Wie angekündigt, hier die Rezension zu den "Hungersbräuten" von Paul Anderson. Für die, die sich die lange Version nicht antun wollen, reicht vielleicht auch die Zusammenfassung: "Anspruchsvoll, aber seeehr lohnend"
Na, dann mal los:
1400 Seiten und 1495 Gramm geballte Geschichte, Theologie und Kultur erwarten den Leser, der sich auf dieses Buch einlässt - und einlassen muss man sich, die "Hungersbräute" sind kein Text, den man mal eben so wegschmökern kann.
Inhalt:
Hauptthema ist die Geschichte der historischen Gestalt Sor Juana Ines de la Cruz, die in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts in Neuspanien, dem heutigen Mexiko gelebt hat. Die Eroberung der Neuen Welt durch die Europäer ist noch lange nicht so gefestigt wie heute, die Ureinwohner, "mexicas" genannt, halten hartnäckig an ihrer Lebensweise, ihrer Religion und Kultur fest - etwas, was die katholische Kirche durch starke Präsenz und die Einschaltung der Inquisítion zu unterbinden sucht.
Sor Juana Ines de la Cruz ist eine Kreolin, d.h. eine in Amerika geborene Weiße, die aufgrund ihrer ländlichen und dazu noch unehelichen Herkunft kaum weniger geachtet wird als die Indios. Ihre Mutter führt eine Farm, ihren Vater kennt sie nur von gelegentlichen Besuchen, ihre Hauptbezugspersonen ist ihr Großvater, der sie, nachdem sie sich selbst mit drei Jahren das Lesen beigebrachthat, mit Literatur, klassischer Philosophie und moderner Naturphilosophie (wie die beginnende Naturwissenschaft damals genannt wurde) bekannt macht. Großen Einfluss übt auch ihre indianische Amme aus, die sie in die Welt der Indio-Mythologie einführt, sie Nahuatl, die Sprache der Indios lehrt und deren gleichaltrige Tochter gemeinsam mit ihr aufwächst.
Nach einer - mehr oder weniger - unbeschwerten Kindheit zwischen der Natur am Popocatépetl und der Bibliothek des Großvaters kommt Juana für einige Jahre an den prunkvollen Hof des spanischen Vizekönigs in Mexiko, wo sie sich als dichterisches und philosophisches Wunderkind einen Namen macht, allerdings auch fast unter den höfischen Intrigen zerbricht. Auf Anraten ihres Beichtvaters tritt sie schließlich mit Anfang 20 in ein Kloster ein, da dies der einzige Ort zu sein scheint, an dem sie ihren unersättlichen Wissensdurst und Bildungshunger stillen kann. Dort entwickelt sie sich zur wichtigsten spanisch-sprachigen Dichterin des ausgehenden "Goldenen Zeitalters" des Barock, anerkannt in der Alten ebenso wie in der Neuen Welt. Den Rest ihres Lebens verbringt sie im Kloster San Jéronimo, allerdings mit eher unüblichen Beschäftigungen: Nach wie vor ist sie als Dichterin sehr gefragt, und sie stellt ihr Können immer wieder mit Auftragsarbeiten für den Hof oder die Kirche unter Beweis.
Dennoch wird sie vom Klerus argwöhnisch beobachtet; besonders ihre langjährige Freundschaft zum einem mexikanischen Geographen und Astronomen und ihre Beziehung zur Vizekönigin, die als ihre Fürsprecherin fungiert, erzeugt Misstrauen, ebenso wie die Veröffentlichung von Gedichten, in denen christliche Heilige mit Figuren aus der griechischen Mythologie in Verbindung gebracht werden. Um 1690 gerät sie endgültig ins Visier der Heiligen Inquisition, der auch ihr Beichtvater, der Jesuit Antonio Nunez angehört - eine zwiespältige Figur, die in der Folge erfolgreich versucht, Sor Juanas nach Freiheit und Wissen hungernden Geist zu brechen und sie endgültig in die Abgeschiedenheit des Klosters zu verbannen. Nachdem er einen ihrer glühendsten Verteidiger verurteilt und das Beichtgeheimnis gebrochen hat, um sie in Verruf zu bringen, beendet sie ihre dichterische Tätigkeit, stuft sich selbst im Konvent auf den Rang einer Novizin zurück und beginnt ein Leben, das der Kontemplation und Kasteiung gewidmet ist. Erst als in Mexiko die Pest ausbricht und auch das Kloster betroffen ist, taucht sie im weltlichen Leben wieder auf und widmet sich der Pflege der Kranken, nur um nach wenigen Wochen selbst im Alter von 46 Jahren an der Krankheit zu sterben.
