"Relictio" ist ein Spiel der Dimensionen. Daniels Handlungsstrang fächert sich auf in reale, virtuelle und fiktive Welt, Philipps hingegen in wahrgenommene, geistig erschlossene und immaginäre Welt; seien es Chips, Haare oder Holzwürmer, nur Philipps Umgebung ist belebt, ist er doch der Ursprung dieses Treibens. Nicht festgelegt ist die Anzahl der Welten der Kreaturen und Schöpfer, seien es drei (Daniel als Kreatur und Schöpfer von Cilers Universum), seien es fünf, sollte Philipp mit seinem Dimensionsmodell Recht haben und der Ursprung allen Seins in der 0. Dimension liegen.
Dieses Gebilde aus Ebenen erlaubt es, Aussagen in verschiedenen Kombinationen durchzuspielen, wobei sich ihr Sinn je nach Bezugsobjekt ändert. Sei es eine Diskussion zweier Haare, ob sie Teil der Schöpfung oder der Evolution sind, oder Cilers Erkenntnis, es gäbe in Abhängigkeit des Betrachtungspunktes in derselben Welt einen oder mehrere Schöpfer. Der Gedanke, dass sich die Absurdität einer Frage nicht aus ihrem Inhalt, sondern aus dem Umstand der Betrachtung ergibt, zieht sich wie ein roter Faden durch den Roman.
Es ist für mich sehr interessant zu sehen, dass Daniels und Philipps Tod, herbeigeführt durch Sucht, Übermüdung und Wahn, die Leser mehr erschüttert als das Ableben Midors. Der Sucht-Aspekt, auf dessen Phasen die in deutsch und lateinisch verfassten Kapitelüberschriften hinweisen, wurde von den Teilnehmern dieser Leserunde wunderbar herausgearbeitet.
Die Beziehung zwischen realer und fiktiver Welt in "Relictio" ähnelt jener aus Michael Endes "Die unendliche Geschichte". In beiden Romanen existiert für die Protagonisten (Treaghus und Bux) die fiktive Welt neben der realen. Doch während Phantásien bereits vor Bux existierte, schafft und formt Treaghus seine fiktive Welt, in dem er die von Smiddlethorp gelieferten Elemente einbringt. Ebenfalls ist in beiden Büchern der fiktive Charakter stärker als der reale; dass Atréju Bux rettet, Ciler Treaghus hingegen ins Verderben stürzt, ist allein der individuellen Zielsetzung des fiktiven Charakters geschuldet. Thomas Gerwert hatte auf diesen Aspekt hingewiesen.
Schließt man das Buch nach dem Kapitel "K", wird "Relictio" zur Abhandlung über die wechselseitige Beziehung zwischen Kreatur und Schöpfer und die zerstörerische Kraft der Leidenschaft, eingebettet in so gegensätzliche literarische Werke über Universum und Hölle wie die Giordano Brunos und Dante Alighieris.
Was hat es nun mit dem Epilog auf sich?
Mit den folgenden Ausführungen soll nicht der Eindruck erweckt werden, man könne "Relictio" nur mit Gebrauchsanleitung lesen. Vielmehr eröffnet sich dem Leser ein weiterer Blickwinkel.
Der Spiegel nimmt in "Relictio" eine besondere Rolle ein; dessen Eigenschaft, ein dreidimensionales Objekt in eine zweidimensionale Fläche umzuwandeln, wird zum Tor zwischen Philipps geometriebasierten Welten. Cilers Ziel, der Quell O'it, konnte keinen anderen Namen haben, ergibt sich doch aus "O'it + Ciler" in Spiegelschrift "Relictio". Bereits der Titel des Romans kündigt also das Ende an: Gor wird dank Thys Karte den inneren Tetraeder Furogons betreten und seinem Schöpfer begegnen. Die Handlung des Romans scheint einem vorgegeben Plan zu folgen. Sehr interessant war an dieser Stelle für mich Thomas Gerwerts Überlegung, ob Philipp überlebte, würde Daniel Thy nicht sterben lassen.
Der Epilog erzählt die Hinrichtung Giordano Brunos aus der Sicht eines Schülers, der einst bei Bruno die Kunst der Erinnerung erlernte. Mag es noch zufällig anmuten, dass der Unbekannte den letzten Gruß an seinen Mentor mit dem Begriff "Relictio" einleitet, die Anzahl der Schritte vom Gefängnis bis zum Scheiterhaufen ist es nicht: Die beschriebenen Teilstrecken, deren Namen inspiriert sind von tatsächlichen Orten in Rom, finden sich in Daniels Epos wieder. Aus Tor Sanguinea wird der Turm des Blutes, aus Tor di Nona die Wendeltreppe des neunten Turmes.
Im Roman verstreute Informationen, die auf den ersten Blick als überflüssig erscheinen mögen, dienen dem Knüpfen eines engmaschigen Netzes im Spiel der Parallelen. Es ist kein Zufall, dass die Planetennamen des Epos Brunos Erinnerungsmodell folgen, so wie auch die Handlung des gesamten Romans in die Buchstaben B bis K eingeteilt ist. Vielmehr sind es Hnweise darauf, dass beide Handlungsstränge, Epos und Realität, Erinnerungen sind, die gemäß Brunos Ars Memoriae kodifiziert wurden. Ich empfand es als erfrischend, eine Hommage an Giordano Bruno zu schreiben, die gänzlich, in Inhalt und Form, von dessen Ideen durchdrungen ist, auch wenn der Bezug zur geometrieverliebten Renaissance zuweilen den Lesefluss lähmen mag.
Jacob