Beiträge von Swansea

    Tolles Grundkochbuch für alle Lebenslagen


    "Mach's lecker!" von Tim Armann (UT "Der Anfang von richtig gutem Essen") erschien (HC, geb., 223 Seiten) 2024 im dk-Verlag, München.


    Die Idee des Autors und seinem Team, das das Entstehen dieses wirklich tollen Kochbuchs, das nicht nur mit leckeren Rezepten, sondern auch mit vielen basics und Wissen sowie Tipps und Kniffen punktet, gefällt mir sehr! Manchem ist Tim Armann bereits ("Brot mit Ei") durch soziale Medien wie tiktok, youtube und instagram bekannt. In dem er sein Wissen mit anderen teilt und dies hier in einem Buch vorstellt, ist er der Überzeugung dass jeder kochen kann und will dazu Inspirationen geben, auch Ungeübten und noch-nicht-Köchen, in die Küche zu gehen und loszulegen - in diesem Zusammenhang finde ich die Unterteilung der drei Schwierigkeitsgrade sehr gut. Der Autor gibt Interessantes über Geschmack, Geschmacksaufbau weiter, nennt erforderliche Küchenutensilien, hilft dabei, clever einzukaufen und zu bevorraten bis hin zu Kühlschranktipps und Garmethoden als Basics, die ich so auch selten in einem Kochbuch sah und besonders hilfreich für newbies sein dürften, die unter gewissen "Schwellenängsten" an Küchentür und besonders am Herd leiden - hier schafft Tim Armann Abhilfe!


    Die verschiedenen Kategorien bestehen aus Brühen & Saucen; Vorspeisen und Snacks; Veggie, Pasta, Fleisch, Seafood, Backen, Süßes und Flavour Hacks.


    Die leckeren, abwechslungsreichen Gerichte und Rezepte sind step-by-step gut erklärt und dadurch sehr gut nachzubereiten, tolle Fotos dazu liefert Annika Krüger, die einem das Wasser im Munde zusammenlaufen lassen und Lust weckt, selbst in die Küche zu eilen... Folgende Gerichte gehören ab sofort zu unseren Lieblingsrezepten:


    - Hummus mit Ei; Baba Ganush (leckerer Dip), grüne Shakshuka, Blumenkohl Levante-Style, Pfannen-Camembert, Kräuterravioli, Boeuf bourguignon, Moules frites und Fladenbrot aus der Pfanne (mit Öl-Kräuter-Dip, sagenhaft lecker!). Auch der Karottenkuchen und die Zimtschnecken à la Tim Armann werden demnächst ausprobiert, genauso wie der French Toast.


    Das Tüpfelchen auf dem 'i' sind die Flavour Hacks, fantastisch! (Knobiöl, Kräuter- und Zitronenbutter z.B.) und besonders genial fand ich die Aufteilung nach Themen am Buchende nach Themen zu Anlässen und den entsprechenden Rezepten von Brunch, erste Rezepte, 'macht Eindruck' bis zur Kaffeetafel. Auch das Register am Ende des Kochbuchs lässt die Lieblingsrezepte schnell wiederfinden.


    Fazit:


    Ein lässiges, leckeres und unglaublich übersichtliches Grundkochbuch für alle, die mutiger in der Küche werden wollen. Sehr strukturiert, gut erklärt, auch für Küchen-newbies! Meine Empfehlung; ganz besonders vielleicht "einem, der auszog und sich nun selbst mit dem Herd konfrontiert sah" - aber auch geübteren Köchen und Köchinnen. Von mir die Bestnote und 5*


    ASIN/ISBN: 3831049300

    Wundervolles Plädoyer für ein Leben in Gemeinschaft


    "Wohnverwandtschaften" von Isabel Bogdan (HC, geb., 272 S.) erschien 2024 im KiWi-Verlag, Köln. Ich kannte die Autorin bereits von ihren hervorragenden Übersetzungen her (Jane Gardam) und dem drollig, witzigen Roman "Der Pfau". Mit diesem neuen Roman hat sie sich nun endgültig in mein Herz (auch für WG's, in denen auch ich in StudentInnenzeiten gerne lebte) geschrieben.


    "Jörg ist bei uns das Mehl, die Trägermasse, ohne ihn geht gar nicht. Vielleicht bin ich das Wasser, ich halte den Teig geschmeidig. Ich glaube, Anke ist die Eier, sie macht ihn fluffig und nimmt die Klebrigkeit raus. Mit Eiern ist schon super, und wir haben zu dritt ja auch wunderbar funktioniert, aber seit Constanze da ist, sind wir was Besonderes. Constanze ist die Kräuter. Das werden die besten Spätzle ever." (Murat)

    Quelle: Buchrückentext


    Besser kann man die vier sehr sympathischen Bewohner der WG, die sich von einer Wohngemeinschaft eher zu einer Wohnfamilie mausert, nicht beschreiben: Da ist Jörg (68), dessen Frau verstarb und der nicht alleine wohnen wollte. Weshalb Murat (um die 30) und Anke (Ü50) bei ihm einziehen konnten (und damit wieder "Leben in der Bude war, was Jörg sehr mag). Zu diesen Dreien gesellt sich, so beginnt dieser wirklich schöne, herzergreifende Roman nun auch Constanze (35), die sich von ihrem Lebensgefährten Flo trennte und auf die Schnelle als Übergangslösung in die bestehende Wohngemeinschaft einzog: Im Romanverlauf stellt sie vergleichend fest, dass dies viel eher ihrer Lebensart entspricht und die WG wird mehr und mehr zu ihrem Zuhause, das sie nicht mehr missen möchte.


    Hierfür könnte es vielerlei Gründe geben: Murat, ein starker, kluger und lebenslustiger junger Mann, der auch sehr empathisch ist und "ein zuverlässiger-in-den-Arm-Nehmer" und "zum Lachen Bringer" (Anke) kocht gerne für die ganze WG (sein Lieblingsspruch, auch wenn andere kochen) "Boah, riecht das geil!" 'durchzieht' von Zeit zu Zeit den Roman und brachte mich zum Lachen (und erinnern, da ich alle 11 Tage für 11 Leute bzw. 2 WG's kochen musste; an den übrigen 10 durfte ich mich an den Tisch setzen ;-). Murat liebt seinen Garten, aus dem er das zaubert, was wenig später auf den Tisch kommt und erfreut sich an allem - ja am Leben selbst. Wir begleiten ihn zu seiner Hobby-Fußballmannschaft, seinen 'Habibis' und feiern mit ihm Geburtstag, da er Gäste liebt (ebenso wie Jörg). Einmal zeigt der lebensfrohe und stets gutgelaunte, andere aufrichtende Murat auch eine Schwäche (auf der Hollywoodschaukel bei Constanze, die die WG seiner Meinung nach erst komplett machte) und ist mir deshalb umso sympathischer.


    Ebenso wie die anderen; Constanze, Zahnärztin mit Klavier, das eigentlich zu groß für ihr Zimmer ist und sie daher lange Zeit mit einem blauen Fleck am Bein herumläuft; Anke,Schauspielerin, die als über 50Jährige kaum Aussichten auf eine Rolle hat, jedoch am Romanende auf goldenen Boden fallen sollte und Jörg, der mit Mathias eine Reise in seinem alten Bulli nach Georgien unternehmen möchte, zuvor aber noch "sich selbst und den Bulli durchchecken lassen will". Nach einer Operation im Sommer wundern sich alle, dass Jörg noch immer (und immer öfter) "verpeilt" wirkt, auch wenn dessen Sohn lapidar meint, dass sein Vater schon immer etwas 'verpeilt' gewesen ist. Eine beginnende Demenz nimmt Formen an, die alle noch enger zusammenrücken lässt und offen beratschlagen, was nun am besten zu tun sei. Die auch alle an ihr persönliches Limit bringt, besonders Anke, die oft bei Jörg bleibt, weil alle ihn nicht mehr alleine lassen mögen. Bei einem Essen (georgisch) muss Sebastian, der in Südfrankreich mit Familie lebende Sohn, erkennen, wie es um seinen Vater steht.... Kann die Wohngemeinschaft, die sich längst zu einer Wohnfamilie entwickelte, bestehen bleiben oder muss jeder nochmal den Wegweiser des Lebens neu setzen? (Angebote gibt es, der Ausblick ist positiv, selbst für Anke).


    Berührend in dieser Frage ist das Weihnachts- und Silvesterfest, das alle gemeinsam feiern, sich auf dem Sofa zusammenkuscheln, während Jörg mit Alien, dem Hund schmust: Sie möchten "sich festhalten, möchten Jörg festhalten, möchten das Leben festhalten und das Scheißlametta." (Zitat S. 266)


    Der Stil Isabel Bogdans ist klar und schnörkellos; stellenweise sehr humorvoll und die Figuren sind überaus sympathisch, dabei so fein gezeichnet, dass sie fast real wirken (manche würde die Zusammenkunft solch' liebevoller Figuren vielleicht sogar etwas idealistisch sehen können). Aber gibt es nicht Lebenslagen, Situationen, die das Beste in uns herauskitzeln können? Daran glaube ich fest und habe Jörg, Murat, Anke und Constanze sehr gerne durch eine gewisse Zeit in der WG, pardon Wohnfamilie, begleitet und sie näher kennengelernt. Tiefgang war hier auch nicht zu vermissen, trotz des humorvollen Untertons, für den schon Murat oft sorgte (was ebenfalls eine Geschichte hat).


    Fazit:


    Ein humorvoller, warmherziger und lebenskluger Roman mit viel Tiefgang. Schnörkellos und klar geschrieben mit sehr sympathischen Figuren, die die Wohnfamilie bevölkern: In der einer für den anderen einsteht; Gemeinsinn vorhanden ist (besonders im letzten Romandrittel, der von einem ernsten Thema durchdrungen ist). Ein Plädoyer für Mitmenschlichkeit und die Wohnformen des Zusammenlebens, in der auch die sog. "Lavendelehe" wieder Einzug hält. Wofür bereits die Miet- und Lebenshaltungspreise sorgen könnten.

    Meine absolute Leseempfehlung an alle früheren, jetzigen und zukünftigen WG-BewohnerInnen für die Geschichte dieser ganz besonders sympathischen Wohnfamilie und ein dankeschön an die Autorin - es wäre nicht verkehrt, würde es viele Murats, Ankes, Constanzes und Jörg's geben :D 5* von mir!

    "Schwestern im Geiste" von Marie Pierre ist der zweite Teil der geplanten Trilogie um das "Pensionat an der Mosel". Wie bereits der Vorgänger hat mir auch dieser Roman sehr gefallen und um einige historische Informationen der Grenzregion, der auch ich entstamme, bereichert. Mit der heutigen "Großregion SaarLorLux", in die ich vor fast 20 Jahren zurückkehrte, spürt man das Besondere, dass man vom Nachbarn Frankreich und auch Luxemburg nicht sehr weit entfernt ist, sondern beide Länder, besonders das Département Lothringen, nun der Region 'Grand Est' angehörend, einen Katzensprung entfernt ...


