Jennifer Benkau – „Es war einmal Aleppo“
Rezension
Als Toni mit ihrer Familie aus dem Urlaub zurückkommt, steht plötzlich eine Notunterkunft für Flüchtlinge in ihrer Nachbarschaft. Entsetzt beginnt ihr Vater, traumatisiert durch einen Überfall, Unterschriften dagegen zu sammeln, denn: „da wohnen ja nur gewaltbereite Männer.“ Toni schließt sich dem an, bleibt aber nachdenklich, wohingegen sich ihr Bruder mehr und mehr in Richtung rechte Szene orientiert.
Von ihrer Freundin wird Toni dazu überredet, einmal mit in die Unterkunft zu kommen und ehrenamtlich zu helfen. Langsam verändert sich Tonis Blick auf die ganze Sache, sie lernt dort den jungen Syrer Shirvan kennen, der ihr viele Zusammenhänge erklärt und seine Heimat zeigt; Sie beginnt zu recherchieren, und stellt Fragen. Zwischen den beiden entwickelt sich eine zarte, unerlaubte Liebesbeziehung. Doch sie fliegen auf und Toni wird verboten, das Lager zu betreten. Jetzt braucht es eine wirklich gute Idee, um ihre Eltern umzustimmen…
Meine Meinung:
Es ist ein Jugendbuch, was sich flüssig lesen lässt, mit nachvollziehbar geschilderten Situationen, die wie aus dem Sommer 2015 gegriffen scheinen, dem Höhepunkt der sogenannten Flüchtlingskrise. Organisatorisches Chaos in den Unterkünften, Behördenversagen, Vorschriften.
Jubel, Begeisterung und Hilfsbereitschaft in der Bevölkerung, aber auch Berührungsängste, Hetze, Rassismus.
Kriegs- und Fluchterfahrungen, Hoffnungen bei den Ankommenden. Das Dilemma der Flüchtlinge aus sicheren Herkunftsstaaten, die manchmal so arm sind, dass sie sich zwischen Babymilch und Gasrechnung entscheiden müssen.
Nichts wird ausgespart.
Die ganze Geschichte ist aus Tonis Perspektive geschrieben, sodass der Leser ihren Wandlungs- und Lernprozess selbst glaubhaft durchmachen kann.
Nicht jedes, aber viele Kapitel beginnen mit einem realen Tagesschau-Zitat oder einer fiktiven Textnachricht, die auf einen Aspekt der Flüchtlingskrise Bezug nehmen: Da sind verzweifelter werdende WhatsApp-Nachrichten an den Arzt im bombardierten Krankenhaus, die ohne Antwort bleiben oder auch Erleichterung nach der geglückten Überfahrt.
Das Buch enthält wundervolle Einblicke in die syrische Küche und die glanzvolle Zeit Aleppos vor dem Krieg.
Ein Roman, der geschrieben werden musste, um zu informieren und die Leute zu erreichen, die offen dafür sind, komplexe Themen von mehreren Seiten zu betrachten – erst recht, wenn sie sich vorher noch gar nicht damit befasst haben.
Manchmal jedoch ist es Shirvan, der stört. Er ist der perfekt Englisch sprechende Musterflüchtling, der sofort alles erklären kann, passende Antworten parat hat und seine Kultur derart objektiv zu überblicken scheint, dass für mich hin und wieder doch durchschimmert, dass kein Araber, der damit verwachsen ist, dieses Buch geschrieben hat. Natürlich gibt es sehr liberale, tolerante und wissende Menschen, sogar sehr viele, aber für diese Art von Gesprächen zwischen Toni und Shirvan braucht es in der realen Welt viel Glück – und mehrere Leute.
Das macht aber nichts, denn die Realität ist kein Roman und ich erwarte nicht, dass alle Neuankömmlinge meine Freunde werden – manchmal ist Toleranz auch ein friedliches Nebeneinander.
Mit der Liebesgeschichte umgeht man auch geschickt Geschlechter- und Rollenkonflikte, die nicht ausbleiben können, ungeschriebene Gesetze, an denen du dich verletzt, wenn du sie brichst, wie ich selbst erfahren musste.
Zum Abschluss möchte ich euch unbedingt noch etwas ans Herz legen, was das Buch ganz deutlich sagt:
Geht demonstrieren, geht auf Mahnwachen, bedauert die Leidenden – und dann geht tanzen und tut fröhliche Dinge, wie auch die Leute vor dem Krieg sie taten, denn wer überleben will, der muss zuerst eines können: LEBEN!