Kachelmann gegen seine ehemaligen Rechtsbeistand führt, dass sich des Autors Zunge hier in Zurückhaltung üben muss.
Mit Kachelmanns erstem Anwalt hatte auch Miriam, die Co-Autorin, von Anfang an ihre Probleme. Sie steht ihrem Mann in Punkto Schreibfähigkeit in Nichts nach, ja teilweise formuliert sie noch ausgefeilter und präziser. Und sie hat Verve. Kaum zu glauben, dass sie erst 26 Lenze zählt. Sie hat so wenig Girliehaftes an sich, dass Karaseks These von den Ich-schwachen Kachelmann-Freundinnen schnell ad absurdum geführt wird.
Miriam ist, vielleicht noch mehr als JK, ein Mensch der sehr schnell ein Gespür für die Absichten und Motive seines Gegenüber entwickelt. (Beide, JK und Miriam, lesen immer sehr viel aus der Körpersprache ihrer Gesprächspartner).
Dies kommt ihr in der Gerichtsverhandlung, in der sie als Zeugin aussagen muss, entgegen. Ihr Ringen mit dem Vorsitzenden, das Analysieren der Fragen, ihr blitzgescheites Abwägen, ihre gnadenlose Ehrlichkeit zu sich selbst - jene Passagen des Buches sind weit mehr als ein bloßer Zeugenbericht. Selten bekam man Intimeres zu lesen vom Innenleben einer Zeugin im Strafprozess. Man meint, Seidlings Fragen förmlich zu hören. Die Betroffenheit der Zeugin wird zur Betroffenheit des Lesers. Lese man dergleichen in einem Roman, verdiente es die Bezeichnung "Literatur".
Das Durchstehen des Prozesses kostete sie viel Kraft, das Schreiben des Buches verlangt den tiefen Einstieg in eine Materie, die sie sehr scharfsinnig analysiert ("Was sich ändern muss"). Am Ende des Buches empört sie sich darüber.
Wahrscheinlich verlangte die Situation von ihr, dass sie ihr Psychologiestudium unterbrechen musste. Sie wird es nun wieder aufnehmen.
Auf S. 233 ist ein Foto abgebildet mit dem Buch "Der Soziopath von nebenan". Es ist die Leseempfehlung eines Therapeuten gewesen und soll auf die Person Kachelmanns gemünzt sein. Nichts geht dermaßen weit am Ziel vorbei wie der Begriff "Soziopath". Er stammt aus der Abteilung für Verhaltensforschung des FBI in Quantico (Behavourial Science Unit) und dient zur Klassifizierung von Serienkillern, die aus sexuell-pervertierten Motiven morden. Tätern also, denen man eine völlige Empathielosigkeit gegenüber ihren Opfern unterstellen muss, da sie andernfalls zu solchen Taten gar nicht fähig wären (in Deutschland denke man an den "Menschenfresser" aus dem hessischen Rothenburg).
Kachelmann als komplett gefühllosen Menschen zu bezeichnen, ihm gar eine Gefühlsunfähigkeit im pathologischen Sinne zuzuschreiben, tun nicht einmal seine größten Gegner. Auch wäre der behauptete Ausbruch in jener Nacht (hasserfüllter Blick, emotionaler Ausraster, impulsive Gewalttat) kaum damit in Einklang zu bringen. Ein Soziopath hasst nicht. Er ist zu Gefühlen/Emotionen gar nicht fähig. Er handelt mehr oder weniger emotionslos und (aus seiner Sicht) rational.
Verwendet man den Begriff hingegen für Menschen, die andere manipulieren und ihre Vorteile rücksichtslos zu wahren wissen, dürfte man den Großteil der Polit- und Wirtschaftsklasse getrost darunter subsumieren.
Etwas verwunderlich, wenn JK sich darüber wundert, dass das Gericht Birkenstocks Umarmungsstrategie als Schwäche auslegte (S. 205). Man darf nicht vergessen: Kachelmann hatte ja nicht gestanden. (Zudem die Höchstzahl an Verteidiger aufgeboten.) Dem Gericht blieb demnach die Mühe der Überführung. Eine "weiche" Verteidigung, wie Birkenstock sie anfangs anstrebte, kann ja nur zum Erfolg führen, wenn der Angeklagte gleich zu Beginn alles einräumt, das Verfahren dadurch abkürzt und im Gegenzug auf eine milde Strafe hoffen darf (Deal).
Mit Freundlichkeit das Gericht überzeugen zu wollen, dass man unschuldig ist, kann schon deshalb nicht funktionieren, weil man ja sehr früh einen Befangenheitsantrag stellte. Die Verteidigung kämpfte also mit harten Bandagen und das bedeutete: Konfliktverteidigung.
Verwunderlich ist auch, dass das Gericht so großen Wert auf Zeugenaussagen legte.
Selbst von Zeugen, die dabei gewesen sind, weiß Jura-Profesor Uwe Wesel in seinem Buch ("Risiko Rechtsanwalt") zu berichten: Die Hälfte der Zeugen macht - gewollt oder ungewollt - falsche Angaben, ganz oder teilweise.
Das Buch kommt leider nicht ohne eine kräftigen Schuss Polemik aus („dumme Polizisten/gieriger Staat/Schergen Mannheims/Knallchargen/Justizdarsteller“).
Hier fehlt etwas die Distanz des Autors, was jedoch angesichts dessen, was Kachelmann erlebt hat, auch kein Wunder ist. Natürlich geht es JK nicht nur darum, Mißstände aufzuzeigen. Das Buch dient auch zu einem Großteil als Katharsis, Verarbeitung.
Es ist dennoch ein gutes Buch. Ohne diese (zu toleriende) Schwäche - und wären einige der vielen interessanten Passagen noch ausführlicher - wäre es noch besser.