Aus Dolochow werde ich nicht schlau. Einerseits ist er der Draufgänger, anderseits der liebende Sohn und im nächsten Moment legt er seinen Freund herein und erleichtert ihn um ein Vermögen. Gut, dies war ein Ausdruck seiner Eifersucht. Aber das kann sein Handeln nicht rechtfertigen. Spätestens am nächsten Tag hätte er nicht mehr auf der Begleichung der Schulden bestehen dürfen.
Wenigstens überlebt Dolochow. Das ist schon ein eigenartiger Mensch. In dieser Situation, in der er mit dem Tod rechnet, denkt er an seine Mutter. Über das Duell hingegen scheint er sich vorher nicht viele Sorgen gemacht zu haben. Und wie er Nikolai abzockt, aus Rache oder Eifersucht, ist unglaublich. Ich nehme an, dass er ihn betrogen hat.
Ich denke, als Soldat entwickelst du deine eigene Art mit dem Tod umzugehen. So sagt Dolochow:
„Wenn du vor einem Duell dein Testament machst und zärtliche Briefe an deine Eltern schreibst, ja wenn du überhaupt nur daran denkst, du könntest fallen – dann bist du ein Narr und schon so gut wie verloren. Aber du
brauchst nur mit der festen Absicht hinzukommen, deinen Gegner so schnell und so sicher wie möglich zu töten, und es ist alles in Ordnung.“ (Bergengruen, dtv 19932, S.411.)
Und dann kommt alles anders!
Dolochow hat Nikolai beim Kartenspiel betrogen. Da bin ich auch sicher. Er deutet in gewisser Weise sogar an, dass er falsch
spielt:
„Ja, meine Herren, wie ich gehört habe, kursiert in Moskau das Gerücht, ich sei ein Falschspieler. Ich kann Ihnen also nur raten, mir gegenüber möglichst vorsichtig zu sein.“ (Bergengruen, dtv 19932, S.445.)
Einfühlsam beschreibt Tolstoi, wie Nikolai in den Strudel des Spieles gerät und nicht mehr herausfindet. Denn im Grunde ist er kein Spieler.
Im stürmischen Wetter kommt der totgeglaubte Andrej gerade rechtzeitig zur Geburt seines Sohnes nach Hause.
"Plötzlich riß ein Windstoß einen Fensterflügel auf, die Gardinen blähten sich auf und ein Strom von Kälte und Schnee stürmte ins Zimmer und löschte das Licht aus. Fürstin Marie fuhr auf, die Amme eilte ans Fenster, um es zu schließen."
Das finde ich alles etwas konstruiert, unrealistisch und ein bisschen zu viel. Aber das folgende ist ... ja ich trau mich kaum dieses Wort zu verwenden ... wunderschön geschrieben. Und so traurig.
Ich denke, die Geschichte mit dem Fenster, das der Windstoß öffnet, soll uns Leser in Schrecken versetzen. Die Kerze erlischt gleichsam als Symbol für das Lebenslicht der kleinen Fürstin. Andrejs Ankunft schiebt den Schauer, die Geburt könnte auch tödlich verlaufen, nur für kurze Zeit auf. Und nach all den wunderbaren Beschreibungen der Gefühle fällt dann der kalte Satz:
"Sie lag tot da, ..." (Bergengruen, dtv 19932, S.430.)