Zitat
Original von Zefira
ist in der Tat psychisch ungesund, aber vermutlich menschlich. Jeder denkt, sein Schicksal sei das Schlimmste auf der Welt und die Nöte seiner Mitmenschen seien Kleinkram.
Witichis' Heldenhaftigkeit bröckelt an dieser Stelle gewaltig. Das habe ich auch bei der Erstlektüre als Kind schon so empfunden. Er mag ein toller Kerl sein, aber in punkto Empathie hapert's.
Dass die Handlungsweise von Witichis und Rauthgundis (psychisch) ungesund sein soll, kann ich nicht nachvollziehen, ebenso dass Witichis Heldenhaftigkeit ab der Ehe mit Mathaswintha bröckelt oder es eine ungesunde Halbheit von ihm ist, ist sie zu heiraten und ihr dann die Brautnacht zu verweigern.
Psychisch ungesund ist (mein Eindruck) nur das, in was Mathaswintha sich hineinsteigert, nachdem sie von zu Hause weglaufen ist, weil sie sich dort ungeliebt und unverstanden fühlt. Dabei trifft sie auf einen ihr gänzlich unbekannten Mann der immerhin nett ist und ihr die Möglichkeit gibt, sich ihre Probleme von der Seele zu reden und dann noch tröstliche Worte für sie findet. Diese Freundlichkeit reicht aus, dass das halbwüchsige Mädchen ihn zum Mann ihrer Träume verklärt und sich in die Wahnvorstellung hineinzusteigern beginnt, dass er und kein anderer für sie bestimmt ist. Dabei kennt sie zunächst weder seinen Namen noch weiß sie irgendetwas Konkretes über ihn (und vom Alter könnte er sogar ihr Vater sein). Mathaswintha läuft also zunächst einem Phantom nach. Jeglicher Vernunft ist sie unzugänglich, und daher blendet sie alles aus, was nicht in ihr Traumbild passt. (Siehe die Weissagung, be der sie alle Details ausblendet, die nicht in ihren Traum passen.) ausgeblendet. Als sie schließlich gezwungen ist, der Realität ins Auge zu sehen, kann sie das nicht ertragen und steigert sich in eine weitere Wahnvorstellung hinein: Er soll es büßen, und dabei ist ihr vollkommen gleichgültig, wenn auch andere (unschuldige) Menschen deswegen leiden oder sterben müssen. Unglücklicherweise ist sie eine Romanfigur und sie erhält Möglichkeit ...
Was kann Witichis wirklich vorgeworfen werden?
- Dass er zu viel Verantwortung oder Mitgefühl hat, um ein halbwüchsiges Mädchen, das gerade von zu Hause weglaufen will, nicht einfach sich selbst überlässt ...
- Dass er als Gefolgsmann von König Theoderich, also aus beruflichen Gründen, nicht ständig zu Hause bei seiner Familie sein kann. (Das kommt auch in der Realität gar nicht so selten vor.)
Kritischer sieht es schon damit aus, dass am Hof niemand (außer Teja) weiß, dass er eine Familie hat, bzw. dass er seine Frau nicht an den Hof holt. Allerdings ist das nicht (psychisch) ungesund, es entsteht nur der Eindruck, dass Witichis sich für seine Familie schämt, was gerade, weil er ein Aufsteiger ist, ein schiefes Licht auf seinen überaus positiven Charakter werfen könnte. Dem versucht Dahn natürlich entgegen zu wirken, also gibt es Erklärungen, dass Rauthgundis z. B. nicht an den Hof will und Witichis Rücksicht auf Theoderich als seinen Herrn / Arbeitgeber zu nehmen hat und deswegen nicht einfach die Hand der Königsschwester ablehnen konnte, mit der Begründung, dass er dieser Ehre ein einfaches Mädchen vorzieht bzw. vorgezogen hat.)
(Ich vermute, dass für das 19. Jahrhundert diese Erklärungen durchaus nachvollziehbar waren. Aus heutiger Sicht sind sie allerdings fragwürdig.)
