Dieses Posting ist jetzt eindeutig eine Rezension und betrifft das von mir inzwischen gelesene Buch.
Neben Julianes hilfreicher Rezension, die hier den Thread eröffnet, gibt es auf Amazon inzwischen ausreichend Rezensionen, alle im Feld 3-5 Sterne, wobei die 5 Sterne eindeutig die häuftigste Bewertung sind. Alle diese Rezensionen wie auch die von Juliane vermitteln hier sehr gut, warum dieses Buch Leser/innen gefallen könnte. Meine Rezension ist eine Ergänzung, hier wird gezeigt, warum das Buch vielleicht der/m einen oder anderen Leser/in nicht gefallen könnte.
In allen Rezensionen, die bei Amazon bisher gepostet wurden, hat es sich nach ihren eigenen Aussagen um Leser/innen gehandelt, die auf das Buch aufmerksam wurden, weil sie schon andere Bücher von der Autorin gelesen haben oder sich von dem Buch aufgrund des Titels und der Vermarktung einen historischen Krimi versprochen hatten.
Bei mir war die Ausgangssituation zum Lesen dagegen eine ganz andere, wie ich in diesem Thread bereits angedeutet habe. Nach längerer Überlegung (die Rezensionen bei Amazon ließen mich bereits befürchten, dass mir dieses Buch wohl nicht gefallen dürfte) habe ich dem Buch eine Chance gegeben, weil mich einfach interessiert hat, was für eine Geschichte die Autorin Beate Maly aus jenem historischen Geschehnis, das als "Raub der Stephanskrone" in die Geschichte eingegangen ist, gemacht hat bzw. was für eine Geschichte sie darum gebastelt hat.
Sie verweist übrigens im Buch selbst auf die Hauptquelle zum "Raub der Stephanskrone", Helenes Bericht darüber, dies einerseits im Nachwort, wo sie dessen Lektüre empfiehlt und andererseits auch im Buch selbst, wo Helene beschließt, ihre Abenteuer für die Nachwelt aufschreiben zu lassen, aber gleich meint, dass sie einiges weglassen wird. Sollen damit die wesentlichen Abweichungen von der historischen Quelle (und von den Informationen dort ist wirklich fast nichts im Roman zu finden) erklärt werden?
Jedenfalls wird so von der Autorin vermittelt, dass sie die "wahre" Geschichte geschrieben hat, die dieser Quelle zugrundeliegen könnte. Doch leider erfährt ihre weibliche Hauptfigur dadurch gleich einmal eine wohl unbeabsichtigte Abwertung. Bei einem Vergleich Buch und Quelle entsteht nämlich der Eindruck, dass die historische Helene eine ziemliche Angeberin gewesen ist, denn im Roman ist sie im Gegensatz zu ihrer eigenen Erzählung in erster Linie nur die brave und treue Dienerin, die sich zum Mitmachen bei einem heiklen historischen Coup verleiten lässt.
Eine Sicht, die sich übrigens auch mit der des Historikers Franz Theuer deckt. Er geht in seinem Buch "Der Raub der Stephanskrone" aus dem Jahr 1994 davon aus, dass der "Kronenraub", die "Handschrift" des Grafen Ulrich II. von Cilli (dem Cousin von Königin Elisabeth) trägt und von ihm ausgeführt wurde. Theuer begründet das damit, dass Elisabeth und Helene als Frauen zu einer solchen Unternehmung sicher nicht selbst imstande gewesen sein können.
Sowohl bei ihm als auch bei Maly bedarf es also doch eines Mannes, der Geschichte macht, wobei die Frau auf die untergeordnete Rolle der Hilfskraft beschränkt ist.
Für mich stellt sich die Frage, warum Maly nicht gleich auf diesen Grafen Ulrich zurückgegriffen hat, da er in den "Denkwürdigkeiten" eine keineswegs unwichtige Rolle spielt. Aber offensichtlich erschien ihr ein fiktiver Liebhaber der Königin als Ideengeber und Ausführender, der nebenbei in Helene ein wenig verliebt ist, viel interessanter.
