Philipp speaking: Heute möchte ich mal ein paar allgemeinere Dinge vorbringen, als summarische Antwort auf einige Fragen, die immer wieder in der Leserunde auftauchen. Da ich wegen einer neuen Geschichte sehr in Zeitnot bin, schaffe ich es einfach nicht, detailliert und im einzelnen an den jeweils entsprechenden Diskussionsbeiträgen anzuzdocken. Ich hoffe, das ist für Euch so in Ordnung.
1 Dürfen Autoren, wenn "Warte auf mich" denn eine wahre Geschichte ist, ihr Innerstes in einem Roman so nach außen kehren?
Ich werde hier natürlich nicht den Schleier lüften, doch das Thema ist von so grundsätzlicher Bedeutung, dass ich zumindest entsprechend grundsätzlich darauf antworten möchte. Ich glaube, wirkliche Autoren können gar nicht anders, als ihr Innerstes durch ihre Geschichten nach außen zu kehren. Es ist nicht nur ihr Beruf, sondern ihre Berufung, Erlebtes, Erhofftes, Befürchtetes - was immer sie bedrängt und beglückt - , schreibend zu verarbeiten, weil es dann für sie erst WIRKLICH wird. Alles andere ist Lohnschreiberei. Eine solche Verarbeitung des eigenen Lebens erfolgt natürlich nicht in einer eins-zu-eins-Abbildung, sondern in einer Verdichtung von Realität und Imagination. Dabei hat nicht die Realität "das Sagen", vielmehr ist sie immer nur ein Steinbruch, aus dem die Imagination sich bedient. Denn worauf es in jedem Roman ankommt, ist das Warum und Wozu ich eine Geschichte erzähle: ihr Bedeutungsgehalt, die alles bestimmende Idee, um dem Steinbruch des Lebens, der oftmals auch ein Scherbenhaufen ist, also den AN SICH sinnlosen Partikeln von Erlebnissen, Gedanken und Taten, die die Existenz eines Menschen ausmachen, einen Sinn abzuringen. Oder, wie Baudelaire es mal in einem seiner Paris-Gedichte gesagt hat, Kot in Gold zu verwandeln. Berühmtes Beispiel: Thomas Mann, Tod in Venedig. In der Novelle hat der Autor seine eigene Homosexualität, die ihn bekanntlich unendlich plagte, künstlerisch verarbeitet, indem er diesen inneren Konflikt zugleich in einem grundsätzlichen menschlichen Konflikt widerspiegelte - dem Konflikt zwischen den dyonischen und apollonischen Trieben, die in jedem Menschen hausen und miteinander streiten. Frage: Hätte er das tun dürfen? Hat er dadurch nicht seine Frau zutiefst verletzt? Vielleicht auch seinen Sohn Klaus (bei dessen Anblick in der Badewanne, wie TM in seinen Tagebüchern verrät, stets eine Erektion bekam), als dieser alt genug war, um zu verstehen, was der Vater schrieb? Zum Glück hat Thomas Mann sich um diese bürgerlich-moralischen Fragen nicht geschert, sondern ist seinem künstlerischen Impuls gefolgt. Denn der "Kot" seiner Seele, seine von ihm als so qualhaft empfundene Homosexualität, hat uns Lesern eine Novelle beschert, die reines "Gold" ist.
2 Haben die Protagonisten sich außerhalb des Bettes nichts zu sagen?
Auf die Gefahr hin, mich jetzt sehr unbeliebt zu machen: Man muss den Roman schon sehr oberflächlich lesen, um die Beziehung von Miriam und Philipp so gründlich misszuverstehen. Die ganze Geschichte ist eine einzige Abfolge von Seelenerkundigungen. Das beginnt mit der ersten Nacht im Hotel, in der ja nichts anderes geschieht, als dass Philipp versucht, sich in Miriams Seele hinein zu denken und zu träumen. Entsprechend die Tatsache, dass er sich durch ein Buch von ihr in sie verliebt, ihr Körper ist nicht das Faszinosium, weshalb er sie begehrt - sie ist äußerlich nicht mal sein Typ. Und wirklich ist es erst um ihn geschehen, als die beiden eine ganze Nacht miteinander telefonieren und sich gegenseitig ihr Innerstes preis geben, von Dingen reden, von denen sie zu niemandem sonst geredet haben oder reden konnten ... Können sich zwei Menschen sich platonischer ineinander verlieben als diese zwei? Und auch die Himmelfahrten, die auf die erste "richtige" gemeinsame Nacht folgen, sind keine Bettszenen, sondern Beschreibungen zweier Seelen, die sich gefunden haben, kulminierend in der Badewannen-Episode. Ja, sie haben tatsächlich vergessen, das Wasser einlaufen zu lassen. Weil der Zustand solcher Seelen-Verliebtheit nichts anderes ist als eine hochgradige Form der Selbstvergessenheit, in der man die Welt rings um einen herum einfach nicht mehr wahrnimmt. Ich kann jedem Menschen nur wünschen, so etwas einmal zu erleben. Es ist schlicht der Himmel auf Erden.
