Lieber Maikäfer,
eine komplexe Frage die du da stellst. Und gar nicht so einfach zu beantworten.
Ich werde es trotzdem versuchen, mal sehen ob was brauchbares dabei rauskommt...
Also gleich vorweg, ich hab noch nie einen Krimi geschrieben und weiß ganz genau, dass ich das auch gar nicht könnte, weil mir dazu einfach die kriminelle Phantasie fehlt. Es interessiert mich schlicht und einfach nicht genug. Außerdem gibt es ja schon ausreichend Krimiautoren auf der Welt.
Was mich allerdings interessiert sind Menschen mit all ihren Facetten, mit ihren guten und schlechten Seiten, Abgründen und Fähigkeiten. Und das war letzlich auch das, was mich an Henrys Geschichte am meisten fasziniert hat - ich hatte die Möglichkeit, viele unterschiedliche Menschenschicksale anzuschauen und darzustellen. Henry ist dabei natürlich eine ideale Figur - denn durch die ihm innewohnende Naivität konnte ich einen Blick auf die Menschen und ihre Geschichte werfen, der einem sonst versagt bleibt. Oder sagen wir, der sonst maximal von einem Kind akzeptiert wird - und wenn das dann schlaue Gedanken denkt, gilt es als altklug und das finden alle doof. Ein Bär darf naiv sein. Und trotzdem weise.
Was das betrifft, kann man natürlich schon von Handwerk sprechen. Henrys Attribute habe ich bewusst eingesetzt und versucht, seine "Bärigkeit" sowohl gedanklich als auch emotional herauszustellen.
Was aber die Geschichten der Menschen angeht, die im Buch vorkommen - und letztlich sind es ja ihre Geschichten, um die es geht - Henry bleibt ja trotz allem Beobachter und sieht nur das von der Welt, was sie ihm gestatten zu sehen - ist viel eigene Emotionalität miteingeflossen. Ich glaube, das kann man kaum verhindern (jedenfalls ich nicht). Wenn Emotionen keine hohlen Phrasen sein sollen, wenn sie spürbar und nachvollziehbar sein sollen, muss man die eigene Klaviatur bemühen. Das heißt nicht unbedingt, dass man die Geschichten dazu selbst erlebt haben muss. Das ist letztlich die Kunst der Fiktion: Dass man in der Lage ist die eigene Emotionalität in neuem Gewand erscheinen zu lassen.
Klingt jetzt vielleicht alles hochgestochen. Ich weiß nicht. Aber wenn du mich fragst, dann liegt für mich die Herausforderung beim Schreiben darin, handwerkliches Können mit eigenen Emotionen zu einer guten Geschichte zu verbinden.
Ich habe ja viele Jahre als Lektorin gearbeit und unendlich viele Texte redigiert. Man sollte also meinen, dass ich theroetisch in der Lage sein sollte, genau zu sagen, wie ein Text gestrickt sein muss, um zu "funktionieren". Ja, aber in der Praxis sieht es dann eben doch so aus, dass die Worte sich einfach aufs Papier schleichen und das theoretische Wissen plötzlich mehr eine Ahnung ist ...