Beiträge von Jarmusch

    Michael Schweßinger ist einfach gegangen, ließ das alte Leben hinter sich und verschwand ins Ausland. Im Buch erzählt er, gerade wieder nach Deutschland zurückgekehrt, von Erlebnissen aus seiner Zeit in Afrika und Irland. Auf verklärte Auswanderer-Romantik verzichtet er dabei.


    Schweßinger gewährt ungewöhnlich persönliche Einblicke, teilt uneingeschränkt Enttäuschungen, Glücksgefühle und Erstaunen. Beim Lesen taucht man vollkommen in sein Leben im Ausland ein, lacht bei Anekdoten über irische Kauzigkeit und kommt bei Poetik über Einsamkeit ins Nachdenken. Neben ihm blickt man in afrikanische Gewehrläufe, unterhält sich im dunklen Cottage mit Mellvilles Bartleby, zuckelt auf dem Beifahrersitz seines alten Toyota Starlets durch die menschenleeren Landschaften Irlands und entspannt in einem gemütlichen Pub vorm Feuer. Bis man das Buch schließlich beiseitelegt und wieder in der Gegenwart ankommt.


    Ein beeindruckend ehrliches Résumé seiner Flucht in die Fremde.


    Edit: Buchtitel und Autorenname in den Threadititel eingesetzt. LG JaneDoe

    Slam-Texte müssen sich oft das Vorurteil gefallen lassen, oberflächlich auf Publikumslacher geschrieben zu sein und wenig inhaltliche Relevanz zu bieten.


    René Sydow aber gräbt tief und vertritt selbstbewusst seinen Standpunkt. Er ist Gesellschaftskritiker, nimmt Politik und Medien gleichermaßen aufs Korn und scheut sich nicht davor, Namen zu nennen. Dabei wählt er nicht nur prominente Ziele, sondern schaut sich auch auf der Straße um: er beobachtet, analysiert, kritisiert, moralisiert. Dabei kommt die Komik definitiv nicht zu kurz, skurrile Begegnungen mit Alfred Jodokus Kwak und ähnlichen Gestalten inklusive. Zwischen den satirischen Texten finden sich aber auch nachdenkliche Erzählungen und Lyrik. Sydow lässt sich nicht auf ein Genre festlegen, überrascht in dieser Textsammlung immer wieder und lässt einem das Lesen nicht langweilig werden. Vor allem beeindruckt er mit sprachlichen Raffinessen: Er spielt geschickt mit den Worten, wirbelt sie herum und setzt sie neu zusammen.


    Vielleicht ist es gerade die Schonungslosigkeit gepaart mit gewagter Wortakrobatik, die ihn in der Slam-Szene so schnell erfolgreich werden ließ. Das Buch macht auf jeden Fall Spaß, fordert aber auch zum Nachdenken auf - oberflächliche Unterhaltungslektüre sieht anders aus. Man kann es auf eine Zugfahrt mitnehmen oder beim täglichen Pendeln in der S-Bahn lesen, aber unterschätzen sollte man es nicht. Besonders empfehlenswert ist das Anhören der beiliegenden CD, auf der Sydow mit selbst eingesprochene Texte überzeugt.

    Schon das sehr gelungene Cover der Erzählung „Nicht von dieser Welt“ von Meik Höllenkrämer ist komplett verdreht. Genauso verdreht wie die Gedankenwelt des namenlosen Protagonisten, einem Zwangsneurotiker mit Suizidgedanken. Sein Leben kreist, wie im Untertitel bereits vorweggenommen, um den Konsum von Zigaretten und Käse. Die Beschaffung dieser Drogen und die damit verbundenen Begegnungen mit der Außenwelt, überfordern ihn jedoch heillos und werden zum Großprojekt seines Alltags. Doch es bleibt nicht beim Drama um die Zigaretten, er wird schließlich in die Welt geschubst und macht, einen Bollerwagen hinter sich herziehend, Bekanntschaft mit spannenden Dingen wie Schlangenbissen und der Liebe.