    Der Roman erschien (tb, brosch., 557 Seiten) 2024 im Heyne-Verlag (Verlagsgruppe Penguin Randomhouse) und an den eigentlichen Romanteil schließen sich ein informatives Nachwort, eine Karte von Thionville/Diedenhofen ein Glossar und Reisetipps zur Region nebst einer Aufzählung der wissenschaftlichen Beratung an. Besonders schätze ich an den Romanen von Marie Pierre/Maria W. Peters die qualifizierte und genaue Recherchearbeit, die ihre Romane für mich zu etwas ganz Besonderem machen.


    Thionville/Diedenhofen, 1911:


    Zwischen Pauline Martin und dem preußischen Hauptmann Erich von Pliesnitz hat sich eine tiefe Freundschaft entwickelt. Auch wenn Pauline sich manchmal nach ihm sehnt, ist eine Liebesbeziehung für sie als Lehrerin undenkbar. Noch stärker als zuvor konzentriert sie sich auf ihre Schützlinge und stellt eine zusätzliche Lehrkraft ein. Rhona O'Meally soll ihren Schülerinnen nicht nur die englische Sprache, sondern auch die irische Kultur näherbringen. Rhona sorgt für frischen Wind, hat jedoch ein gefährliches Geheimnis. Als es im Pensionat zu Diebstählen kommt und in Diedenhofen vermehrt antipreußische Schmierereien auftauchen, gerät Pauline selbst in Verdacht. Die politischen Spannungen verhärten sich, in der Moselstadt und in ganz Europa. Und Pauline muss kämpfen. Für alles, was ihr wichtig ist.

    (Quelle: Buchrückentext des Verlages)


    Wie im ersten Band der Reihe sind hier politische Ereignisse in den Kontext eines von Pauline geführten Mädchenpensionats hervorragend eingewebt. Das preußische Militär hat die Grenzregion besetzt und nicht jeder Lothringer ist ein Freund der Deutschen. Pauline jedoch stellte bereits des öfteren fest, dass Erich von Pließnitz, ein preußischer Hauptmann, sein Herz am rechten Fleck hat und ihr sowie ihrem Pensionat beisteht, sollte der Schatten eines Verdachts auf sie und ihr resolut, aber auch untadelig geführtes Institut fallen. Dieses Mal in Form von üblen Schmierereien an den Wänden einer Kaserne und in Form von Diebstählen im Pensionat. Dieser Umstand lässt eine Spannung erwachsen, die sich gegen Romanende noch steigert und man schmunzelnd darüber liest, wie Erich zu Hilfe eilt und dennoch in seiner preußischen Militärrolle festzustecken scheint (er ist ansonsten der Welt der Frauen nicht zugetan und Pauline bildet da eine große Ausnahme). Die Ziele von Pauline's Pädagogik sind für die Zeit vor 100 Jahren sehr fortschrittlich und gefallen auch dem Hauptmann: Sie möchte die Mädchen zu Selbständigkeit und kritischem Hinterfragen und Denken anregen, auch die Kultur Lothringens mit ihren Werten ist ihr wichtig. Besonders aber liegt ihr ein friedliches Miteinander am Herzen. Dieses kommt intern zum Wanken, als Charlotte, Tochter aus adligem Hause Esther, ein Mädchen mit jüdischem Familienhintergrund bezichtigt, ihr Sachen gestohlen zu haben. Hier werden gar antisemitische Züge deutlich, die es zu dieser Zeit nicht nur im Mädchenpensionat gab und gegen die Pauline mit all ihren zur Verfügung stehenden Mitteln vorgeht.


    Der Autorin geht es vor allem um die Gefühls- und Denkwelten ihrer ProtagonistInnen, und die Darstellung derselben ist ihr hervorragend gelungen, eingebettet in die politische Situation der Grenzregion vor 100 Jahren und den Spannungen vor dem Ausbrechen des 1. Weltkrieges. Sehr klar wird auch, wie undenkbar es scheint, dass eine lothringische Lehrerin und ein preußischer Hauptmann zusammenkommen könnten, da die gesellschaftlichen Konventionen eine Sprache sprechen, die solcherlei Verbindung absolut unmöglich macht. Dennoch wünscht man sich für Pauline und Erich, die man nach beiden Romanteilen noch fester ins Herz geschlossen hat, nichts sehnlicher als dass dennoch eine Verbindung zustande kommt.


    Begeistert schlägt man nach der Lektüre des Romans und des sehr lesenswerten Nachworts der Autorin mit Querverweisen zur Historie das Buch zu - und freut sich auf den dritten und finalen Teil und darauf, Pauline und Erich wiederbegegnen zu können! Meine Leseempfehlung (nach Band 1 am besten) und 4,5 *

    "Die Geschichte vom zauberbunten Garten" von Andrea Rübben (Text) und Stella Dreis (Illustrationen) erschien (HC, geb., 2024) im Verlag Jupitermond, Würzburg (den man sich durchaus merken sollte).


    Es handelt sich um eine zauberhafte Geschichte mit wundervollen, aquarelliert anmutenden Illustrationen für Kinder ab ca. 7 Jahren, zum Lesen oder Vorlesen geeignet. Gleichermaßen ist es auch ein illustriertes (Bilder)buch, das auch Erwachsene ansprechen dürfte - gerade jetzt im grauen November - und das dem nebligen und tristen Grau leuchtende Farben und Buntheit gegenüberstellt; in dem es um (Nächsten)liebe geht und wie schön es ist, anderen ein wenig Freude ins Gesicht zu zaubern; oft reichen kleine Gesten, um anderen Menschen eine Freude zu bereiten.


    Dem tristen Grau in der großen grauen Stadt setzt eine liebe alte Frau etwas sehr Positives entgegen: Sie besitzt in ihrem Garten am Stadtrand, den sie mit all ihrer Zeit und Liebe hegt und pflegt, ein Blumenmeer und eine Blütenpracht (hier könnte dies als Synonym für Lebensfreude stehen), die schier überzuquellen droht. Daher beschließt die alte Frau, ihre Blumen mit anderen zu teilen. So gibt sie der Nachbarin, dem jungen Vater, einem kleinen Jungen, einer Friseurin und dem Postboten jeweils Blumen, wobei der kleine Junge die Samen sammelt, weil er später selbst solch' einen bunten Garten haben möchte - und der Postbote die Blumen in jedes Haus trägt, zusammen mit den auszutragenden Briefen: So ist es (k)ein Wunder, dass die Stadt nach und nach bunter, heller wird und das Grau mehr und mehr verschwindet.

    Die Illustrationen ergänzen die kurzen Texte auf harmonische Weise, sie wirken heiter und leicht verspielt.


    Fazit:


    Eine schöne, illustrierte Geschichte, die ich als pädagogisch wertvoll erachte, da sie Kindern (und auch Erwachsenen) aufzuzeigen vermag, wie jeder ein wenig Lebensfreude und Liebe verschenken kann, um anderen Menschen eine Freude zu machen. Dass dies auch inspirierend wirken kann und sich ausweitet.

    Oft ist es nicht viel, das unser Leben bunter, schöner und mit mehr Lebensfreude versehen macht; Blumen, Farben und Liebe sowie an andere zu denken, gehören auf jeden Fall dazu!

    Man sollte diese Geschichte (für Kinder ab 7 Jahren wie auch für Erwachsene zum Vorlesen geeignet) auch als literarische Aufforderung sehen, seinen Teil dazu beizutragen und mehr Liebe, Freude und Farbe in die Welt zu bringen. Ich kann es mir sogar in der Arbeit mit SeniorInnen vorstellen; da auch hier mehr Licht und Farbe niemals schaden. Meine Empfehlung und 5* für den 'zauberbunten Garten'.



    5*****

    Ein hochherrschaftliches Weihnachtsfest voll bissigen Humors und Situationskomik


    "Schöne Bescherung auf Compton Bobbin" von Nancy Mitford erschien erstmals 1932 (Originaltitel Christmas Pudding); in deutscher Übersetzung wurde der Roman nun erstmals bei Schöffling & Co. (HC, geb., 233 S.) 2024 in Übersetzung aus dem Englischen von Vera Regul veröffentlicht. Da ich eine andere Buchreihe über die Mitford-Schwestern gelesen habe, war hier mein Interesse geweckt. Nancy Mitford (1904-1973) war die älteste von 6 Schwestern, die der Ehe des 2. Baron Redesdale und Sydney Bowles entstammte. Im Gegensatz zu einigen ihrer berühmten Schwestern stand sie dem Faschismus kritisch gegenüber und stellte sich in den Dienst ihres Landes, was sie mir um einiges sympathischer erscheinen lässt als z.B. Unity Mitford, die als Hitler-Anhängerin galt und sich in dessen Umfeld gerne aufhielt.


    Der Gesellschaftsroman von Nancy Mitford, der um die Weihnachtszeit und an den Weihnachtstagen vermutlich Ende der 20er Jahre spielt, nimmt den Leser mit in die schönen Cotswolds, wo Amabelle Fortescue, Ex-Kurtisane und Freundin von Paul Fotheringay, Walter und Sally Montheath, Jerome Field, Michael Lewes (um nur einige zu nennen) ein Cottage namens Mulberry Farm anmietet, um die Weihnachtszeit und den Beginn des Neuen Jahres dort mit ihren Freunden zu verbringen. Das Haus ist in der Nähe von Compton Bobbin gelegen, in dem Lady Bobbin, Mutter von Roderick (Bobby) und Philadelphia Bobbin, das Regiment nach dem Tod ihres Mannes führt. Sie liebt einzig ihre Hundemeute, ist tieftraurig, dass sie wegen einer Maul- und Klauenseuche nicht wie gewohnt zur Jagd gehen kann und schart wie an jedem Weihnachtsfest den Clan der Bobbins um sich, um die Feiertage möglichst fröhlich mit ihnen zu verbringen (was allerdings nicht immer gelingt, was an den zusammengewürfelten, unterschiedlichen Gästen liegen mag). Da sie jedoch die Kosten in einem gewissen Rahmen halten muss, entfallen das Feuerwerk an Silvester und der Champagner: Stattdessen gibt es Bier und Cidre (bis auf die Ausnahme eines kleinen erwählten Kreises, die sich auch in Bobbys Zimmer diverser Cocktails erfreuen können; was auch gerne in Anspruch genommen wird. So nimmt man mit dem Bobbin Clan und im Cottage bei Amabelle Fortescue an den Bräuchen an den Weihnachtstagen teil: Lady Bobbin liebt alle südenglischen und auch deutschen Bräuche, die immer in Anwendung kommen; bei Amabelle geht es lustig zu, denn hier treffen sich (zu Spielen und Gesprächen mit diversen Drinks) Bobby und sein "Hauslehrer" Paul Fotheringay alias Paul Fisher:


    Dieser hat sein Début veröffentlicht, das auch vielgelobt wird - allerdings ganz anders, als der Autor sich dies vorstellte: Sein Werk (Kuriose Kapriolen) war durchaus ernst gedacht, wird jedoch als Schmunzellektüre bei den LeserInnen verbucht, was Paul sehr kränkt. Als Amabelle ihm rät, eine Biografie zu schreiben, fragt er bei Lady Bobbin an, da er die Tagebücher der Vorfahrin und Dichterin Lady Maria Bobbin lesen wolle (über sie gab es bis dato sehr wenig). Da dieses Ansinnen jedoch nicht auf Gegenliebe stößt, müssen sich Amabelle, Bobby und Paul etwas anderes ausdenken....


