Viktor
Mit der Umgebung des großen Gebüsches verschmelzend, betrachtete
Viktor eingehend die schwarze Limousine deutscher Fabrikation. An
diesem Morgen zahlten sich die vielen Stunden seiner Ausbildung mehr
als nur aus. Seine Tarnung gliederte sich fast perfekt in die ihn umgebende
Landschaft ein. Er hatte sich für seine Begriffe so gut in dem Strauch
versteckt, dass er praktisch unsichtbar für die Augen Anderer war.
Nicht umsonst hing die Urkunde für das Bestehen des Erweiterungskurses
„Angewandte Tarnung“ über dem Schreibtisch in seiner Wohnung.
Aus seiner Deckung heraus unbeobachtet, war er in der Lage, sich
dem ominösen Fahrzeug in aller Ruhe zu widmen.
Eigentlich war ein dunkler und schwerer Audi A8 noch kein Grund,
der Situation mehr Bedeutung zu schenken, als diejenige, welche sie
verdiente. Jedoch erkannte sein durch langjährige Erfahrung geschultes
Auge, dass etwas mit dem Auto nicht zu stimmen schien.
Schließlich hatte er einen ähnlichen Wagen erst vor wenigen Monaten
in Berlin zu sehen bekommen. Damals war sein oberster Chef, der
Leiter des Bundeskanzleramtes, aus eben so einem Fahrzeug ausgestiegen.
Es war zu jener Zeit ein „Audi A8 L Security“ gewesen, den es zu
bewachen galt. Viktor sah keinen Grund anzunehmen, dass es sich bei
diesem Fahrzeug um etwas anderes handelte.
Die Sonderschutzfahrzeuge aus Ingolstadt besaßen, abgesehen von
dem Preis in Höhe eines kleinen Mehrfamilienhauses, eine der höchsten
Widerstandsklassen für Automobile. Selbst dem Beschuss einer Panzerfaust
hielt dieser fahrbare Bunker stand. Was machte also so ein Fahrzeug
auf dem Campus einer mittleren Universität wie der TU, durchhämmerte
es als Frage die Windungen seines Großhirns.
Als sich der Wagen weiter näherte, sah Viktor die zweite Ungereimtheit
an dem Automobil. Das Nummernschild konnte einfach nicht stimmen.
Das griechische Kreuz auf rotem Grund, welches an der Seite des
Schildes stand, war zwar eine Seltenheit in Sachsen, es stellte aber dennoch
nichts Ungewöhnliches auf den hiesigen Straßen dar.
Vielmehr versetzen die beiden Sonderbuchstaben am Anfang der
Nummer seine Gedanken so in Unruhe. „CC“ in weißen Lettern auf
blauem Grund entsprach einem Schweizer Diplomatenfahrzeug höchster
Gattung. Per Definition galten diese Kraftfahrzeuge als unantastbares
Hoheitsgebiet der Helvetier.
Soweit er in der Lage war sich zu erinnern, gab es davon in Deutschland
nur zwei Exemplare. Die beiden Limousinen standen in Berlin zur
besonderen Verwendung des Botschafters der Schweizerischen Eidgenossenschaft.
Was machte also eine dieser Staatskarossen unangemeldet
in Dresden, fragte er sich.
Seinen Kollegen in Gedanken Abbitte leistend für die Verwünschungen
der letzten Minuten, zog Viktor sein altes aber sehr effektives
Fernglas unter dem italienischen Mantel hervor. In einer hellbraunen
Schutztasche aus Rindsleder befand sich das alte Prismenglas. Auf den
schwarzen Okularen standen groß die Worte „VEB Carl Zeiss“ aufgedruckt.
Für Viktor war dies nach wie vor eines der besten Ferngläser, das
man je auf deutschem Boden produziert hatte. Modernste Digitaltechnik
hin oder her betrachtet, sah er sich immer noch als einen Agenten
der guten alten Schule. Deswegen nutzte er explizit vertraute „Lowtech“,
statt des Technik-Schnickschnacks seiner jüngeren Kollegen.