    Es ist stellenweise eine Herausforderung, seinen gehetzten Gedankengängen zu folgen, denn einen roten Faden gibt es nicht immer. Die Sprache ist geprägt von thematischen Sprüngen, teilweise besteht der Text nur aus Gedankenfetzen. Gelegentlich wird auch ins Lyrische gewechselt und dazwischen gibt es plötzlich einen Bruch, bei dem der Leser direkt angesprochen wird. Das Lesen wird so manchmal erschwert, aber gerade dieser Stil prägt den Charakter des Buches und lässt den Leser das Chaos im Kopf des Protagonisten nachempfinden.


    Höllenkrämer schafft darüber hinaus das Kunststück, dem ernsten Thema komische Untertöne zu verleihen und der depressiven Grundstimmung des Protagonisten so immer wieder komödiantischen Gegenwind zu bieten. Wenn man sich auf die oftmals wirre Erzählung einlässt, erwartet einen also ein spannendes Lese-Erlebnis.
    Edit: Name des Autors im Threadtitel ergänzt. LG JaneDoe

    Beim Lesen der ersten Seiten von „Das schwere Ende von Gustav Mahlers Sarg“ von Clint Lukas könnte man meinen es handelt sich um einen der typischen Berlin-Romane, in denen sich ein frustrierter Mittzwanziger über seine spießige Umwelt auslässt. Daniel hat nichts gelernt, schlägt sich mit einem Job in einer Currywurst-Bude auf dem Hackeschen Markt durch und berichtet genervt von seinem Überdruss. Doch schnell offenbart sich dem Leser mehr und auch wenn man sich über den Protagonisten stellenweise wundern kann, wird er schnell sympathisch und man folgt ihm gebannt durch sein zunehmend aufregenderes Leben.


    Daniel lässt sich zunächst vom Zufall treiben: beginnend in Berlin geht es weiter nach Wien, von da aus nach Jerusalem und schließlich wieder zurück in die deutsche Hauptstadt. Unbeeindruckt lässt er sein Leben einfach geschehen, erzählt gelassen von Alkoholexzessen und Puff-Abenteuern. Doch bald bietet sich ihm eine Perspektive und die eher zufällig entstandene Idee einen eigenen Film zu drehen lässt ihn nicht mehr nicht mehr los. Er wird Teil einer turbulenten Theaterproduktion unter Leitung des verschrobenen Regisseurs Julius Janker, später dreht sich sein Leben um die Herausforderungen einer Kurzfilmproduktion und dazwischen begegnet ihm die Liebe und verändert alles.


    Mit überraschendem Tiefgang und schonungsloser Offenheit erzählt Lukas von dem Hunger nach Verwirklichung und der Unberechenbarkeit der Liebe. Er porträtiert die Menschen in Daniels Umgebung aus dessen Sicht, überlässt die Wertung dabei aber weitgehend dem Leser. Die schnoddrige Sprache macht Spaß und das Buch lässt leicht lesen, so dass man es ungern aus der Hand legt. Diese Anziehungskraft lebt vor allem von der Authentizität, die sich nicht zuletzt durch die autobiographische Inspiration erklären lässt: Wie sein Protagonist lebt Lukas in Berlin, hat weder studiert noch etwas gelernt, schreibt Texte und produziert zudem Filme mit der Lukas & Levi Filmproduktion.


    Seine filmerische Tätigkeit führt zu dem Clou dieses Buches, bei dem es sich um ein multimediales Zusammenspiel aus dem Roman und einer beigelegten DVD handelt. Ist das Buch ausgelesen, kommt der Leser so weiterhin in den Genuss von Lukas´ Kreativität, der bei der Produktion Regie führte. Die DVD beinhaltet den im Verlauf des Romans entstandenen 30minütigen Kurzfilm „Coke and Tarts“, schließt damit unmittelbar an die Geschichte um Daniel an und lässt Fiktion und Realität endgültig verschwimmen. Mit kunstvollen Kameraeinstellungen wird auf genauso unverhohlene und direkte Art wie im Roman von einem Kneipenabend mit Freunden erzählt, von – wie der Titel bereits verspricht – Koks und Nutten. Aber auch hier taucht wieder eine Frau auf und bringt die Liebe ins Spiel...