    Wovon Lady Bobbin nicht die geringste Ahnung hat und so nehmen viele skurrile und mit sehr britischem Humor versehene Begegnungen zu Weihnachten ihren (oft unvorhergesehenen) Lauf: Wir erleben Paul zu Pferd, lauschen manchem Heiratsantrag und sind erstaunt, dass eine der HauptprotagonistInnen selbst letztendlich (nochmal) ans Heiraten denkt. Diese lustigen Episoden bringen immer wieder in den Dialogen einen sehr humorvollen, aber auch hinterfragenden Kontext, der den Leser schmunzeln lässt. Manches fand ich einfach nur köstlich zu lesen und sehr authentisch für die englische Welt der Adligen um diese Zeit, die langsam dem Untergang geweiht war; anderes machte mich auch betroffen, da die Dekadenz so mancher Zeitgenossen nicht zu übersehen bzw. zu überlesen war. Der Ton Nancy Mitfords und ihr Schreibstil gefielen mir sehr, da zwischen den Zeilen eine kritische Autorin nie zu vermissen war und vieles bewusst noch etwas überzeichnet dargestellt wurde.

    Fazit:

    Scharfzüngig und entlarvend nimmt Nancy Mitford, selbst diesem gesellschaftlichen Stand angehörend, die britische Upper Class der 20er Jahre des vorigen Jahrhunderts mit Hilfe des "Bobbin Clans", die sich zu jedem Weihnachtsfest auf Compton Bobbin trifft, gekonnt auf die Schippe; an bissigem Humor und einer köstlichen Portion Situationskomik fehlte es ihr nicht. Voller Lokalkolorit und historischer Authentizität, einigen schrägen (wenn auch adeligen) Charakteren gereicht der Roman besonders in der kommenden Advents- und Weihnachtszeit mit einem Augenzwinkern zu meinen persönlichen Empfehlungen. 4*


    ASIN/ISBN: 3895611441

    Mittelalterliche Geschichte in und um Münster - lebendig erzählt!


    Bei dem historischen Roman der Erfolgsautorin Ulrike Renk "Am Fluss der Zeiten" handelt es sich um den gelungenen Auftakt einer Trilogie, die auf einem authentischen Zweig der eigenen Familiengeschichte der Autorin basiert. Wie immer überzeugt Ulrike Renk mit akribisch recherchierten historischen Fakten, die sie in die Geschichte einer Bauernfamilie (Hof Kalmule) sehr bildhaft, auch detailliert darstellt und einwebt, so dass man das Gefühl hat, man sitzt mit am Tisch des Kalmulehofs und erlebt Freud und Leid zur damaligen Zeit der Familienmitglieder (Heinrich und Gesa, Elzes Eltern; ihre Brüder Drees, der den Hof einst erben wird und 'aufsitzt', Claes, den sympathischen Bruder, der das Müllerhandwerk erlernen wird und ihrer Tante Stine, die Schwester des Vaters, die nach einer sehr schweren Dienstzeit in Münster auf dem Hof aufgenommen wird und Elze mit Rat und Tat zur Seite stehen sollte, ebenso wie ihre Mutter Gesa).


    Nähe Lüdinghausen, Hof Kalmule, 1551:

    "Elze wächst mit ihren Geschwistern als Eigenbehörige auf dem großen Hof Kalmule auf. Die harte Arbeit auf den Feldern ist ihr Alltag. Doch ihr Leben wandelt sich von Grund auf, als sie ihre Familie verlassen muss und ihren Pflichtdienst als Küchenmagd in der Stadt Münster antritt. Eines Tages wird sie jedoch mit einer Magd der Herren von Oer getauscht und muss zukünftig auf der Wasserburg Kakesbeck leben, auf der ein Fluch liegt. Dort trifft sie auch Jacob wieder. Aber um den Müllerssohn ranken sich geheimnisvolle Gerüchte. Soll sie diesen Glauben schenken? Und wird Elze nun Teil der alten Prophezeiung werden, um den Fluch der Familie vor Ort zu brechen?" (Quelle: Buchrückentext des Verlags)


    Vor dem Hintergrund des Spanisch-Niederländischen und des 30jährigen Krieges gibt Ulrike Renk hier einen historisch fundierten und unterhaltsamen Einblick in das Leben einer eigenbehörigen Bauernfamilie: Man begleitet Elze, die Hauptprotagonistin nach Haus Senden (das eine excellente Küche hat, wofür Berta, die dortige sympathische Köchin sorgt), von wo sie nach Münster ins Haus von Jobst von der Recke gebracht wird, wo sie ihren Dienst als Magd für ein Jahr verrichten soll. Durch einen Tausch, den eine dortige Dienstmagd geschickt einfädelte, um Drees, den Bruder von Elze zu heiraten und als Bäuerin 'aufzusitzen', wird sie jedoch zur Burg Kakesbeck geschickt, auf der ein Fluch, liegen soll.


    Man erfährt von der Schwerstarbeit auf den Feldern von Hof Kalmule, dem einfachen Leben der Bauern zu jener Zeit, die als Eigenbehörige wie Leibeigene des jeweiligen Amtsmanns (des Domkapitel Münster) behandelt wurden oder eines Burgherrn (Herren von Oer) Frondienst leisten mussten; Spanndienste u.a. gehörten ebenfalls zu den Pflichten der Bauern, die Pferde besaßen sowie Abgaben, die zu bestimmten Zeiten zu entrichten waren. Hier fand ich die aufgezeigten Unterschiede zwischen freien Bauern und Eigenbehörigen sehr interessant, die mir neu waren. Auch wusste ich nichts über das Jahr der Täufer in Münster, deren Körbe, in denen man sie richtete, noch heute an einer Kirche hängen.


    Die Autorin schafft es, die Zeit Mitte des 16. Jhd. wieder aufleben zu lassen, indem sie sehr bildhafte Schilderungen der Geschicke der Bauernfamilie erzählt; sehr interessant auch die politischen Veränderungen durch nahende kriegerische Auseinandersetzungen zwischen Herzog Heinrich und Bischof Franz: Wie zu allen Zeiten war beiden daran gelegen, ihre Pfründe zu sichern...

    Auch Kirchengeschichte der Stadt Münster, die für Elze voller neuer Eindrücke und Gerüche gewesen sein mussten, fließt in den Roman mit ein; klar erkennbar ist, wie sehr die Bauern unter der Knechtschaft von Kirche und Obrigkeit litten und dieser ausgesetzt waren. Die verlangten Abgaben in Form von Naturalien (Hühner, Schweine, Getreide, Butter) überstiegen - je nach Ernteerträgen - oft die Möglichkeiten der Bauern, die trotz Schwerstarbeit dann kaum über den Winter kamen und zeitweise hungern mussten.

    Zu dieser Zeit herrschte Aberglaube in der Bevölkerung (Fluch auf Burg Kakesbeck) und Vorbehalte gegenüber Müllern, die für das Volk 'mit dem Teufel paktierten'. Dass dieser Stand (dem ich selbst wohl entstamme ;) einen solch' schlechten Ruf hatte, war mir bisher unbekannt. Umso mehr freut man sich mit Jacob, dem sympathischen Müllerssohn, dass Elze ihm längst ihr Herz schenkte und nichts auf diese Vorbehalte gibt. Was auch zu dem Bild passt, das man sich von Elze machen konnte: Sie ist mutig, tapfer, klug (des Lesens und Schreibens kundig, was für eine Bauerntochter etwas Besonderes war) und geht ihren Weg, auch wenn er einmal holprig ist. So hat der Roman einen hoffnungsvollen Schluss, bei dem man jedoch gleichzeitig befürchtet, dass das Herannahen eines Krieges Elzes weiteres Leben ebenso bestimmen wird (und das von Jacob) und vieles schwierig machen wird. Sehr zu denken (aktuell betrachtet, in Zeiten schlimmer kriegerischer Auseinandersetzungen) gibt einem in diesem Zusammenhang ein Zitat von Stine, Elzes Tante:


    "Der nächste Krieg könnte das Ende der Welt bedeuten. Nicht der Teufel wird das Ende bringen, es sind die Menschen, die im Kampf zu Teufeln werden." (Zitat S. 138)


    Fazit:


    Ein sehr interessanter, bildhaft erzählter Roman, der Mitte des 16. Jhd. in Münster und Umgebung verortet ist, in dem man ein kluges, sympathisches Bauernmädchen, Elze und ihre Familie begleitet, wobei man viel Historie und etwas Kirchengeschichte in dieser unruhigen Zeit erfährt. Der Fokus liegt auf dem Leben der einfachen Bauern, was ihn sehr lesenswert und ab der Romanhälfte auch spannend macht. Auf die Nachfolgebände bin ich bereits jetzt sehr gespannt und empfehle den Auftakt sehr gerne weiter!


    4****

    Auge um Auge - Zahn um Zahn: Der 7. Fall für Jackson Lamb und seine Slow Horses


    Durch Zufall (und dank "vorablesen") bin ich vor Jahren auf Band 1 dieser inzwischen 7 Bände umfassenden und ins Deutsche von Stefanie Schäfer übersetzte Reihe gestoßen; seither gehört Mick Herron mit seinen genialen Fällen um die "Abservierten", die Slow Horses und durch seine Figurenzeichnung und extrem spannende Spionagehandlungen zu meinen absoluten, ureigenen Lieblings-(spionage)krimi-Autoren aus GB!

    Es besteht in jedem Band ein realer Bezug zu den realen Vorkommnissen in der Welt der Geheimdienste, die (meist, es sei denn, es geht wie hier auch mal recht brutal und gewalttätig zu) höchstvergnüglich und mit satirischen Seitenhieben köstlich pointiert zu lesen sind. Im vorliegenden Fall besteht ein Bezug zu dem Nervengift Nowitschok, auf Skripal, einen russischen Geheimagenten und seine Tochter wurde 2018 ein Giftanschlag verübt, der diesem Buch gewissermaßen eine gar nicht unreale Charakteristik gibt und durchaus Parallelen aufweist.


    Roddy Ho, IT-Experte mit Ninja-Fähigkeiten und ein Slow Horse, entdeckt, dass sowohl das Slough House als auch die Slow Horses selbst aus der Datenbank des Regent's Park entfernt worden sind - was ihn in Alarmbereitschaft versetzt. Frühere Slow Horses wie Kay White und Struan Loan finden ein tragisches Ende, normale Todesfälle? Zufall oder Schicksal? Da die Agenten wie Catherine Standish, Shirley Dander, Lech Wicinczki, River Cartwright, Roddy Ho und Louisa Guy inclusive dem Leiter des Slough House, Jackson Lamb (wie immer auffallendes Sozialverhalten; er trinkt, rülpst und furzt gerne in Anwesenheit seiner 'Pappkameraden') zwar irgendwann in ihrem Leben einen Fehler machten und degradiert wurden, im wahrsten Sinne des Wortes vom MI5 abserviert wurden, heißt dies noch lange nicht, dass man es hier nicht mit fähigen Agenten zu tun hat: Sie bemerken sehr wohl, wenn sie beschattet werden, wissen sich auch zu wehren und da neuerdings ein Paar (Mann und Frau) in Missionarstracht umherzieht, bevor ein früheres Slow Horse den Tod findet, entwickeln manche fast eine Paranoia. Dem sonst sehr gleichgültigen Lamb ist dies nicht egal. Er mag es nicht, wenn seine Joe's die Straße pflastern (auch die von früher) und muss letztendlich einen Aktivierungsbefehl ausgeben, der aus drei Worten besteht: "Blakes Grab. Unverzüglich". Ein Safe House wird gefunden, in den die Agenten erstmal (mit indischem to go-Essen reichlich versorgt) untertauchen können. Doch dies geschieht natürlich nicht, bevor Lamb mit der Direktorin des MI5 - Diana Taverner - für Eingeweihte Lady Di - ein Machtwörtchen gesprochen hat.