Der Titel des Buches verbindet den Juana-Handlungsstrang mit dem der kanadischen Studentin Beulah Limosneros - beide Frauen sind getrieben von einem Hunger nach Wissen, der sie letztendlich in den Untergang führt. Diese Beulah Limosneros, eine hochsensible, psychisch labile und hochintelligente junge Frau, die an ihrer Universität ebenso als "Wunderkind" bezeichnet wird wie Sor Juana 300 Jahre zuvor, stößt im Zuge ihres Studiums auf die Dichterin, beginnt über sie zu forschen und verfällt dem Reiz von deren Leben und Dichtung. Dabei verstrickt sie sich in eine verhängnisvolle Affäre mit dem Literaturprofessor Donald Gregory. Als dieser die Affäre beendet, flüchtet sie in einen esoterischen "Studienaufenthalt" nach Mexiko, beginnt dort eine weitere Affäre mit einem Mexikaner, kehrt zurück nach Kanada und begeht schließlich einen Selbstmordversuch, nach dem sie von Gregory gefunden wird - der daraufhin ihre Aufzeichnungen an sich nimmt und flieht.
Der Autor:
Paul Anderson ist ein kanadischer Kosmopolit, Jahrgang 1956, der mit Anfang 20 zunächst seine Heimat hinter sich ließ, um die Welt reiste und sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser hielt. Nebenbei schrieb er einige Short Stories, machte aber ansonsten als Autor kaum von sich reden - bis er in Mexiko das erste Mal auf Sor Juana stieß und damit das Thema gefunden hatte, das ihn die nächsten 12 Jahre beschäftigen sollte. Unter anderem besuchte er alle Original-Schauplätze in Mexiko, die heute zum großen Teil auch noch zu besichtigen sind. Als er den ersten, 1000-seitigen Entwurf seines Romans einem Verlag vorlegte, wurde er zu seinem Erstaunen nicht zu Kürzungen verdonnert, sondern sollte ihn noch verlängern.
Meinung:
Jeder Versuch, dieses Buch in seiner ganzen Fülle an sprachlicher und inhaltlicher Vielfalt angemessen zu würdigen kann nicht mehr als unbeholfen ausfallen. Anderson tobt sich in seinem Erstling, für den er immerhin 12 Jahre gebraucht hat, nach Kräften aus. Schon allein die schillernde Figur der Sor Juana hätte Stoff genug für mehr als einen großen Roman geboten, aber seine Verknüpfung mit ihrem modernen Pendant, der Studentin Beulah, setzt dem ganzen die Krone auf. Die drei Perspektiven, die hier dargeboten werden - die durch Beulahs AUfzeichnungen erzählte Geschichte Juanas, die von Donald erzählte Geschichte Beulahs und Donalds eigene Darstellung der Geschehnisse - wird zusätzlich noch durch unterschiedlichste Textarten aufgebrochen. Da wird eine klassische Erzählerperspektive abgelöst von inneren Monologen, Tagebucheinträgen und Briefen, offiziellen (und historisch korrekten) Dokumenten der Inquisition, einer modernen Bearbeitung des Lebens Juanas als Drehbuch und - natürlich - immer wieder Gedichten und Dramenfragmenten der Dichterin selbst.
Diese Vielfalt an Stilen fordert dem Leser zwar einiges an Anpassungsleistung ab, macht die Erzählung aber dafür umso lebendiger und glaubwürdiger. Dies ist umso bemerkenswerter, als der ganze Wälzer erstaunlich actionarm ist. Eigentlich passiert nicht viel, und von außen betrachtet hat Sor Juana ein ziemlich langweiliges Leben geführt. Das Hauptaugenmerk liegt auf ihrer intellektuellen Auseinandersetzung mit ihrer Umwelt und mit den Kirchenoberen. In diesen Passagen kommt das ganze Spektrum ihrer universellen Bildung zum Tragen, das von Anderson in fiktiven Dialogen und Briefwechseln brillant wiedergegeben wird - und wo der Leser mit muss, auch wenn zwischendurch der ein oder andere Ausflug zu Wikipedia o.ä. nötig wird. Eine gewisse Vorbildung in Bezug auf griechische und ägyptische Mythologie sowie ein theologisches Grundvokabular erleichtern das Verständnis auf jeden Fall ungemein.
Leider kommt die "moderne" Handlungsebene um Beulah bei aller barocker Pracht, in der die Juana-Geschichte präsentiert wird, fast ein wenig zu kurz, obwohl sie mit geschätzten gut 300 Seiten eigentlich schon genug Stoff für ein eigenes Buch bieten würde. Dennoch wird zwar die Faszination, die die Nonne auf die Studentin ausübt, sehr plakativ beschrieben, aber die intellektuelle und thematische Verbindung zwischen den beiden Frauen kommt fast zu kurz, zumindest hat sie sich mir vor allem auf den ersten 1000 Seiten nicht wirklich erschlossen.
Ich habe an diesem Epos fast drei Monate gelesen, und das Buch ist sofort nach dem Zuklappen auf meine Stapel wiederzulesender Bücher gelandet - wobei ich mir fest vorgenommen habe, es mir das nächste Mal nur in einem langen und ruhigen Urlaub wieder vorzunehmen.
Weiterführende Links:
- Hungersbrides.net - Die Seite zum Buch
- Das Blog des Autors
- Sor Juana bei Wikipedia (englische Version, der deutsche Eintrag ist ziemlich mager)