Allerdings finde ich auch aus heutiger Sicht nicht, dass Witichis' Verhalten hier (psychisch) ungesund ist. Lediglich seine Rolle als überaus nobler Charakter wird dadurch, dass er sich nicht offiziell zu seiner Familie bekennt, wird dadurch beeinträchtigt.
Der Umstand, dass Teja übrigens darüber Bescheid weiß, wie auch das Gespräch zwischen ihm und Witichis bei der Krönung von Theodahad, wirft natürlich auch ein Schlaglicht auf die Beziehung der beiden, vor allem, wenn wir uns an die Anfangsszene erinnern. Zudem wird hier noch einmal deutlich, dass Teja jemand ist, dem tatsächlich vertraut werden kann.
Was die Ehe mit Mathaswintha betrifft, verlässt sich Dahn nicht einfach auf den Bluteid. Der mag zwar ausschlaggebend sein, dass Rauthgundis von sich aus der offiziellen Trennung zustimmt, damit Witichis den Eid nicht brechen muss, aber Witichis wird auch in eine Lage gebracht, in der er ihm sein Pflichtbewusstsein keine Wahl lässt.
Fünf Minuten vor zwölf, der Feind hat bereits erfolgreich mit der Eroberung begonnen, Handeln ist dringend notwendig, doch dazu bedarf es einer Regierung, die handlungsfähig ist und alle hinter sich hat. Witichis ist bereit, auf die Krone, die er ohnehin nie haben wollte, zu verzichten und schlägt selbst vor, dass Graf Arahad von Asta Mathaswintha heiraten und die Führung übernehmen soll. Arahad mag zwar unerfahren sein (und dass er, als sie Witichis heiratet, den Tod sucht, lässt ihn sehr unreif erscheinen), doch ist er keineswegs so negativ dargestellt, dass er als König eine absolute Katastrophe sein müsste, und mit einem Witichis an seiner Seite, auf dessen Ratschäge er hört, hätte das vielleicht sogar funktionieren können.
Die Goten, die Witichis gewählt haben, sind jedoch nicht bereit, Arahad als König zu akzeptieren. Damit ist die Ehe zwischen Witichis und Mathaswintha tatsächlich die einzige Lösung, die für alle tragbar scheint, nachdem sogar Arahads Bruder, Herzog Guntharis, zu dieser bereit ist und damit seine persönlichen Ambitionen zurückstellt. Dahn gestaltet also für Witichis ein Dilemma. Entweder muss er seine Frau aufgeben oder die Goten im Stich lassen - in jedem Fall muss er eine seiner Pflichten verletzen. Verschärft wird das Ganze noch durch den Tod von seinem Sohn, der ermordet wird, weil jemand Witichis die Krone neidet. In dieser ohnehin schon schrecklichen Lage soll Witichis also auch noch seine Frau im Stich lassen / aufgeben, die er noch dazu liebt und die sich auch nichts zu schulden hat kommen lassen, sodass ihre Verstoßung irgendwie gerechtfertigt wäre,
Auf der anderen Seite hat Witichis seiner Wahl zum König zugestimmt, und damit die Pflicht übernommen, für seine Leute da zu sein, die ihm durch die Wahl zum König ihr Vertrauen ausgesprochen haben. Kann er sich da einfach mit Rauthgundis in die Berge flüchten, etwa nach dem Motto: Hinter mir die Sintflut - Hauptsache, ich bin weg.
Witichis entscheidet sich also, nicht zuletzt, weil ihn Rauthgundis selbst dazu drängt, für seine Pflichten als König, trennt sich offiziell von ihr und heiratet Mathaswintha. Dem hat er zugestimmt, und diese Abmachung erfüllt er. Allerdings erfordert die politische Lage nicht, dass er mit Mathaswintha unbedingt Kinder zeugen muss, also besteht kein Zwang für ihn, mit ihr auch schlafen zu müssen. (Womit er im Grunde Rauthgundis trotz allem auch weiterhin treu ist.)