(Der verrückte Name dieses fiktiven Grafen soll wohl selbst begriffstutzigen Leser/innen deutlich machen, dass er der wirkliche Vater von Ladislaus Postumus [den Jungen, für dessen Krönung die Krone "geraubt" wird] ist.)
Ganz anders wirkt die historische Helene in ihrem eigenen Bericht, hier ist sie dagegen eine Frau mit Eigeninitiative, Planungsvermögen und Tatkraft. Sie übernimmt von der Königin den Auftrag und kümmert sich dann selbst um die Planung und Durchführung. Die Männer, die ihr bei dem Einbruch helfen (ihre Namen hat sie uns nicht überliefert) führen dabei jene Aufgaben aus, die sie selbst nicht übernehmen kann, wie z. B. das Auffeilen der Türschlösser, und sie werden von ihr dafür gewonnen.
In Helenes Bericht zeigt sich übrigens wieder einmal, dass das Leben noch immer die besseren Geschichten schreibt, denn ihre "Denkwürdigkeiten" erzählen eine spannende, auch psychologisch interessante Geschichte, in der Leser/in außerdem noch viel über den Alltag im königlichen Frauenzimmer im Spätmittelalter und andere Lebensbereiche erfährt.
Helenes Bericht erfüllt also bereits alle Anforderungen, die die meisten Leser/innen heute von einem gelungenen historischen Roman erwarten. Da ist es wirklich nur schade, dass Maly für ihren Schluss nicht gleich ihre Quelle adaptiert hat, sondern diese durch eine klischeelastige 08/15-Actionstory (inklusive fiktiver Verfolgungsjagd) ersetzt. Diese von Maly erfundene Story, wirkt (auf mich jedenfalls) im Vergleich zu dem, was uns Helene selbst darüber erzählt, langweilig und auch etwas billig.
Nun gut, vielleicht erwartet das der Buchmarkt, aber ich kann mir nicht helfen, bei den "Denkwürdigkeiten", die immerhin schon fast 600 Jahre alt sind, habe ich mehr mitgefiebert, wenn Helene z. B. für den Einbruch in die Schatzkammer der Plintenburg ein zweites Mal Kerzen beschaffen muss (ohne dass irgendjemand Verdacht schöpft), nachdem die bereits beschafften Kerzen dummerweise verschwunden sind, oder während die Schlösser aufgefeilt werden, bei jedem Geräusch zusammenzuckt, weil sie berechtigte Angst hat, dass jemand von der Wache die Geräusche auch hören könnte.
Ähnliches gilt auch für die Figurenzeichnung: die historische Elisabeth mag nach Helenes "Denkwürdigkeiten" tatsächlich eine launenhafte Person gewesen sein, aber so wie das in den "Denkwürdigkeiten" rübergebracht wird, wirkt es viel subtiler. Davon abgesehen aber wird in den "Denkwürdigkeiten" eine Frau gezeigt, die aus ihrer Zeit heraus durchaus nachvollziehbare Motive für ihr Handeln hat, wenn sie versucht, ihrem Sohn das Erbe zu sichern, soweit ihr das möglich ist.
Maly dagegen bedient das (übrigens nicht erst für das 21. Jahrhundert typische) Zerrbild einer Rabenmutter, die von ihrem Machthunger und ihren Launen bestimmt wird.
Dass Elisabeth "Liebhaber" hat, dürfte allerdings im Roman weniger dazu dienen, sie als miesen Charakter / moralisch-zweifelhafte Figur zu zeigen, als ihren Ehemann, den späteren König Albrecht II. zu einer lächerlichen Figur zu machen.
Wie wenig Mühe sich Maly bei der Gestaltung ihrer historischen Figuren gemacht hat, zeigt sich z. B. an der Nebenfigur dieses Habsburgers, der nicht nur eine farblose Karikatur ist, sondern natürlich auch durch die "Habsburger-Lippe" entstellt wird, offensichtlich weil das halt das "Habsburger"-Klischee ist, das heute um jeden Preis verwendet werden muss. Dumm nur für Maly, dass es keineswegs bewiesen ist, dass er diese "Lippe" tatsächlich hatte, nach einigen sehr verbreiteten Theorien kann er sie schon aus genealogischen Sicht gar nicht gehabt haben.
