Die unverblümten Briefe aus der Rathbone Road
"Gute Ratschläge" von Jane Gardam erschien (HC, geb., 316 S.) im Verlag Hanser Berlin, 2024.
In Großbritannien bereits seit den 70er Jahren (sie begann mit 43 Jahren zu schreiben, als ihr drittes Kind eingeschult wurde) eine literarische und mit einigen Preisen ausgezeichnete Größe, wurde sie in Deutschland erst sehr viel später bekannt: Das "Gardam-Universum" konnte man erstmals in Übersetzung in der Trilogie um 'Good Old Filth' betreten. Seit dieser Zeit habe ich es nicht mehr verlassen, da ich von jedem Roman Gardam's sowohl sprachlich wie auch thematisch mehr als begeistert bin und mich über jede Neuerscheinung freue; so auch diese:
Elizabeth Peabody, 51, zurückgekehrte Diplomatengattin aus der Londoner Rathbone Road, in der natürlich weitere Expats wohnen, hat die Angewohnheit, ihren Nachbarn Briefe zu schreiben, in denen sie ihnen stets 'gute Ratschläge' gibt. Die Nachbarin Joan, die so ganz anders geartet ist als Eliza, beschließt eines Tages, Mann und Kinder zu verlassen, um die Welt zu bereisen, was Eliza wiederum veranlasst, Joan zahlreiche Briefe zu schreiben, die sie an eine Adressenliste richtet, die in den nahen Osten und nach Asien führt: Eine Antwort erhält sie nie, doch das scheint ihrer Schreibwut keinen Abbruch zu tun, ganz im Gegenteil....
Inhalt dieses herrlich zu lesenden Romans ganz in der Manier und dem unnachahmlichen Schreibstil der Autorin sind nun diese Briefe, die Eliza erst ermahnend (Joan möge doch zurückkommen) und später mehr oder wenig erzürnt absendet (oder auch nicht; das weiß sie später selbst nicht mehr so genau). Spätestens nach dem Auszug von Henry, ihrem Ehemann, der fortan mit Charles, dem Mann von Joan zusammenlebt, ist nichts mehr für Eliza, wie es zuvor gewesen war. Doch wie war es eigentlich?
Die Briefe strotzen vor Seitenhieben auf die britische upper class, die des öfteren durch den Kakao gezogen wird. Darunter jedoch merkt man nach und nach, dass die Absenderin dieser Briefe, Eliza, auch trotz ihrer Unverblümtheit eine dünnhäutige, sensible Seite hat, die vor vielen Jahren auch vor Verletzungen nicht gefeit war. So geraten die Briefe an Joan auch in eine Art Selbstreflexion und Tagebuch, in denen Eliza von ihrem tristen Eheleben erzählt und von einer Frau, die sich eher als Randfigur verstand (sie wusste nie, welche Leute etwas für sie waren). Sie beschreibt die Gargarys, die Baxters, Anne Robin, die Kinderbuchautorin, die auch Schreibseminare hält, an denen Eliza teilnehmen soll, da sie sich, nun alleinstehend und zunehmend verwirrter, "mit etwas beschäftigen sollte", so Anne. Allerdings beschäftigt sich Eliza bereits: Sie bedient die Spüle und ist ein wichtiger Mensch für einen jungen Mann in dem Hospiz, in dem sie arbeitet: Barry, dem gegen Ende des Romans eine Schlüsselrolle zukommen sollte und dem Eliza sehr zugetan ist.
Gardam schafft urkomische, ironisch-sarkastische Beschreibungen der "beigen, gepflegten, attraktiven, selbstsicheren, eloquenten Frauen der upper class, die sich königlich amüsieren" (Zitat S. 128). Auch die Herrenclubs, in denen Henry verkehrt, und die es noch immer gibt, werden nicht ausgenommen: "Hier erstrecken sich die Weiten des Schweigens, der Undurchschaubarkeit und der Geheimniskrämerei", so Gardam.
In einem weiteren Brief an Joan fragt Eliza diese, ob sie diese in Dhakar (ihr langjähriges Domizil) besuchen dürfe, da es ihr in letzter Zeit nicht sehr gut gehe: In ihrer Not wendet sie sich auch an den Priester, Nick Fish - der jedoch keine Zeit für sie zu haben scheint. Als dessen Frau einen unerwarteten Termin hat, springt Eliza dennoch als Aushilfs-Nanny für dessen 3 Kinder ein, was nicht folgenlos in der ein oder anderen Weise bleiben sollte....
Miss Ingham, die älteste Bewohnerin der Rathbone Road, wird in Gardam'scher Manier wie folgt beschrieben: "Finger schwer von Diamanten, Handvenen voll mit lila Tinte", was wiederum einen Einblick in den ihr eigenen Humor gibt. Von außen betrachtet, mag es wie Halluzinationen aussehen, die sich in das letzte Romandrittel mehr und mehr einschleichen; Eliza selbst fühlt sich verwirrt, doch andererseits blitzen messerscharfe Erkenntnisse durch, in dem sie sich jahrelang als benutzt fühlt, programmiert von Toten, von ihrer Cousine Annie mit ihrem ausgeprägten Sinn für ein geordnetes Leben, von deren Mutter, von idiotischen viktorianischen Sitten.
Auch wenn gegen Romanende vieles geklärt wird, was dem Leser zunächst unklar war, so habe ich nur einen Kritikpunkt: Zeitweise war es schwierig, zu erkennen, was wahr und was erfunden war; die Botschaft, die ich in "Gute Ratschläge" sehe (abgesehen von den herrlich skurrilen Szenen, die voller Komik sind, mitunter auch tragisch), ist jedoch unverkennbar jene, wie wichtig es ist, zu lieben, zu verzeihen und vor allem sich selbst und die eigenen Bedürfnisse nicht zu vergessen. Auch über so manche positive Entwicklung freut man sich am Ende mit Eliza.
Fazit:
Ein weiteres Juwel am Firmament des Jane-Gardam-Universums: Sie verfügt über eine virtuose, scharfzüngige und stellenweise urkomische Sprachkraft, verbunden mit knochentrockenem britischen Humor in Reinkultur, die hier Stück für Stück die Bigotterie der sog. besseren Gesellschaft entlarvt. Eine Leseempfehlung meinerseits (verbunden mit dem Rat, dass Neueinsteiger zuerst die Trilogie um Filth lesen) und 4*.