Abgesehen davon, dass er nicht mit Mathaswintha schlafen will, ist er allerdings bereit, seinen Pflichten als Ehemann nachzukommen, sie zu achten und zu ehren. (Bei seinem Charakter war auch nicht zu erwarten, dass er an ihr seinen Frust auslassen oder gar in ihr die Schuldige an der ganzen Situation sehen würde.)
Für unsensibel halte ich ihn nicht. Eigentlich versucht er doch nur in schwieriger Lage, soweit es möglich ist, allen Anforderungen an ihn nachzukommen, also seinen Verpflichtungen gegenüber seiner richtigen ersten Ehefrau, seiner offiziellen zweiten Ehefrau und seinem Volk, nachdem er die Königswahl angenommen hat. Dass er Mathaswintha gegenüber ehrlich ist und ihr gegenüber keine Gefühle vortäuscht, die er nicht hat, spricht eigentlich für ihn.
Was ihre Gefühle für ihn betrifft, ist er außerdem ahnungslos? Immerhn ist sie eine noch sehr junge und auch schöne Frau, und vom Alter her könnte er ihr Vater sein, was vielleicht auch nicht übersehen werden sollte. Warum sollte er da annehmen, dass sie an ihm als Mann Interesse hat. Außerdem ist er eindeutig nicht als der Typ Mann dargestellt, bei dem klar ist, dass sich jede Frau in ihn verlieben muss ...
Das einzige, was ich ihm vorwerfen würde, ist, dass er Mathaswintha nicht die Möglichkeit gelassen hat, ihm ihre Sicht der Dinge zu erklären und sie, wie ein unmündiges Kind behandelt. (Aber das hat er auch zu büßen.)
Was die gängigen Heldenklischees betrifft, so gelingt es Dahn immerhin mit der Figur Witichis (die braunen Haare hat er wohl nicht zufällig ) eine Gegenfigur zu den Figuren des Totila und Teja zu schaffen. Er ist eindeutig kein strahlender Held (für diese Rolle ist auch viel zu alt), er ist aber auch kein dunkler Held, nicht zufällig wird er zunächst auch als glücklicher Ehemann und Vater gezeigt, er ist derjenige, der durchaus Verständnis aufbringt und selbst Negativfiguren gegenüber Wert auf Fairness legt.
Doch ausgerechnet seine guten Eigenschaften werden ihm zusammen mit dem, was Theodahad und Amalaswintha getan haben, letztlich zum Verhängnis.
Witichis ist sozusagen der tragische Held.
Mit Mathaswintha, einer stark introvertierten Frau, die rote Haare hat, bedient Dahn ein weiteres Klischee, die Femme fragile, die den Männerfiguren, die an sie geraten, zum Verhängnis wird. Ein Gote Arahad sucht den Tod, als er sie nicht bekommt,
ein Byzantiner (Grieche) Germanus, der sie heiraten will und in sie ebenfalls verliebt ist, stirbt, als er ihr Grab besucht an einer Herzschwäche,
und dem Mann, den sie selbst liebt, wird sie ebenfalls zum Verhängnis.
Abschließend möchte ich noch eines klarstellen. Auch wenn ich Mathaswintha hier relativ hart beurteile, ist es keineswegs so, dass ich finde, dass sie eine ausschließlich negative Figur ist, und das dürfte auch nicht die Absicht des Autors gewesen sein. Immerhin hätte er sie auch als verzogenen Fratz zeigen können, der nicht ertragen kann, dass er einmal etwas nicht bekommt, und daher sämtliche Leute ins Unglück stürzt. Stattdessen gibt er ihr Geschichte, die ihr späteres Handeln zumindest verständlich macht. Es ist nachvollziehbar, dass sie in diese unglückliche Phantomliebesgeschichte gerät
, und spätere Handlungen werden auch dadurch abgemildert, dass sie zum Schluss zeitweise wahnsinnig zu sein scheint.