Ein anderes Beispiel: Die Mutter der Königin Elisabeth wird stets als Barbara von Chilli bezeichnet, eine komische Schreibweise für die Grafen von Cilli / Celje [in zeitgenössischen Quellen auch Cili], die mir noch nie untergekommen ist.
Was Maly mit einem zur Abwechslung wirklich subtilen Detail dagegen recht gut gelungen ist: zu zeigen, dass ihre Königin Elisabeth als Herrscherin eine Niete ist. War das von ihr beabsichtigt?) Eine gute Herrscherin sollte z. B. über die Länder, über die sie herrscht oder herrschen will, ein wenig informiert sein. Malys Elisabeth aber, als Ehefrau Albrechts längst Markgräfin von Mähren, träumt noch immer davon, einmal Königin von Böhmen, Ungarn und Mähren zu sein. Sie weiß also im Roman nicht einmal über ihre Positionen Bescheid (bzw. weiß nicht einmal, dass dieses Mähren eben kein Königreich, sondern nur eine Markgrafschaft ist).
Dass Malys Königin Elisabeth durchaus das Potential zu einer interessanten Romanfigur gehabt hätte, zeigen einige Ansätze zu Beginn des Romans (z. B. ihre Einsamkeit und ihre Sehnsucht nach einer wirklichen Freundin). Wirklich schade, dass Maly die letztlich nicht weitergeführt hat, wie überhaupt der Roman einen recht vielversprechenden Anfang gehabt hätte, der im Verlauf der weiteren Handlung nicht fortgesetzt wird.
Gegen diese fragwürdigen Figuren, die - so ein Zufall! - aus der Oberschicht sind, gibt es die netten (fiktiven) Figuren aus unteren Schichten wie die liebe, fürsorgliche Köchin Anna oder die tapfere und brave Hebamme. Helene ist zwar eine Adelige, aber zumindest nicht aus dem Hochadel.
Selbstverständlich die die Heldin Helene, über deren tatsächliches Aussehen nichts bekannt ist, auch keine graue Maus, sondern eine hübsche Frau mit Augen, deren Schönheit und Farbe immer wieder beschrieben werden. Anders als die Rabenmutter Elisabeth ist Helene eigentlich eine gute Mutter, aber durch ihre erste Ehe mit einem gewalttätigen Menschen leider schwer traumatisiert. Zum Glück gibt es den sympathischen Johann Kottanner, der sich als ihr Mister Right entpuppt, ein herzensguter Mensch, ein verständnisvoller Ehemann und Partner und ein guter Vater, und nebenbei der tüchtige Mann aus der Unterschicht, der sich mit eigener Leistung empor gearbeitet hat - der Traummann per Excellence. Da bedarf es tatsächlich Helenes Trauma durch die erste Ehe, dass Leser/innen überhaupt verstehen können, warum Helene nicht sofort begreifen kann, dass sie mit diesem Johann doch wirklich das große Los gezogen hat.
Johann hat übrigens keine Einwände, dass Helene bei der Königin im Dienst ist, aber diese beginnt in der Geschichte selbst zu kapieren, dass ihr Platz nicht dort, sondern an seiner Seite ist, was wiederum ideal zum Frauenbild der Fünfzigerjahre des 20. Jahrhunderts passt, das Helene offensichtlich vermitteln soll: Ehefrau, Mutter, Hausfrau.
Bleibt noch die Stadt Wien als historischer Hauptschauplatz - Maly lebt in Wien, und das Wien, das sie zeigt, wirkt auf den ersten Blick sehr vertraut, eben das Wien der Gegenwart. Als Stadt im Spätmittelalter hat mich dieses Wien aber nicht überzeugt, und ein paar Versatzstücke wie die Erwähnung der Bauhütte von St. Stephan können diesen Eindruck nicht wirklich beheben.