3 Warum dreht sich die ganze Geschichte nur um Miriam und Philipp?
Das ist das Warum und Wozu der Geschichte. Alles spricht gegen die Beziehung der zwei - sowohl beider Hintergrund wie auch beider Erwartungen an ihre jeweilige Zukunft, vor allem natürlich Philipps Bindung. Aber was stört das die Liebe? Sie schert sich nicht um das, was vernünftigerweise oder auch moralisch das Richtige wäre. Wen sie trifft, der hat keine Chance - und wenn er sich noch so heftig zur Wehr setzt. Das tun beide. Philipp erklärt sich selbst für einen alten Idioten, kann es selber nicht fassen, wie er seine Frau belügt - und tut es eben doch, weil Miriams Anziehung stärker ist als seine inneren Hemmnisse der Wohlanständigkeit. Darum bedrängt er Miriam, ohne Rücksicht auf deren Widerspruch. Weil er spürt, dass ihr Widerspruch ja auch eine Verleugnung ihrer eigenen Gefühle ist ... Und dann kommt eben die Frage: Wie ist unter solchen Bedingungen eine Liebe möglich? Antwort: Gar nicht. Aber weil Miriam und Philipp eben nicht mehr Herr ihrer selbst, sondern Ausführungsorgane ihrer Liebe sind, versuchen sie es dennoch. Indem sie die wirkliche Welt rings um sich her ausblenden. So weit es eben geht. Beziehungsweise bis es nicht mehr geht.
4 Warum wird Philipps Frau nicht ausführlicher dargestellt?
Philipp liebt seine Frau. Philipp liebt Miriam. Das ist sein Konflikt. Dieser Konflikt ist unauflöslich. Das weiß Philipp in seinem Innern auch, fürchtet es und will es dennoch nicht wahrhaben. Darum nennt er seine Frau, im Zusammenhang mit Miriam - also in dem ganzen Roman -, kein einziges Mal mit Namen. Diese Namenlosigkeit der Frau ist geradezu eine Voraussetzung dafür, dass er an dem Konflikt nicht völlig kaputt geht: ein Selbstbetrug, der ja auch nicht wirklich aufgeht. Doch so sehr seine Frau in den ersten zwei Dritteln des Romans im Hintergrund bleibt - als sie endlich in Erscheinung tritt, tut sie das in überaus deutlicher Weise. Man braucht ihren Charakter gar nicht ausführlich zu beschreiben, sie offenbart ihn in dem, WAS SIE TUT. Durch die Veröffentlichung des Manuskripts, die ihr natürlich alles andere leicht fällt (und zu der sie sich ganz bestimmt nicht als Agentin, sprich: aus finanziellen Erwägungen heraus entscheidet), zwingt sie Miriam und Philipp, Farbe zu bekennen, ihre Geschichte zu einem offenen und ehrlichen Abschluss zu bringen. Auch auf die Gefahr hin, dass sie selber Opfer dieses Abschlusses sein kann. Damit alle Beteiligten die Chance haben, wieder Tritt in ihrem Leben zu fassen - in welchem Leben auch immer. Das ist ihre Größe, die Größe dieser namenlosen Frau, die nur scheinbar eine Nebenfigur ist (wenn man sich an der Zahl ihrer Auftritte orientiert), tatsächlich aber eine Hauptfigur, weil sie das Realitätsprinzip im Roman darstellt.
So, genug gequasselt. Ich hoffe, diese paar Erläuterungen, was wir uns beim Schreiben gedacht haben, helfen Euch ein bisschen, den Roman vielleicht auch mal in einem anderen Licht zu sehen, als er hier in manchen Kommentaren erscheint. Damit möchte ich keine Kritik wegbügeln, nur eine Lesart vorschlagen, um die es uns als Autoren ging. Vielleicht, so zeigen manche Eurer Beiträge, hätten wir das im Roman etwas deutlicher machen sollen. Wenn wir uns dagegen entschieden haben, dann aus einem einfachen Grund: Wir wollten unseren Lesern nicht die Brille unserer eigenen Interpretation auf die Nase setzen. Denn eines der schönsten Erlebnisse beim Lesen ist es immer, wenn durch die Lektüre eine Geschichte im Kopf des Lesers neu und anders entsteht. Das müssen und wollen wir als Autoren respektieren, selbst wenn uns dadurch unsere eigene Geschichte hin und wieder geradezu fremd wird.
. Da ich mit diesem Kommentar nun allerdings doch gegen unsere unsere ursprüngliche Absicht verstoßen habe, kann ich mich nur mit einem Bonmot von Ernst Jünger dafür entschuldigen: "Wer sich selbst kommentiert, geht unter sein Niveau."