    Doch bis es dazu kommt, erfahren wir in mehreren Erzählsträngen sehr gekonnt und wie gewohnt höchst spannend von den Hintergründen der Welt der Geheimdienste: In Russland wurde eine mutmaßliche beteiligte Frau ermordet, die zuvor am Giftanschlag in GB mitwirkte; dies bringt Putin zum Zähneknirschen und er schickt seinerseits seine Söldner (selbst einst dem KGB entsprungen) nach England, um Rache zu üben. All dies geschieht, während Peter Judd und Diana Taverner (er kein großes Tier mehr, aber dennoch mächtig) wie üblich die Strippen hinter den Kulissen ziehen und Sorge tragen, dass - zumindest nach außen hin - alles hübsch 'sauber' aussieht. Allerdings kann man bei diesen Machenschaften nicht davon ausgehen, dass auf irgendeiner Seite Wert auf Menschenleben gelegt wird: Hier gibt es durchaus Kollateralschäden; wie z.B. André - eigentlich Andrej und russischer Staatsbürger, der ein Buch über Putin schreiben wollte, in GB lebt (mit Reece Nesmith zusammen, ebenso kleinwüchsig wie er), aber lange in Moskau lebte: Reece erhält die Nachricht, er sei dort verstorben und ist völlig am Boden über diese Nachricht. Weiß er doch, dass sein Freund (der schon eine Menge Fakten gesammelt hatte) ausgeschaltet worden war. Neugierig geworden, sucht Lamb ihn auf.


    Auch erleben wir Medienmogule, die durch Macht und viel Geld in der oberen Liga mitspielen wollen. Selbst mitbestimmen wollen, was nicht im Sinne einer Diana Taverner oder eines Peter Judd liegt; die jedoch auf Sponsoren angewiesen sind, um den Geheimdienst am Laufen zu halten. Wir sind auch kurz im Archiv bei dem Dinosaurier auf Rädern in Form von Molly Doran, der übel mitgespielt und Informationen entrissen wurden, die sie gar nicht preisgeben wollte. Wer hat diese Informationen in die falschen Hände kommen lassen und ist für Morde auf britischem Boden verantwortlich? Wer ist hinter den Slow Horses, hinter Sid Baker, die wie durch ein Wunder wieder auftauchte und sich im Haus des O.B. versteckt, her und will sie umbringen? Im letzten Drittel dieses genialen Spionagethrillers steigt die Spannung ins Unermessliche und Herron lässt die Fäden wie üblich gekonnt und mit markigen Sprüchen zusammenlaufen. Allerdings geschieht etwas, womit sicher niemand rechnete und das man als Cliffhanger bezeichnen kann: Ich hoffe, Frau Schäfer's deutsche Übersetzung lässt nicht lange auf sich warten, da ich mit den Slow Horses mitfiebere (und bete, da es um einen meiner Lieblings 'Joes' geht).


    Mick Herron nimmt pointiert, mit triefendem Sarkasmus und tollen Wortspielen und mit Seitenhieben auf Politik, Medien und Wirtschaft die Machenschaften der Mächtigen auf's Korn; auch die der Geheimdienste, der Verbündeten, der Strippenzieher und der Geldgeber. Er lüftet einen imaginären Vorhang, hinter dem es ganz genau so (oder sehr ähnlich) zugehen könnte und der den Blick eines Gemeinsterblichen hinter diese Kulisse im Allgemeinen zu vereiteln sucht. Die (verdienten) Seitenhiebe und die schrägen Charaktere der Slow Horses, besonders Jackson Lamb's, setzen dem ganzen die Krone auf (wenn es z.B. darum geht, dass einem Medienmogul klar wird, dass ein Ex-Politiker im Grunde nur einen "Königsmacher" sucht - und die Beteiligten beim letzten Mal noch Gehröcke trugen).


    Ein Lesevergnügen der 'besonderen Art'; daher meine absolute Empfehlung (in chronologischer Reihenfolge) und volle Punktezahl! 5* (und Vorfreude auf den 8. Fall für die Slow Horses!)


    ASIN/ISBN: 3257301111


    "Und dahinter das Meer" von Laura Spence-Ash, übersetzt aus dem amerikanischen Englisch von Claudia Feldmann, erschien (HC, geb., 364 Seiten) 2024 im mareverlag, Hamburg. Es handelt sich um ein sehr lesenswertes Début der Autorin, die spät zum Schreiben fand ("alles hat seine Zeit", wie sie im Vorsatz zum Leseexemplar treffend bemerkt), das die Geschichte zweier Familien in Kriegs- und Nachkriegszeiten in Amerika (Boston) und England (London) auf sehr einfühlsame, emotionale Weise erzählt, die durch das Verschickungskind Beatrix (11), das sicherheitshalber 1940 von ihren Eltern Millie und Reginald Thompson zu den Gregorys nach Boston geschickt wird, miteinander verbunden sind.


    In drei Teilen wird die Familiengeschichte, die auch ein Stück Zeitgeschichte ist und die Jahre 1940 bis 1977 umfasst, dargestellt: Wir erleben die Ankunft des Schiffes von Bea, wie sie fortan bei Nancy und Ethan Gregory und ihren beiden Söhnen William und Gerald genannt wird und die 5 Jahre von Bea in der Gastfamilie, die das Kriegsende markiert und die Rückkehr zu Millie Thompson von Beginn an vorsieht.


    Nancy Gregory oder "Mrs. G." ist eine wunderbare Frau und Mutter, die sich sehnlichst eine Tochter wünschte. Dass Beatrix die Lücke füllen würde und auch ein Gleichgewicht in der Familie mit zwei sehr gegensätzlichen Jungs darstellen wird, hätte niemand vorhersagen können. Man spürt die Angst Beatrix vor der neuen Situation, aber auch die Herzlichkeit, in der alle sie in der Familie aufnehmen. So dauert es nicht lange, bis sie ein "zweites Zuhause" hat und sich mehr und mehr zu William hingezogen fühlt. Dieser wirkt im Roman etwas rastlos, getrieben und immer auf der Suche: Als sich beide im Teenageralter näherkommen, muss Beatrix zurück nach England. An Gerald, dem ruhigeren der beiden Brüder, ist diese Nähe zwischen William und Beatrix (die er auch sehr mag) nicht verborgen geblieben. Wird Beatrix den Kontakt zu der Familie Gregory halten? Werden alle an die wunderschönen Sommer auf der Insel in Maine, wo alle ausnahmslos sehr glücklich waren, zurückdenken?


    Diesen Fragen widmet sich dieser Roman, der in der ersten Hälfte sehr detailliert die inneren und äußeren Welten der Gregory's und Thompsons beleuchtet. Die Emotionen und die Zerrissenheit von Beatrix gehen dabei sehr zu Herzen, da man sich in ein Mädchen von 11 Jahren, die alleine in die Fremde geschickt wird, vorstellen kann. Man freut sich aber auch mit Bea, wie gut sie sich bei der warmherzigen Familie Gregory einleben kann und wundert sich weniger, dass ihr früheres Leben in London (in Amerika war alles größer) nach und nach verblasst. Auch Unsicherheiten da sind, was sie der Mutter schreiben soll - und was lieber nicht. Sie spielt eine Art Vermittlerrolle zwischen dem anfangs 9jährigen Gerald und dem 13jährigen William, der alles andere als nach Harvard (wie sein Vater und sein Großvater) will, sondern grundsätzlich ganz weit weg; Bea ist nach und nach ein Teil der Familie, die sie ebenso liebt wie dies bei allen Familienangehörigen der Fall ist. Wir erleben Thanksgiving, Weihnachten und die unvergesslichen Sommer in Maine mit Beatrix, wo besonders Mrs. G. unglaublich glücklich ist. Aber auch die Schattenseiten; der Tod des Vaters in England, der Eintritt Amerikas in den zweiten Weltkrieg, der Angriff auf Pearl Harbor, lässt die Autorin nicht aus. So ist dieser vorwiegend zu nennende Familienroman auch ein Stück Zeitgeschichte, die besonders Amerika in Kriegs- und Nachkriegsjahren gesellschaftlich nachzeichnet. So interessiert sich eine Romanfigur besonders für die Kennedy's und man erlebt, wie John F. Präsident wird - und liest von seiner Ermordung. Der Roman ist einerseits sehr emotional und berührend, andererseits aber auch sehr tiefgründig; so geht es auch um "Ängste, die greifbar werden, wenn ein Land sich im Krieg befindet" (Zitat S. 76). So geht es auch um Briefe, die geschrieben, jedoch nie abgeschickt werden und um die Entfremdung zwischen Beatrix und Millie, ihrer Mutter in England: Lange wird es dauern, bis diese begreift, dass Mrs. G. in Boston ein großes Herz hat und ihre Tochter ebenso liebt wie sie selbst es tut. Noch länger, bis ihre Vorbehalte und ihre Eifersucht besiegt sind und beide sich annähern werden.


    Es werden auf sehr einfühlsame Weise zwischenmenschliche Beziehungen nachgezeichnet, die sich durch die Ausgangssituation entwickeln - und auch die Folgen dieser Zeit für einige Romanfiguren, die sehr authentisch wirken. Ist die erste Hälfte des Romans etwas sehr detailliert, etwas langatmig und fast ausufernd, so entschädigt die zweite Romanhälfte umso mehr: Bewegt folgt man den Bildern aus der Vergangenheit der Gregorys, die immer wieder auftauchen durch spätere Besuche von Beatrix, die sehr emotional, menschlich und bewegend anmuten, was den Wert dieses Romans meiner Meinung nach am meisten unterstreicht: Er zeigt, wenn auch beispielhaft in der Darstellung der Thompsons in England und der Gregory's in Boston sehr bildhaft, wie sehr Familien durch Kriege auseinandergerissen werden können. So dauerte es Jahre, bis "die Mauern zwischen Millie und Beatrix nach und nach abgeräumt werden konnten" (Zitat S. 338). Lediglich das Erzähltempo hätte ich mir etwas ausgefeilter, ausgeglichener gewünscht (z.B. die Rückreise von Bea nach 5 Jahren in Boston ist etwas kurz geraten), hier sehe ich noch Potential.