    Lukas´ Direktheit und Offenheit könnten einen allzu zart besaiteten Leser und Zu-schauer stellenweise fordern, aber gerade das macht beides empfehlenswert. Die Kombination aus Roman und Film ist ein spannendes und definitiv gelungenes Experiment.


    Edit: Name des Autors im Threadtitel hinzugefügt. LG JaneDoe

    Theresa Rath: Die Ketten, die uns halten
    Periplaneta
    ISBN-13: 978-3940767905
    Belletristik
    1. Auflage, 08/2012
    Softcover
    [D] 13,90€


    Verlagsseite


    Klappentext:
    In ihren Kurzgeschichten entwirft Theresa Rath feinsinnige Szenarien und offenbart so manch bittere Wahrheit über die Spezies Mensch. Angetrieben vom Wunsch nach Erfolg, Liebe, Anerkennung, nach dem perfekten Körper und dem perfekten Leben sind ihre Helden gefangen in gesellschaftlichen Zwängen und Abhängigkeiten. Die meisten haben es sich in einer zweifelhaften Sicherheit bequem eingerichtet und nur wenige sind gewillt, die Ketten, die sie (zurück)halten, zu sprengen.


    Meine Meinung:
    Die gefühlte Diskrepanz zwischen zu erfüllender sozialer Rolle und Selbstbild wird als Entfremdung bezeichnet. Ein Gefühl, das sich in der Regel vor allem im fortgeschrittenen Alter mit verfestigten Lebensumständen einstellt. Mit der Kurzgeschichtensammlung „Die Ketten, die uns halten“ beweist die Berliner Jungautorin Theresa Rath jedoch eindrucksvoll, dass man auch in jungen Jahren der Entfremdung literarisch auf die Spur kommen kann. Der dichte Eingangstext „Home Run“ umreißt das Terrain, auf dem sich die folgenden Geschichten und Gedichte bewegen: Das dichte Netz aus Erwartungen, Beziehungen und Sachzwängen wird immer wieder mit der Hoffnung der Protagonisten nach Entschleunigung und Authentizität konfrontiert. Dabei gelingt es Theresa Rath, nüchtern Wünsche und Hoffnungen zu protokollieren und offen zu lassen, inwiefern ein Ausbruch überhaupt möglich ist. So wird etwa auch im Text „Frauenkunde“ die soziale Rolle mit den eigenen Bedürfnissen abgeglichen und schließlich der Wunsch nach einem Ausbruch formuliert – aber eben nur formuliert. Denn die Ketten halten: Eine soziale Rolle bringt nun mal auch Anerkennung und Akzeptanz und auf die lässt sich ebenso schwer verzichten, wie sich Routinen überwinden lassen. Und so beobachtet der Leser das Geschehen mit zunehmendem Unbehagen, weiß er sich doch hinter ähnlichen Gittern. Die Ketten, die uns halten, sind immer auch ein Teil von uns. Da fällt das Kappen schwer, manchmal ist es auch nicht möglich, und manchmal wird – wie in „Der Fremde“ – sogar ihr Fehlen betrauert.


    Mit „Die Ketten, die uns halten“ ist Theresa Rath ein lebenskluges Buch über Zwänge und Pflichten gelungen, das die leisen Töne auch da nicht scheut, wo es eigentlich nur noch zum Schreien ist.

    Andreas Keck: Schneeblind
    Periplaneta
    ISBN13: 978-3940767042
    ISBN10: 3940767042
    Belletristik
    1. Auflage, 02/2008
    Softcover
    [D] 12,99€


    Verlagsseite


    Am Anfang steht die Hoffnung auf eine endogene Ursache. Endogen, das bedeutet von innen heraus wirkend, und wie Ertrinkende klammern sich die Eltern an diesen letzten Strohhalm. Aber es nützt nichts: Ihr Sohn, Mathias Renert, muss wegen seiner Depression in die Psychiatrie. Erst beim zweiten Anlauf fügt sich der 24-jährige Zoologie-Student, mehr aus Lethargie, denn aus Überzeugung und findet sich so zwischen gutwilligen Krankenschwestern, pharmaziegläubigen Mitinsassen und hilfsbereiten Psychiatern wieder, die vor allem eins wissen wollen: Was ist dein Problem?