Trotz aller Bemühungen, die Augen zu engen Schlitzen zusammenzukneifen,
war es für ihn unmöglich zu erkennen, wer da eigentlich in dem
Auto saß. So blieb Viktor nichts anderes übrig, als dem Wagen hinterher
zu spähen. Dabei notierte er sich eifrig das Nummernschild auf seinem
Mobiltelefon.
Automatisch sendete das Wunderwerk modernster Informationstechnik
eine „who-is“ Abfrage an den Zentralrechner der Behörde in Pullach
im Isartal. Damit sparte er sich zugleich auch die direkte Meldung
über das Erscheinen dieses besonderen Diplomatenfahrzeugs bei seinen
Vorgesetzten. Der Server war schließlich in der Lage, von sich aus den
zuständigen Stellen ein Memo zuzustellen. In dieser Hinsicht hatte sich
seine Behörde um Einiges weiterentwickelt. Wenn er an die Anfänge des
Nachrichtendienstes in seiner Jugend zurückdachte, arbeitete er heutzutage
in nahezu paradiesischen Zuständen.
An der Kreuzung, die er gerade noch in der Lage war einzusehen,
bog der Wagen nach links ab. Daraufhin suchte sich das Fahrzeug einen
Parkplatz am rechten Fahrbahnrand. Die Fahrertür öffnete sich und einer
der kräftigsten und größten Menschen, den er je in seinem Leben
zu Gesicht bekommen hatte, stieg aus dem Fahrzeug aus. Der Mann sah
wie eine wahrhaftig gewordene Fantasie eines Hollywoodautors für einen
biblischen Goliath aus. Vor Kraft strotzend, marschierte der Hüne
um das Fahrzeug herum. Viktor erwartete nahezu, den Boden unter sich
bei jedem der einzelnen Schritte des Riesen erbeben zu spüren. Während
des kurzen Weges um den Audi herum sondierte der Koloss wie ein alter
Profi seine Umgebung.
Irgendwie kam der Mann Viktor seltsam bekannt vor. Es bestand die
Möglichkeit, dass einmal eine Akte auf seinem Tisch gelegen hatte, in
welcher ein Foto dieses gigantischen Menschen enthalten war. So viele
enorm große Geschöpfe gab es mit Sicherheit nicht auf diesem Planeten,
als dass er seiner Behörde unbekannt war.
Es fiel ihm aber partout nicht ein, wohin der Mann einzuordnen war.
In einem maßgeschneiderten eleganten Anzug, der aller Wahrscheinlichkeit
nach aus einer Londoner Fertigung stammte, umrundete der Mann
seinen kleinen Panzerwagen. In Gedanken überschlug Viktor, was so ein
übergroßer und handgefertigter Anzug wohl kosten mochte.
Die hintere Tür auf der Beifahrerseite aufhaltend, wartete der Bodyguard,
so seine Annahme, schließlich auf eine dort aussteigende Person.
Als jedoch niemand dieser Aufforderung nachkam und sich die Tür wieder
schloss, richtete sich Viktor verblüfft in seinem Versteck auf. In diesem
Moment kam eine winzige Gestalt um den Audi herum gehumpelt.
Dem Agenten war, als gefriere augenblicklich das Blut in seinen
Adern.
„Gideon van de Kramer ist in Europa, in Deutschland … van de Kramer
ist in Dresden! De Kramer ist hier, keine fünfzig Meter von mir entfernt!“,
überschlugen sich seine Gedanken und er musste sie laut aussprechen,
um sie auch wirklich selbst zu glauben.
Mit der Situation völlig überfordert, blickte er den zwei Männern
einfach nur hinterher. Dabei sah er, wie sie sich dem Gebäude näherten,
welches das Ziel seiner Observation darstellte.
Das Letzte, was er wahrnahm, bevor sie in dem Eingang verschwanden,
war der kurze aber tödliche Blick, den ihm der Leibwächter zuwarf.