    Ein sehr lesenswerter Roman, den ich sehr gerne weiterempfehle, da er anhand der emotional feinfühligen, warmherzigen Beschreibung der Gefühlswelten zweier Familien in Kriegs- und Nachkriegszeiten auch historische und zeitgeschichtliche Ereignisse dokumentiert, die oftmals ein Nachspiel im Leben haben. Menschen aber auch lernen können, "über sich selbst hinauszuwachsen" und ihrem Herzen zu folgen. Auf der Shortlist des Buchpreises der Unabhängigen Buchhandlungen in Deutschland stehend, wünsche ich Laura Spence-Ash und ihrem Roman sehr viel Glück! 4****



    Von der irischen Autorin Liz Nugent, deren Buch (Genre Psycho-Thriller) "Seltsame Sally Diamond" in deutscher Übersetzung von Kathrin Ranzum im Steidl-Verlag (2024, HC, 336 S.) veröffentlicht wurde, hatte ich zuvor noch nichts gelesen. Dies wird sich höchstwahrscheinlich seit diesem außergewöhnlichen Lesegenuss aber fortan ändern!


    "Als Ihr Adoptivvater stirbt, tut Sally Diamond genau das, was er ihr aufgetragen hatte und entsorgt seine Leiche mit dem Müll. Ein Fehler, denn plötzlich interessieren sich alle für die seltsame Frau, die am liebsten für sich bleibt: Polizei, Nachbarn, Medien - und eine unheimliche Stimme aus der Vergangenheit, von der sie nichts mehr weiß. Während sie nach und nach von den schrecklichen Geheimnissen ihrer frühen Kindheit erfährt, nähert sich Sally zum ersten Mal vorsichtig der Welt. Sie übt sich in Vertrauen, schließt Freundschaften, trifft große Entscheidungen und lernt, dass Menschen nicht immer meinen, was sie sagen und nicht immer sind, wer sie vorgeben zu sein.


    Ein Buch, das unter die Haut geht, düster, hoch spannend und ergreifend - und mit einer Hauptfigur, die so entwaffnend ehrlich, liebenswert und einzigartig ist, dass man sie nicht vergisst." (Quelle: Buchrückentext des Verlags)


    Ein sehr außergewöhnliches Buch, eine tolle Autorin, die hier einen unnachahmlichen Sog entwickelt hat, der auch mich gefangen nahm...


    Sally Diamond (ihr Geburtsname lautet anders, sie wurde adoptiert), lebt bei ihren Adoptiveltern sehr zurückgezogen. Beide sind Psychiater und Thomas Diamond, inzwischen hochbetagt, äußert sich Sally gegenüber so, dass sie ihn nach dessen Tod in der Tonne (hinter dem Haus) verbrennen soll. So äschert sie ihn weisungsgemäß ein, ohne die Folgen zu bedenken...

    Denn dass, was Sally gut kann, sind grundsätzlich Anweisungen zu befolgen. So liebt sie z.B. Rezepte, die sie hervorragend nachkocht und spielt leidenschaftlich gerne Klavier (was sie sehr beruhigt). Denn: Sie ist "sozial defizitär"; zeitlebens hat Thomas Diamond sie von PsychologInnen ferngehalten (ausser von sich selbst) und die ausgeprägte Sozialphobie Sallys wachsen lassen (was ebenfalls nach dessen Tod Folgen haben sollte). Wäre da nicht Dr. Angela Caffrey, der Sally vertraut und die früher mit ihrer verstorbenen Adoptivmutter zusammenarbeitete, dieser nahestand und um Sally's "anderssein" wusste.


    Bereits in der Schule separierte sich Sally selbst, nahm an keinen gemeinschaftlichen Ausflügen teil und ging direkt nach Hause. Nur ein stotterndes Mädchen, ebenso gemieden wie Sally von den MitschülerInnen, sah in ihr nicht "die seltsame Sally", sondern nur, dass sie eben anders war als die anderen.


    Weshalb war dies so? Dieser Frage geht dieses Buch so subtil nach, dass man immer wieder Gänsehaut bekommt und einem zuweilen der Atem stockt, wenn man sich vor Augen führt, was Sally bis zu ihrem 4. Lebensjahr erlebt haben mag....


    So verfolgt man aufmerksam, in kurzen Kapiteln, die hochspannend und oft dramatisch, aber auch mit außergewöhnlichem psychologischem Feinschliff beschrieben sind, die Lebensstationen von Sally nach dem Tod von Thomas, der ihr vieles "lebenspraktische" nicht beigebracht hatte. Man freut sich mit ihr über ihre Fortschritte und bedauert es, dass sie ab einem gewissen Zeitpunkt wieder in alte Verhaltensmuster zurückfällt.


    Durch das Auftauchen ihres Bruders Peter bzw. Steve, von dem sie lange nichts wusste und dessen schwierigen Lebensweg der Roman im zweiten Erzählstrang beschreibt, und dem Herausfinden von Tatsachen, was mit ihrer Mutter Denise geschehen ist, wird sie lange Zeit psychisch sehr herausgefordert, nimmt jedoch auch Hilfe in Form von therapeutischen Sitzungen an und will lernen, "zwischen den Zeilen zu lesen", was die Menschen wirklich meinen (lange dachte man, sie könne gar nicht sprechen; auch hier ist sie anfangs hilflos und überfordert).


    Auf die Details gehe ich bewusst nicht ein an dieser Stelle, da ich damit spoilern würde und diesem Buch viele LeserInnen wünsche, die es mit ebenso stockendem Atem lesen möchten, wie ich es tat. Auch nicht auf die Hintergründe, denn diese sind grausam und oftmals unmenschlich, jedoch durch den Stil der Autorin durchaus lesbar und erkenntnisreich: Ein Psycho-Horror-Roman mit Krimielementen, der es wahrlich in sich hat!


    Fazit:


    Verstörend, faszinierend, außergewöhnlich und auch brillant mit psychologischer Finesse entführt Liz Nugent (ihr Name sollte man sich merken!) ihre Leserschaft in tiefste menschliche Abgründe, wo zuweilen dennoch Gutes und auch die Hoffnung durchblitzt. Mehr von Liz Nugent gibt es im Steidl-Verlag, dem ich sehr dafür danke, sich für irische AutorInnen einzusetzen, ganz besonderen Dank in diesem Zusammenhang an Claudia Glenewinkel! Ein ganz außergewöhnliches, absolut empfehlenswertes Leseerlebnis - und Roman! 5*

    "Die Gräfin" von Irma Nelles erschien (2024, geb., HC, 169 S.) im Hanser-Verlag (Reihe hanserblau). Um die historisch verbriefte "Hallig-Gräfin"; Gräfin Diana von Reventlow-Criminil, ranken sich noch heute Mythen und Geheimnisse.

    Die Autorin (geb. 1946), selbst auf Nordstrand aufgewachsen, hat sich hier einem der Geheimnisse gewidmet, das in der nationalsozialistischen Diktatur Deutschlands im Jahre 1944 auf der Hallig Südfall verortet ist:


    Inhalt:


    Ende August besteigt der RAF-Pilot John Philip Gunter sein Flugzeug, um alleine und ohne Kontakt zum Kontrollzentrum einen Beobachtungsflug Richtung Norddeutschland/Schleswig durchzuführen; der Auftrag erfüllt ihn mit Stolz, ist er doch als erfahrener Bomberpilot immer lebend nach England zurückgekehrt...


    12 Stunden später schlägt Hunter, der Hund von Gräfin Diana, an und lässt sich kaum beruhigen: Kurzentschlossen reitet die Gräfin ins Watt und findet den Grund von Hunter's Beunruhigung, die sie zuerst der herrschenden Hitze zuschreiben wollte: Sie findet ein Flugzeug, in dessen Cockpit ein verletzter Pilot sitzt. Nur mit Hilfe von Maschmann, ihrem langjährigen Kutscher und Hausmeister, gelingt es ihr, den Mann zu befreien und auf die Warft zu bringen. Dort sieht am nächsten Tag das befreundete Ärzte-Ehepaar Carl und Käthe Braack nach dem Patienten, der sich gesundheitlich während der nächsten Tage erholen sollte....


    Meine Meinung:


    Dieser zeitgeschichtliche Roman, der mit wenig Personal auskommt, ist sehr atmosphärisch und tiefgründig; spannungsvoll erzählt die Autorin von Gräfin Diana, die hier die Hauptprotagonistin darstellt und eine beeindruckende Persönlichkeit gewesen sein muss: Geboren auf Schloss Emkendorf nahe Rendsburg wohnte sie, bereits erwachsen, nach dem Tod beider Eltern wenige Jahre mit Bruder und Schwägerin im Schloss; in dem sich der europäische Hochadel zu dieser Zeit die Klinke in die Hand drückte. Sie merkte jedoch immer mehr, dass sie diesen ausschweifenden, exzentrischen Lebensstil eher ablehnte und reiste Richtung Norden (sie hatte in Dänemark bei ihrer Tante wunderschöne Jahre verbracht), als sie vom Verkauf einer Warft auf der Hallig Südfall erfuhr: Sie sollte ihr Domizil hier gefunden haben, in dem sie eine schlichtere Lebensweise vorzog, "zurückgezogen von allen ihr widerstrebenden Einflüssen und Machenschaften, fern von Rücksichtslosigkeit und Demütigung, die Menschen einander zufügen konnten, kam sie in Ruhe ihren täglichen Pflichten nach" (Zitat, S. 16).


    Mit dem Auftauchen des englischen Piloten wird jedoch in der Gräfin, (die hochgebildet ist, sich nicht gerne in etwas hineinreden lässt, Briefkontakte in aller Welt besitzt und diese auch nutzt, um z.B. flüchtigen Juden zu helfen, die auf den Nationalsozialismus nichts hält und unerschrocken gewissermaßen im Untergrund agiert), etwas zutage gefördert, das sie an ihr junges Ich erinnert: Hier liegt das m.E. Tragische in diesem Roman: Da sie sich niemals einem Mann unterordnen wollte, ließ sie Liebe niemals zu und sperrte sie vollkommen aus ihrem Leben aus.


    Wer den Roman liest (und ich hoffe, er stößt auf viel Resonanz, da ich ihn für sehr lesenswert halte), wird erfahren, aus welchem Grund das Leben dieser sehr starken, selbstbestimmten Frau so verlaufen ist, die noch im Alter von über 80 Jahren gerne anderen hilft; selbstlos ist, wenn es um Gerechtigkeit geht und bar allem nationalsozialistischen Denkens. Wie im Übrigen auch Maschmann, ihr Kutscher, der am liebsten Plattdeutsch spricht (da er Hochdeutsch nie lernen mochte) und seit Langem für die Gräfin gerne arbeitet: Ein sehr sympathischer Mann, ebenso wie Sörensen, der ihm hilft, das Wrack von John in den Hangar zu bringen. Auch das junge Hausmädchen Meta ist ein Glücksgriff für die Gräfin - und als Figur ebenso sympathisch. Der Arzt, Carl Braak, der gerne BBC hört und aufpassen muss, was er zu wem sagt, stimmt völlig mit den anderen überein, dass der Krieg schon lange verloren ist und dem Piloten geholfen werden muss, bis dieser reisefähig ist.


    Besonders gut gefielen mir die Naturbeschreibungen; die raue Welt der Halligen, die öfter "Land unter" sind und dem "Blanken Hans" völlig ausgeliefert. Das verwendete Plattdeutsch (Maschmann) verleiht dem Roman sprachlich viel Authentizität. Auch ein Stück Geschichte der Halligen findet sich in diesem wundervollen Roman; ebenso ein Stück Zeitgeschichte, das sich genau so abgespielt hätte haben können.


