„Es steht jeden Tag ein Dummer auf“ S. 29, ist eine der Lebensweisheiten, die der Ich-Erzähler in diesem Buch von seinem Vater lernt. Der Vater will seinen Lebensunterhalt darauf gründen, dass es diese „Dummen“ gibt. Lange bevor ebay und Co. ein verbreitetes Geschäftsmodell wurde, gründet Vater Jürgen einen Versandhandel daheim. „Nicht, dass Jürgen das Baccalauréat oder später, wieder in Deutschland, das Abitur bestanden hätte. Dafür war er zu schlau.“ S. 16 Das Lager wird nie leer. Dann kommen die Briefe, die Männer mit den Aktentaschen – zuletzt der Umzug aus dem eigenen Haus in die Mietwohnung. Jetzt veranstaltet die Mutter Tupperpartys, der Vater arbeitet bei einem Gebrauchtwagenhandel. Das kann er, anderen Autos verkaufen, mit schönen Felgen, aber marodem Innenleben, der schöne Schein.
Wirkliche Arbeit scheint im Konzept des Vaters nicht vorgesehen zu sein, schon die Wahrsagerin hatte ihm einst vorhergesagt: „Er würde reich sein. Er würde nicht reich werden mit einer Idee oder einem Geschäft, nein. Er würde es eines Tages einfach sein.“ S. 16 Wieder kommen Briefe, diesmal mit dem Landeswappen – wieder kommt ein Umzug, mitten in der Nacht, nach Frankreich, das große Geld ist plötzlich da, ein Haus wird gemietet und die Mutter geht einkaufen oder putzt. Es wird nicht die letzte plötzliche große Veränderung im Leben der Familie mit inzwischen drei Kindern sein.
Das Buch ist autobiographisch geschrieben von Arno Frank – der Ton ist unterhaltsam, oft direkt, wenngleich mir dabei mehrere Male kalte Schauer über den Rücken liefen. Es sind nicht die prekäre Lage, der gesellschaftliche Abstieg oder die Wolkenschlösser, die mich schockieren – es ist, wie der Vater das seiner Familie verkauft. Die Banken sind schuld – ja, sicherlich gibt es das. Der Vater verkauft etwas – sicher, doch bereits als Autoverkäufer erklärt er seinem Sohn, wie genau man andere zu betrügen hat. Viel später wird er die Tochter zum Handtaschendiebstahl anstiften. Und die Mutter? Wenn es eng wird, sitzt sie da und lutscht Daumen.
Arno Frank wurde im selben Jahr wie ich geboren, seine Kindheit streift die Ereignisse meiner eigenen Jugend: die Terroristenplakate in der Post, die Grünen, Kießling, Tschernobyl. Doch fast völlig fehlen die sonstigen Erlebnisse der Kindheit, wie sie zum Beispiel in Stephan Lohses „Ein fauler Gott“ Nostalgie hervorriefen – zu stark ist das Leben der Familie zwischen Überfluss und Flucht jenseits aller Normen. Meisterhaft, wie der Autor die Ausblendung der Realität in Bilder fasst. Der Ich-Erzähler klammert sich an seinen Diercke-Schulatlas auf der Flucht quer durch Europa, der kleine Bruder trägt immer Schwimmflügel, auch, als der Pool schon längst auf der Flucht zurück gelassen wurde. Auch die scheinbaren Verbesserungen können überfordern: „Zunächst lässt meine Schwester, die so viel Platz gar nicht gewohnt ist, sich in ihrem Wandschrank häuslich nieder.“ S. 93
Wohin das führt, ist klar; es geht mehr darum wie meisterhaft das dargestellt wird, wie lange die Realität ausgeblendet wird, auf Abstand gehalten werden kann, bis die Erkenntnis kommt: „Ich habe es satt, nur auf Sicht zu fahren, wenn es hinter jeder Ecke schlimmer wird. Ich habe die Anfänge satt, die ins Leere laufen S. 259 Leseempfehlung. Tolle Sprache, grandiose Bilder – und eine schlicht wahnsinnige Geschichte.
9 von 10 Punkten