    Dass Mathias keinen Schimmer hat, bildet die Ausgangssituation von Andreas Kecks Debütroman „Schneeblind“, der 2008 beim Berliner Periplaneta-Verlag erschienen ist. Bereits in der ersten Therapiesitzung kommt das Gespräch auf den Vater, der Leser stellt sich daruaf ein, mit dem Protagonisten gemeinsam auf Spurensuche zu gehen … Mitnichten!


    Denn was Keck seiner Figur als ersten Satz in den Mund legt – Ich sehe keinen Sinn darin, zu erklären, warum ich hier bin – ist kein Lippenbekenntnis; es stellt die Weichen für einen Roman, der sich nicht damit beschäftigen will, warum jemand vom „Normalen“ zum „Irren“ wird. „Schneeblind“ setzt eher darauf, die Gefühlswelt eines jungen Menschen auszuleuchten, den das Leben unvermittelt von der Gewinnerseite katapultiert hat, mitten in eine Irrenanstalt, und der kraftlos mit seiner Diagnose ringt. Geschickt spielt der Autor mit diversen Vorurteilen im Themenbereich Psychiatrie, indem er dank Mathias‘ Bestreben, sich aus der Gemeinschaft der „Irren“ auszuklammern, dem Leser ermöglicht, in den Beobachtungen des frischgebackenen Patienten eigene Denkmuster zu finden und zu reflektieren – sofern man in der Stimmung ist. Denn die unkonventionell direkte Erzählweise, in der Mathias seine psychiatrische Abstinenz vom Leben wiedergibt, polstert das zu Schwermut neigende Sujet angenehm aus und schafft Freiräume für gedankliche Bonmots und einen humorvollen Unterton – hält den Leser gleichzeitig aber auf Distanz: Gerade zu Anfang fällt es schwer, diesem Mathias Renert sein psychisches Leiden wirklich abzunehmen.


    Dass Protagonist und Leser trotzdem emotional aufeinandertreffen, hat denn auch weniger mit der unverblümten Klarheit, in der Mathias seine eigenen
    Zusammenbrüche seziert, zu tun, als mit dem Auftritt von Anna, einer hübschen, vom Wahnsinn belagerten Patientin, die Mathias in ihren Bann zieht. Die Art und Weise, wie sich die Laufbahnen der beiden zunehmend kreuzen, bis sie schließlich in einer Spirale unbegründeter Zuneigung aufeinander trudeln, ist unheimlich menschlich, weil sie dem rituellen Gehabe der „Normalen“ beim Verlieben keinen Platz einräumt und sich stattdessen auf entrückte Dialoge sowie Annas unvorhersehbares Verhalten verlässt – zu Recht. Speziell diesen Szenen aber auch den übrigen Darstellungen der Insassen ist anzumerken, dass der seit 2002 als Sozialarbeiter tätige Autor über Erfahrung im psychiatrischen Bereich verfügt und diese ohne anzuprangern oder abzuurteilen in seine Roman mit einwebt.


    Dass „Schneeblind“ bei so viel Menschlichkeit nicht hundertprozentig überzeugt, ist seiner unflexiblen Tonlage anzulasten: Wenn zum Beispiel Mathias‘ Schilderungen des ersten Kusses mit den Worten „Aber das klingst schon wieder fürchterlich kitschig“ zwanghaft auf locker-distanziert getrimmt werden, möchte man den Autor schütteln für diese leichtfertig vertane Gelegenheit, wenigstens für einen Moment abzuheben, und dadurch die Fallhöhe seines Protagonisten zu vergrößern. Hier grätscht der an Tommy Jaud gemahnende Erzählton der Wirkung des Buches zwischen die Beine, weil er mit seiner Vehemenz dem nötigen Maß an pointierter Poesie zu wenig Luft lässt.


    Alles in allem aber ein beeindruckendes, sehr bewegendes Debüt!