    So erlebt man sechs Tage dieser zusammengewürfelten Hallig-Gemeinschaft, die zwar nicht ganz frei von Misstrauen ist, letzten Endes jedoch voller Menschlichkeit, Unerschrockenheit und Großmut besteht. Allen voran "die Hallig-Gräfin". Das Ende lässt die Autorin offen; was mich nicht störte. Gibt es doch Raum für eigene Gedanken und Hoffnung, dass alles bis zum Kriegsende gut ausging für John, die Gräfin, Meta, Maschmann und das Ehepaar Braack!


    Ich empfehle den Roman sehr gerne weiter und vergebe solide 4*

    Das erste Buch, das ich von Kai Meyer gelesen hab', war "Die Alchemistin" - und spielte überwiegend in Prag. Fantastische Geschichte und ebenso fantastisch geschrieben!


    Seither bin ich auf der Suche nach den 2 Nachfolgebänden (Teil 2 ist "Die Unsterbliche"), die es in print-Form kaum noch - oder ziemlich teuer zu kaufen gibt.... (Teil 3 ist "Die Gebannte").

    "Das größte Rätsel aller Zeiten", das Début des britischen Autors Samuel Burr, erschien (HC, 443 Seiten) 2024 im Dumont-Verlag, Köln. Der lesenswerte Roman, der die Themen Herkunft (eigene), Gemeinschaft, Hilfsbereitschaft, Selbstfindung, Puzzles und Rätsel sowie Freundschaft und Vertrauen beinhaltet, hat mir gut gefallen, da er interessante Leitsätze in sich trägt, auf denen menschliche Beziehungen gegründet sein sollten - und durch die kurzen Kapitel, die sich auf zwei Zeitebenenen in England (London und Südengland) bewegen, auch bis zur letzten Seite Spannung enthält. Zudem ist der Hauptprotagonist (Clayton Stumper - für die Gemeinschaft der Rätselmacher das größte Rätsel) sehr sympathisch und man folgt mit Spannung seinem eigenen Weg der Selbstfindung.


    "Clayton ist das mit Abstand jüngste Mitglied der "Gemeinschaft der Rätselmacher. Und gleichzeitig ihr größtes Geheimnis. Wer hat ihn vor fünfundzwanzig Jahren in einer Hutschachtel vor den Toren von Creighton Hall ausgesetzt? Clayton liebt seine exzentrische Wahlfamilie, doch die Rätselmacher werden nicht jünger und zunehmend vergesslich. Als der erste Bewohner im hauseigenen Irrgarten verlorengeht und ein Todesfall die Gemeinschaft erschüttert, weiß Clayton, dass ihm nicht mehr viel Zeit bleibt, um das Rätsel seines Lebens zu lösen. Kein Problem, schließlich hat er von den Besten gelernt. Aber wie löst man eigentlich eine U-Bahn-Fahrkarte? Das Abenteuer beginnt." (Quelle: Buchrückentext des Verlags)


    In diesem etwas skurrilen, aber wirklich lesenswerten Roman begegnet man außergewöhnlichen Denkern; allen voran die liebenswerte Pippa Alsbrook, die eines Tages einen Säugling in einer Hutschachtel auf der Treppe vor Creighton Hall, dem Sitz ihres Familienerbes und später Wohnort der Gemeinschaft, findet: Vom ersten Augenblick war klar, dass zwischen ihr und Clayton eine innige Bindung entstehen sollte (sie war zu diesem Zeitpunkt 64 und kinderlos), die bis zu ihrem Tode anhielt: Mit 89 Jahren stirbt Pippa und Clayton wird klar, dass er seinen eigenen Weg finden muss; das Rätsel seiner Herkunft lösen muss.


    Der geneigte Leser, (vor allem jene, die Rätsel mögen), begleitet nun Clayton auf seinem zuerst holprigen Weg, wobei er weiß, dass alle "Rätselmacher" der Gemeinschaft; besonders Nancy Stone (Quiz-Königin) , aber auch Hector Haywood (Künstler und Erfinder fröhlicher Puzzles; wobei er selbst immer griesgrämig ist); Earl Vosey, der Meister der Labyrinthe - zu dem er ein besonders enges Verhältnis hat - und die anderen ihm helfend zur Seite stehen. Er geht mit wachen Augen auf seine Reise und macht neue Erfahrungen; Pippa hat ihm allerdings auch nach ihrem Ableben eine Reihe von Rätseln mit auf seinen Lebensweg gegeben, die er jedoch nach und nach lösen kann und einem Hinweis nach dem anderen folgt (besonders gefiel mir der Tresor bei Harrods, er erinnerte ein wenig an die Verfilmung von Harry Potter und die Kobolde in "Tresorraum 713"); aber auch bei den weiteren Aufgaben, die Pippa Clayton gab, rätselt man als LeserIn mit... Auch die Hilfsmittel für Rätselmacher (Alphabetibox, Kryptogitter u.a., die teils im Buch abgebildet sind) fand ich sehr interessant.


    Der Stil S. Burr's ist schnörkellos und klar; die Figuren wirken authentisch und es macht Spaß, mit Clayton seine "Rätsel des Lebens" und seiner Herkunft zu lösen. Die kurzen Kapitel, die zwischen der Such nach Lösungen der Rätselteile Claytons auf der Such nach seiner Herkunft - und den Rückblicken in die Geschichte der Gemeinschaft der Rätselmacher wechseln, entwickeln mehr und mehr einen Sog, dem man sich als LeserIn schwer entziehen kann (besonders rätsel- und geheimnisliebender LeserInnen). Die positiven Leitsätze (Themen Gemeinschaft, Hilfe suchen, wenn es nötig ist, Freundschaft, coming-out, Selbstfindung etc.) haben mir sehr gefallen und mich gut unterhalten.


    Fazit:


    Die Suche eines jungen Mannes, dessen Herkunft Rätsel aufgibt - und der sich auf seinen eigenen Weg aufmacht, dieses Rätsel zu lösen, empfehle ich allen LeserInnen sehr, die gerne unterhaltsame, spannende, tiefgründige und authentische, warmherzige Geschichten lesen, die im Ergebnis eine Selbstfindung darstellen. Passend hierzu scheint mir das Nachwort des Autors, der den Wunsch mit dem Roman verbindet, dass der Leser "selbst die noch fehlenden Puzzleteilchen in seinem Leben" finden wird und das Buch hierzu eine literarische Anregung geben kann! Von mir für dieses unterhaltsame Début, das lesenswert ist, 4 Sterne und eine Empfehlung!

    "Hitzefrei" von Agnes Prus/Yelda Yilmaz erschien (HC, geb., 175 S. mit zahlreichen Fotos und schönen sommerlichen Illustrationen) im Dumont-Verlag, Köln, 2024.


    Bereits der Titel, der 'vegetarische Küche für heiße Tage' verspricht, machte mich neugierig und weckte mein Interesse: Hier wird mit vielfältigen Gerichten und Salaten aufgewartet, die sehr schmackhaft, gesund und recht schnell zuzubereiten sind. Die tollen Rezeptideen der Autorin Agnes Prus (Foodstylistin) mit stimmungsvollen Fotos und sommerlichem Ambiente von Yelda Yilmaz (Fotografin) lassen wahrlich keine Wünsche offen!


    Flirrende Hitze und hohe Temperaturen, die seit einigen Jahren nicht nur im mediterranen Raum, sondern auch hierzulande in Erscheinung treten, lassen uns eher an Mahlzeiten denken, die schnell zubereitet, ausgewogen, gesund, schmackhaft und erfrischend, abkühlend sind - all' dies ist in den abwechslungsreichen Rezepten, tollen Sommersalaten, Eis und Desserts zu finden!


    Das tolle Sommerkochbuch präsentiert über 70 Rezepte, die auf Inspirationen der ganzen Welt basieren, jedoch ganz und gar nicht allzu ausgefallen sind. Zudem sind sie veränderbar durch genaue Mengenangaben, die z.B. bei einer Gartenparty auch mal üppiger angesetzt werden können, je nach Gästezahl. Die Rezepte sind detailliert und leicht verständlich beschrieben, benötigen also keine "Spezialkenntnisse"; die Zutaten erhält man ohne Probleme, ebenso die Gewürze.


    Sehr übersichtlich ist die Gliederung in


    - Cool & knackig (aromatische Sommersalate)

    - Quick & Easy (kleine Sommergerichte, wenn's schnell gehen soll)

    - Sonnig & heiter (auf die Hand oder den Grill, für Picknick und Gartenparty)

    - Süß & saftig (Sorbet, Eis, sommerliche Desserts).


    Besonders gefielen mir die "Lieblingsdressings" und -dips, die das Sahnehäubchen für manchen Salat oder sommerliche Speise sind. Unsere Favoriten sind (bisher) Couscous-Salat mit eingelegter Zitrone und Granatapfel; Kartoffel-Tortilla mit Zucchini und Oliven, Kichererbsen-Avocado-Wraps mit roten Zwiebeln und Ei - megalecker! - und griechischer Eiscafé.

    Ein Register im Anhang rundet dieses tolle sommerlich-vegetarische Kochbuch ab, worin die einzelnen Lebensmittel und zugehörigen Rezeptideen gut zu finden sind.


    Fazit:


    Das ultimative Sommerkochbuch für heiße Tage mit abwechslungsreichen Rezepten, Ernährungs- und Erfrischungstipps, das seinesgleichen sucht und für Abkühlung und Verträglichkeit bei großer Hitze auf wohlschmeckende Weise sorgt! Meine absolute Empfehlung und 5* !


    ASIN/ISBN: 3832169466

    "Jenseits des Grabes" von Fred Vargas erschien (HC, geb., 526 S.) im Limes-Verlag, Penguin Randomhouse-Verlagsgruppe. Einige Jahre mussten Vargas-Fans auf diese Neuerscheinung warten, doch daran ist man als eingefleischter Fan der vielfach ausgezeichneten Autorin mittlerweile gewöhnt - zumal es in meinem Fall seit nun fast 30 Jahren meine Krimi-Lieblingsautorin ist. "Sur la dalle" - so der Titel im französischen Original (etwa: Auf der Platte) hat einen engen Bezug zu den Ermittlungen, die der unkonventionelle Jean-Baptiste Adamsberg und seine Brigade Criminelle (aus dem Pariser 13. Arrondissement) dieses Mal führen: Handlungsorte sind Combourg und Louviec in der Bretagne, in der auch der Kommissar bereits war, um eine Auszeichnung aus einem früheren Fall entgegenzunehmen: Allerdings freut er sich einzig auf Kommissar Matthieu, mit dem er später gemeinsam die Ermittlungen zu so einigen Mordfällen leiten sollte: Ein Wildhüter wurde mit zwei Messerstichen in die Brust ermordet - was Adamsbergs stets wache Ermittlungsinstinkte auf den Plan ruft...