Ob die römischen Ausgrabungen am Hof und am Michaelerplatz damals schon sichtbar waren und ob sie die Bewohner/innen von Wien in diesem Fall als römische Ausgrabungen wahrgenommen hätten? (Das versuche ich zurzeit zu eruieren, und ebenso, ob es die Maronibrater damals schon gegeben hat.)
Die Wollzeile, damals Wollzeil, die Maly vorkommen lässt, hat es bereits gegeben, sie entsprach aber keineswegs der Straße, die wir in Wien heute als Wollzeile kennen. Eine Weihburggasse hat es dagegen um 1440 noch nicht gegeben, damals hieß die Gegend noch "Weiherburg/en. Nun, wenigstens erleichtern heutige Straßennamen die Orientierung.
Das Problem mit Malys spätmittelalterlichen Wien ist sicher, dass es als ziemlich menschenleere Stadt rüberkommt und mich schon deswegen nicht wirklich überzeugt. Dabei war Wien im 15. Jahrhundert nach Blick in das Fachbuch von Opll und Csendes eine Metropole, wichtiger Handelsplatz und eine der wichtigsten Städte im damaligen Herzogtum Österreich ob und unter der Enns, eine pulsierende Metropole, wie wir heute sagen würden.
Auch sonst ist es in Malys Roman um die historische Genauigkeit nicht allzu gut bestellt.
Das Gebiet des Herzogtums Österreich z. B., dem Land, zu dem Wien damals gehört hat, umfasste zu dieser Zeit nur Teile der heutigen Bundesländer Oberösterreich und Niederösterreich in der Republik Österreich.
Die Hauptstadt der österreichischen Kronländer, als die Malys Helene diese Stadt Wien kennt, war das damalige Wien noch nicht, aus einem einfachen Grund, da es eine Hauptstadt von österreichischen Kronländern und österreichische Kronländer nämlich im 15. Jahrhundert noch gar nicht gegeben hat. (Die Kronländer des Habsburgerreiches entstanden erst Jahrhunderte später als Folge einer Verwaltungsreform, in einer ganz anderen Zeit und in einer ganz anderen Welt.)
Interessant ist auch, dass Wien im 15. Jahrhundert gerade für seinen Weinhandel bekannt war. (Wien gilt als die einzige Großstadt, die durch den Weinbau entstanden ist :grin.) Der Export von Wien war damals eine der wichtigsten Einnahmequellen der Wiener/innen, vielleicht sogar die wichtigste Handelsware und gerade die Weinlese und der Handel mit Weinen führten immer wieder zu Konflikten mit der Landesherrschaft. Sehr befremdend daher, wenn Malys Helene jedoch überrascht, dass es in Wien überhaupt gute Weine gibt.
Leider - auch das mittelalterliche Wien, das Maly zeigen will, kann nicht wirklich überzeugen. Für Personen, die sich mit dem mittelalterlichen Wien beschäftigt haben, ist dieses Wien leider nur eine Zumutung.
FAZIT:
Die Anzahl der Sterne hängt bei mir davon ab, wie gut ein Roman innerhalb des Genres abschneidet, in dem er vermarktet wird.
Die Geschichte von Helene mit den "ungewöhnlichen, blauen Augen" und ihrem Johann überzeugt als seichter Frauenroman (trotz einer letztlich doch sehr altmodischen Gender-Darstellung) und würde als solcher wohl doch 4-5 Sterne verdienen.
Da "Der Raub der Stephanskrone" allerdings als historischer Roman vermarktet wird und als solcher nicht einmal ansatzweise überzeugt (zumindest für Menschen, die sich gute Geschichtskenntnisse erarbeitet haben) reicht es nur für 1-2 Sterne, denn der historische Hintergrund und die Darstellung von Wien um 1440 sind nicht wirklich gelungen, und die Umsetzung der Handlung und die Figuren sind zu klischeehaft, um dafür den Ausgleich zu schaffen.