    Vor Ort in Combourg bzw. Louviec stößt ein Teil der Brigade Criminelle um Adamsberg auf manch illustre Gestalt: Ein Nachfahre des Romantikers Francois-René de Chateaubriand, Josselin mit Vornamen, der dem Dorf Louviec durch seine Auftritte (die er eigentlich nicht mag) Touristenströme verschafft; die Sage um einen Hinkenden vom Schloss Combourg, der nachts durch die Straßen schleicht und hallende Geräusche von sich gibt; Johan, der Wirt des Wirtshauses "Zu den zwei Schilden", der die Teammitglieder und später ganze Gallionen von Polizisten und Personenschützern aufs Vortrefflichste 'bewirtet' und von Retancourt und ihren Fähigkeiten mehr als begeistert ist und einige mehr, von denen noch zu lesen ist: Leider hat Adamsberg nur einen Teil der Brigade mit nach Louviec genommen (Veyrenc, den er bereits aus seinem Heimatdorf in den Pyrenäen kennt und schätzt; Noel, Retancourt (Universalgöttin mit geballter Kraft, die sie in alles verwandeln kann - ausser in Feingefühl und Sanftmut - eine meiner Lieblingscharaktere) und Mercadet, IT-Spezialist par excellence mit dem Handicap, dass er alle 4 Stunden schlafen muss...) Über das Wiedersehen mit diesen habe ich mich mehr als gefreut, auch wenn ich Danglard, der mit den anderen in Paris zurückblieb, schmerzlich vermisst habe.


    Da scheinbar wahllos weitere Personen mit Messerstichen (das Messer ist dasselbe wie beim Wildhüter, ein exquisites Ferrand-Messer) ermordet werden, hat Adamsberg und die Brigade einen längeren Aufenthalt in Louviec und eine (bzw. mehrere) Nüsse zu knacken: Unweit Louviec's befindet sich ein Dolmen, den Adamsberg sich für seine "gedanklichen Spaziergänge" auserkoren hat (und ihn später mit Leibwächtern aufsuchen sollte, da auch er zu den Mordopfern zählen könnte). Hier stellt Adamsberg fest:


    "Wenn faktische Elemente sich sträuben und nicht erlauben, einen Täter zu benennen, dann hat man keine Wahl, als in der Welt der frei schwebenden Gedanken und im Schlamm versunkener Ideen einzutauchen" (Zitat S. 171)


    Daher ist es unerlässlich, je verworrener die Mordfälle werden (auch für den Leser), dass Adamsberg seinen Dolmen von Zeit zu Zeit aufsucht und die 'vagen Ideen' in Form von Blasen aus dem schlammigen See an die Oberfläche gelangen können, er sie zu fassen bekommt und in Erkenntnisse umwandeln kann. Die Vergnüglichkeit des Lesens ist in allen Vargas-Krimis diesen "Kernstücken der Adamsberg'schen Ermittlungsweise" (seine einzige) zu finden: Entweder man liebt sie, oder man mag sie nicht.


    Vargas gibt dem Leser durchaus Hinweise, den Mörder aufzuspüren: Wieso hat jedes Opfer ein befruchtetes Ei in der Hand? Was haben die Opfer gemeinsam? Spielt der Verein der "Schattenschützer" (die bereits eine Liste der Schattenschmutzer hat!) eine Rolle bei den Morden? Was hat der bereits seit Schulzeiten mit krimineller Energie versehene Inhaber des Möbelgeschäfts "Ihr Zuhause von A bis Z" im Industriegebiet Combourg mit den Morden zu tun?


    Da sich die Brigade immer mal stärken muss, ist Johan einer große Stütze, der alle mit hervorragenden Speisen und Chouchon (das Vermächtnis der Druiden und eins der ältesten Getränke der Welt) versorgt und ganze Bataillone von Personenschützern problemlos bewirten kann (und natürlich zum Freund von Adamsberg wird im Laufe der Ermittlungen). Humor kommt in Form eines speziellen "Trunks" von Johan auf, der Mercadet problemlos wachhält und Johan fast zu einem Miraculix wird; aber auch in Form einer Schildkrötenformation, wenn auch der Hintergrund weniger lustig ist und man Angst um den Wolkenschieber (mit Streifschüssen bereits versehen) bekommt. Die Dialoge sind typisch für Vargas-Krimis und lassen einen als LeserIn schmunzeln; die Ureigenschaft der Bretonen kommt natürlich auch zum Tragen: "Die Bretagne, Land der ewigen Rebellion und der unmöglichen Unterdrückung" (Alexandre Dumas: Les Chroniques de la Régence, 1849, Zitat S. 227) - ein weiteres Merkmal der Fred-Vargas-Krimis.

    Im letzten Drittel steigt die Spannung an; viele Vernehmungen und Verhöre liegen vor der Brigade und Matthieus Leuten, die vor Ort unterstützen - und könnten hier wegen des Großaufgebots an organisierter Kriminalität wie auch an Personenschützern für etwas Verwirrung sorgen. Einige LeserInnen mag das stören; mich aber hat der neue Kriminalroman von Fred Vargas eher amüsiert und ich hatte unterhaltsame Lesestunden in einer meiner französischen Lieblingsregionen: Der Bretagne! 4**** (und Vorfreude auf den nächsten Vargas-Krimi!


    ASIN/ISBN: 3809027820

    Das Alter als Lebensstufe - Mach was draus!


    "Altern" von Elke Heidenreich, vielen LeserInnen bereits seit Jahrzehnten (Else Stratmann) als Kolumnistin und Autorin bekannt, hat sich in der http://www.reiheleben.de des Hanser Berlin Verlags des Themas auf der ihr unnachahmlichen Weise angenommen, dass es eine Freude und ein Vergnügen ist, es zu lesen (HC, geb., 110 S., 2024). Ich wüsste wirklich nicht, wer dieses sehr lesenswerte Essay der heute über 80jährigen bekannten Autorin hätte besser schreiben können!


    Elke Heidenreich (*1943) beginnt das Thema, dem sie sich stellt (und dem sich alle stellen sollten, am besten auf authentische und ehrliche Weise) mit zwei verschiedenen Versionen ihres Lebensrückblicks: Es kommt auf den Blickwinkel an und augenzwinkernd fordert sie den Leser auf, "sich eine Version auszusuchen". Hier erkennt man bereits die humorvolle, nicht immer friedliche, zuweilen störrische, oft spöttische und immer kämpferische Autorin, die hier einen Essay lieferte über das "Älterwerden", das Altern, das sich wirklich zu lesen lohnt: Es ist sehr schwierig, hier auf den Inhalt detailliert einzugehen, da jeder Satz für sich bemerkenswert erscheint und man sich in vielen Aussagen wiederfindet; die Lebensklugheit und -bejahung stellen dann das Sahnehäubchen dieses wundervollen Essays dar, mit dem E.H. uns beschenkte.


    Apropos Geschenk: "Alles über 60 ist ein Geschenk; alles unter 30 ist Quälerei", so die Meinung der Autorin, worin sich wiederum ihr Humor widerspiegelt.


    E.H. geht auf die verschiedenen Lebensstufen ein; stellt fest, dass der Wert des Alters nicht geringer sein darf als der der Jugend (in die man hineinrasselt, dennoch ahnend, dass das Alter auf einen zukommen wird). Einige namhafte AutorInnen werden zitiert, die sich über das Alter ausgelassen haben; auch Philosophen wie Seneca und Schopenhauer, mit dem ich mich dringend näher beschäftigen möchte, da hier sehr kluge Sätze von ihm versammelt sind (und Elke Heidenreich in jedem ihrer Bücher stets als 'Literaturvermittlerin' auftritt, so wie hier, wenn sie Lyrik, Dichter und Denker zitiert, die sehr Zutreffendes zum Thema äußerten. Allerdings hat E.H. selbst sehr viel - und dies ganz persönlich - zum Thema beizusteuern, ist sie doch inzwischen "im richtigen Alter", sich über dieses auslassen zu dürfen.


    Und das tut sie; auf gewohnte Weise mal ironisch, mal etwas sarkastisch, gar politisch (hier teile ich ihre Meinung absolut) und auch spöttisch: Wenn es z.B. um das 'Styling im Alter' geht, dem sich einige unterziehen: Schönheitschirurgen, Kosmetikindustrie skandieren "jünger, frischer, straffer!" - wovon E.H. (und auch ich) so gar nichts halten. Schon Dieter Hildebrandt stellte mal an entsprechender Stelle (Leute nach Gesichts-Schönheits-OP's) fest: "Dann sitzt die ganze Weisheit hinter den Ohren". :D


    Sehr wohl plädiert E.H. jedoch dafür, sich beizeiten Gedanken über ein erfülltes Alter zu machen; (die großen Tröster Literatur und Musik erachtet sie zeitlebens als sehr wichtig) Struktur und Unabhängigkeit sind dabei von großer Wichtigkeit. In einem Interview zum Buch mit Volker Weidermann (Freunde der Zeit), das im Internet auffindbar und sicher noch abrufbar sein dürfte (meine absolute Empfehlung) trifft E.H. folgende Aussagen:


    "Altern ist sehr individuell (die Alten sind sich weniger gleich als die Jungen); wir kennen multimorbide Alte, welche, die Marathon laufen, wir sehen die verbitterten Alten und die glücklichen Mütter, umsorgt von ihren Kindern; wir sehen die Einsamen, die in ihrer Wohnung sitzen und nix mit sich anfangen können... - d.h. Altern ist sehr individuell und das muss man früh genug wissen und was draus machen." (Interview)


    Die Quintessenz dieses Buches ist für mich die folgende Aussage:

    "Es ist nicht wichtig, wie alt man wird, sondern wie man alt wird" (dass man das früh genug weiß und regelt) (Zitat S. 43 und Interview)


    Auch die Tipps (Interview) finde ich hilfreich für ältere Menschen (ab 60....):

    "Grämt euch nicht so viel, seid nicht so ängstlich, lebt einfach: Seht doch diese Idioten in der Welt (Politiker, wobei sie Länder und Namen nicht ausspart, sich positioniert), diesen Narrativen muss man etwas entgegensetzen!" Und letztendlich: Atmen und dankbar sein (für ein Leben bis zum Alter in einem Land ohne Krieg) - Alter als ein Geschenk; Gesundheit vorausgesetzt).


    Fazit:


    Ein Essay über das Altern, das niemand hätte besser schreiben können als Elke Heidenreich: Ehrlich, humorvoll, augenzwinkernd, lebensbejahend, mal ironisch, mal sarkastisch, oft kritisch - ein sehr ehrliches Buch über Altern, das sowohl persönlich als auch im gesellschaftlichen Kontext überaus lebensbejahend, sich selbst (und das in jedem Alter!) annehmend ist, das Mut macht! Danke Elke Heidenreich für diesen wunderbaren Essay!


    5***** + Buchtipp!!

    Die unverblümten Briefe aus der Rathbone Road


    "Gute Ratschläge" von Jane Gardam erschien (HC, geb., 316 S.) im Verlag Hanser Berlin, 2024.

    In Großbritannien bereits seit den 70er Jahren (sie begann mit 43 Jahren zu schreiben, als ihr drittes Kind eingeschult wurde) eine literarische und mit einigen Preisen ausgezeichnete Größe, wurde sie in Deutschland erst sehr viel später bekannt: Das "Gardam-Universum" konnte man erstmals in Übersetzung in der Trilogie um 'Good Old Filth' betreten. Seit dieser Zeit habe ich es nicht mehr verlassen, da ich von jedem Roman Gardam's sowohl sprachlich wie auch thematisch mehr als begeistert bin und mich über jede Neuerscheinung freue; so auch diese:


    Elizabeth Peabody, 51, zurückgekehrte Diplomatengattin aus der Londoner Rathbone Road, in der natürlich weitere Expats wohnen, hat die Angewohnheit, ihren Nachbarn Briefe zu schreiben, in denen sie ihnen stets 'gute Ratschläge' gibt. Die Nachbarin Joan, die so ganz anders geartet ist als Eliza, beschließt eines Tages, Mann und Kinder zu verlassen, um die Welt zu bereisen, was Eliza wiederum veranlasst, Joan zahlreiche Briefe zu schreiben, die sie an eine Adressenliste richtet, die in den nahen Osten und nach Asien führt: Eine Antwort erhält sie nie, doch das scheint ihrer Schreibwut keinen Abbruch zu tun, ganz im Gegenteil....


    Inhalt dieses herrlich zu lesenden Romans ganz in der Manier und dem unnachahmlichen Schreibstil der Autorin sind nun diese Briefe, die Eliza erst ermahnend (Joan möge doch zurückkommen) und später mehr oder wenig erzürnt absendet (oder auch nicht; das weiß sie später selbst nicht mehr so genau). Spätestens nach dem Auszug von Henry, ihrem Ehemann, der fortan mit Charles, dem Mann von Joan zusammenlebt, ist nichts mehr für Eliza, wie es zuvor gewesen war. Doch wie war es eigentlich?


    Die Briefe strotzen vor Seitenhieben auf die britische upper class, die des öfteren durch den Kakao gezogen wird. Darunter jedoch merkt man nach und nach, dass die Absenderin dieser Briefe, Eliza, auch trotz ihrer Unverblümtheit eine dünnhäutige, sensible Seite hat, die vor vielen Jahren auch vor Verletzungen nicht gefeit war. So geraten die Briefe an Joan auch in eine Art Selbstreflexion und Tagebuch, in denen Eliza von ihrem tristen Eheleben erzählt und von einer Frau, die sich eher als Randfigur verstand (sie wusste nie, welche Leute etwas für sie waren). Sie beschreibt die Gargarys, die Baxters, Anne Robin, die Kinderbuchautorin, die auch Schreibseminare hält, an denen Eliza teilnehmen soll, da sie sich, nun alleinstehend und zunehmend verwirrter, "mit etwas beschäftigen sollte", so Anne. Allerdings beschäftigt sich Eliza bereits: Sie bedient die Spüle und ist ein wichtiger Mensch für einen jungen Mann in dem Hospiz, in dem sie arbeitet: Barry, dem gegen Ende des Romans eine Schlüsselrolle zukommen sollte und dem Eliza sehr zugetan ist.


    Gardam schafft urkomische, ironisch-sarkastische Beschreibungen der "beigen, gepflegten, attraktiven, selbstsicheren, eloquenten Frauen der upper class, die sich königlich amüsieren" (Zitat S. 128). Auch die Herrenclubs, in denen Henry verkehrt, und die es noch immer gibt, werden nicht ausgenommen: "Hier erstrecken sich die Weiten des Schweigens, der Undurchschaubarkeit und der Geheimniskrämerei", so Gardam.

    In einem weiteren Brief an Joan fragt Eliza diese, ob sie diese in Dhakar (ihr langjähriges Domizil) besuchen dürfe, da es ihr in letzter Zeit nicht sehr gut gehe: In ihrer Not wendet sie sich auch an den Priester, Nick Fish - der jedoch keine Zeit für sie zu haben scheint. Als dessen Frau einen unerwarteten Termin hat, springt Eliza dennoch als Aushilfs-Nanny für dessen 3 Kinder ein, was nicht folgenlos in der ein oder anderen Weise bleiben sollte....


    Miss Ingham, die älteste Bewohnerin der Rathbone Road, wird in Gardam'scher Manier wie folgt beschrieben: "Finger schwer von Diamanten, Handvenen voll mit lila Tinte", was wiederum einen Einblick in den ihr eigenen Humor gibt. Von außen betrachtet, mag es wie Halluzinationen aussehen, die sich in das letzte Romandrittel mehr und mehr einschleichen; Eliza selbst fühlt sich verwirrt, doch andererseits blitzen messerscharfe Erkenntnisse durch, in dem sie sich jahrelang als benutzt fühlt, programmiert von Toten, von ihrer Cousine Annie mit ihrem ausgeprägten Sinn für ein geordnetes Leben, von deren Mutter, von idiotischen viktorianischen Sitten.


    Auch wenn gegen Romanende vieles geklärt wird, was dem Leser zunächst unklar war, so habe ich nur einen Kritikpunkt: Zeitweise war es schwierig, zu erkennen, was wahr und was erfunden war; die Botschaft, die ich in "Gute Ratschläge" sehe (abgesehen von den herrlich skurrilen Szenen, die voller Komik sind, mitunter auch tragisch), ist jedoch unverkennbar jene, wie wichtig es ist, zu lieben, zu verzeihen und vor allem sich selbst und die eigenen Bedürfnisse nicht zu vergessen. Auch über so manche positive Entwicklung freut man sich am Ende mit Eliza.


    Fazit:


    Ein weiteres Juwel am Firmament des Jane-Gardam-Universums: Sie verfügt über eine virtuose, scharfzüngige und stellenweise urkomische Sprachkraft, verbunden mit knochentrockenem britischen Humor in Reinkultur, die hier Stück für Stück die Bigotterie der sog. besseren Gesellschaft entlarvt. Eine Leseempfehlung meinerseits (verbunden mit dem Rat, dass Neueinsteiger zuerst die Trilogie um Filth lesen) und 4*.


    ASIN/ISBN: 3446279571

    Die Autorin Lea Santana hat mich mit ihrem zauberhaften Roman "Die Orchideenfrauen" sehr positiv überrascht (ich kannte zuvor noch keines ihrer Bücher, was sich jetzt ändern dürfte), denn er entführt den geneigten Leser in die wundersame und interessante Welt der Orchideen; besonders in Gestalt einer "Vanda coerulea", der eine blaue Blütenpracht zu eigen ist und eine der begehrtesten Raritäten für die Pflanzenjäger darstellt. Erschienen ist der Roman im Lübbe-Verlag (tb, 350 sehr lesenswerte Seiten, 2024).


    Worum geht's?


    Annabel Oxley, eine 72 Jahre alte Orchideenzüchterin (und begabte Zeichnerin, sie hat in Kew Garden 'Botanical Arts' studiert) beschließt schweren Herzens aus Finanznot, sich von ihrem Haus in Cornwall zu trennen. Um die Formalitäten zu klären, begibt sich Holly Greenwood auf den Weg zu ihr, um Fotos für die Immobilienagentur zu schießen, für die Holly arbeitet. Sie hat gerade eine schmerzhafte Trennung von ihrem Verlobten hinter sich, weshalb sie sich umso mehr in ihre Arbeit stürzt: Durch ein Schaf namens Myrtle, das eine schicksalhafte, aber sehr liebenswerte Nebenfigur im Roman spielt und eher unvermittelt auf Straßen anzutreffen ist, sieht sich Holly gezwungen, nochmal wegen des Unfalls mit Myrtle zu Mrs. Oxley, die sich als knurrige alte Dame entpuppt hat, zurückzukehren, da ihr Mini nicht mehr fahrbereit ist... Dadurch kommen sich beide Frauen näher und Holly erfährt im Wintergarten von Mrs. Oxley, weshalb ihr die Orchideen so am Herzen liegen: Verkaufen will sie sie auf keinen Fall - und wenn überhaupt, dann nur einem speziellen italienischen Sammler in Ligurien....


    Holly beschließt, Annabel zu helfen und fährt mit dieser Richtung Italien, um die Orchideen an der ligurischen Küste dem zukünftigen Eigner anzuvertrauen: So nimmt das Schicksal seinen Lauf und manches kommt ganz anders, als Holly es sich zuvor dachte, was mit verhängnisvollen Ereignissen zu tun hat, die sich Ende der 60er Jahre in Siestra Levante zugetragen haben...


    Meine Meinung:


    Dieser Roman hat mich auf vielfältige Weise sehr positiv überraschen können: Er ist flüssig, humorvoll und warmherzig geschrieben, die beiden Zeitebenen greifen gekonnt ineinander über (Cornwall, heute und Ligurien, 1968/69) und die ProtagonistInnen überzeugen, sind Sympathieträger, was sowohl für Holly als auch besonders für Annabel gilt: Im Verlaufe dieser 'Dramödie', die wirklich herrlich zu lesen ist, bekommt die Reise nach Italien einen anderen Beigeschmack, da sie mit Annabels Vergangenheit sehr viel zu tun hat: Es geht um Liebe, um Familie, um Enttäuschung und Rache - und um Verzeihen. Auch um Freundschaft und Verständnis; so nähern sich die beiden nicht nur altersmäßig ungleichen Frauen immer mehr an und werden schließlich zu Freundinnen. Auch die Familie Lana, eine wohlsituierte italienische Familie, in der Orchideen durch die Mutter, die sie einst züchtete, bekommt Sympathiepunkte; ganz besonders natürlich Gianfranco Lana, dem eine Schlüsselrolle in dem herzerwärmenden Liebesroman zukommt.


    Der Autorin gelingt es, die beiden Frauen, Annabel und Holly sowohl in Cornwall als auch auf ihrer Reise nach Italien und in Ligurien liebenswert zu zeichnen; besonders die barsch wirkende, mürrische und knurrige Annabel muss man einfach ins Herz schließen, da man den weichen Kern dieser Figur schon ahnt... Einige Dialoge sind durch den trockenen Humor Annabel's einfach zum Schmunzeln; andere Sachverhalte dagegen sind auch heftig, z.B. die Vorgehensweise des Vaters von Annabel. Eine Person, die das zeichnerische Talent von Annabel bereits früh entdeckt und sie fördert, fand ich sehr positiv (brauchen wir nicht alle einen Förderer, der uns unterstützt, um den eigenen Weg gehen zu können, Ziele zu erreichen?) Eine weitere 'Nebenfigur' ist Vanda, eine begehrte blaublütige Orchidee, für die einige SammlerInnen ein kleines Vermögen zahlen würden: Auch hier erfreut die Autorin ihre LeserInnen mit tollen Informationen über die Welt der Orchideen, die mir zuvor fremd war. (Ich kenne mich eher in Stauden aus^^).


    Fazit:


    Eine 'Dramödie' mit Tiefgang, die einerseits dramatische, aber auch romantische Anteile hat. Eine fantasievolle, durchdachte Story, die mir auf beiden Zeitebenen, die sich spannend miteinander abwechselten, sehr gefallen und mir schöne und interessante Lesestunden beschert hat: Ein niveauvoller, unterhaltsamer (Liebes)roman, der mit warmherzigen Figuren aufwartet, emotional packend ist und wichtige (Lebens)themen beinhaltet: Positiv überrascht kann ich hier eine absolute Empfehlung aussprechen und vergebe gerne die volle Punktezahl am literarischen Orchideen- und Pflanzenhimmel, 5*


    ASIN/ISBN: 3404193296