Lexikon der schlechten Gewohnheiten von Jürgen Bräunlein
- eine vergnügliche Enzyklopädie menschlicher Abgründe -
Klappentext
Die Firnis des zivilisierten Lebens ist dünn, der Lack bröckelt. Dunkle Triebe, verschwommene Bedürfnisse und sonderbare Vorstellungen bemächtigen sich unserer, und wir werden von ihnen mitgerissen. So passiert es. Plötzlich bohren wir in der Nase, kauen an den Fingernägeln und starren ungeniert in Ausschnitte und auf Gesichtswarzen. Wir stürmen als Erste zum Büffet, schauen zur Unzeit "Unterschichtenfernsehen" oder schnarchen im Theater - sogar in den vordersten Reihen. All das tut man nicht. Schon gar nicht, wenn man Abitur und eine solide Kinderstube hat. Es sind schlechte Gewohnheiten, die man besser vertuscht. Erst recht in Zeiten, in denen Benimm-Bücher boomen, Tugendwächter zur Vollkommenheit ermahnen, Coachs an unserem Auftreten feilen. In der verlotterten Mittelmaßrepublik sehnt man sich wieder nach formvollendetem Auftreten, tadellosen Manieren und normierter Geschmacksicherheit. Gerade bei den jungen Konservativen zeigt sich eine bierernste Fixierung auf Knicks und Knigge. Autoren wie Florian Illies, Asfa-Wossen Asserate und Alexander von Schönburg liefern die elitäre Programmatik dazu. Das Leben, so der Grundtenor, wäre doch sehr viel besser, wenn sich noch mehr Menschen die "richtigen" Umgangsformen antrainierten.
Das Lexikon der schlechten Gewohnheiten rebelliert gegen diesen Zeitgeist einer ästhetischen Haltung ohne Inhalt und spottet über die "Gouvernantenprosa" gängiger Benimm-Dich-Bücher. An gesellschaftlichen Vorschriften, so watteweich sie auch verpackt sein mögen, besteht kein Mangel, glaubt der Autor. Dringend unter Artenschutz gestellt werden müssen hingegen unsere unbewussten Ausbrüche aus der gestrengen Etikette. Denn sie sind Impulse der Freiheit. So seziert das Buch unsere schlechten Gewohnheiten ohne Vorurteile und mit Hingabe. Psychologie, Evolutionsbiologie, Anthropologie, Beispiele aus dem Tierreich und nicht zuletzt eine gute Prise gesunder Menschenverstand helfen dabei, "bad manners" ins richtige Licht zu rücken. Zeugnisse aus der Kulturgeschichte, der Literatur und der Promiwelt, zeigen: Wir sind nicht allein!
Über den Autor
Jürgen Bräunlein ist Literatur- und Medienwissenschaftler, Journalist und Autor ("Schön blöd. Der unheimliche Medienerfolg der Untalentierten", 1999).
Jürgen Bräunleins Website
Meine Meinung
Autor Jürgen Bräunlein widmet der bedeutenden schlechten Gewohnheit Auf der Toilette lesen eine espritreiche Untersuchung, wie aus schulischen Betrugspraktiken, der Verweigerung protestantischer Arbeitsethik und männerbewegten Befreiungsversuchen nach den Palastklo-Bibliotheken des 19. Jahrhunderts eine Demokratisierung des Örtchens als Leseidyll bis in den Deutschen Bundestag stattfinden konnte. Leider unterschlägt er die schlechte Gewohnheit, die sich bei der Lektüre seiner klug-vergnüglichen Enzyklopädie wie ein Virus verbreiten könnte: Lesen während des Haarewaschens als Zwangshandlung. Der Kritikerin geschehen - mit der dringlichen Bitte an die Verlage, solche unverzichtbaren Standardwerke menschlicher Abgründe doch künftig bitte mit abwaschbarem Hardcover zu liefern.
Die kurzweilige, unauffällig bildende, maliziös hintergründige Enzyklopädie lässt keinen Leser in Frieden. Wer sich hier nicht ertappt fühlt, ist kein Mensch, oder gibt vor, etwas Besseres zu sein. Wer hat noch nicht an der roten Ampel gepopelt, ohne Fächer vor dem Mund gegähnt, sich selbst manisch im Internet gesucht oder sich für die eigenen Eltern geschämt? Wer bisher noch nicht ahnte, warum er sich so daneben benimmt und auch nicht besser ist als der Typ mit Anzug und Krawatte und Benimmdiplom, der erfährt hier in einer atemberaubenden Mischung aus Psychologie und Zoologie, Feuilleton und Klatschpresse, was dahinter steckt und warum es so gesund ist, Menschen ins Wort zu fallen oder den Hund mit ins Bett zu nehmen.
Hand aufs Herz: Wer weiß schon, dass ein bekannter Politiker mit seinem Stinkefinger im Iran weniger angeeckt wäre als in Deutschland? Wer ahnt, dass Männer an Frauen mit Reifenpannen nur deshalb vorbeifahren, weil sie allenfalls beim Matchbox-Auto des Reifenwechsels mächtig wären? Wer kommt auf die Idee, die Zeugen Jehovas an der Haustür im Pyjama abzuwimmeln? Jürgen Bräunling deckt nicht nur schonungslos und amüsant die Hintergründe auf, sondern gibt handfeste Tipps. Für die gekonnte Erstürmung eines Buffets. Für die Unterstützung der maroden Staatskasse durch Produzieren von Bußgeldbescheiden. Für erfolgreiches Erregungsaufschieben mit einem Wort, das es in die Top Ten der geheimnisvollen Wörter schaffen könnte: Prokrastination.
Wer von diesem Buch genauso wenig genug bekommen kann wie die Kritikerin, dem wird obendrein durch kurzweilige Literaturtipps zwischen Sachbuch und Internet, Feuilleton und Literatur Appetit gemacht. Wem das nicht genügt, dem bleibt nur eins: das Buch auf die Toilette legen, immer wieder darin schmökern und an diesem Ort der Kulturverbreitung andere damit anstecken. Denn auch Menschen, die keine schlechten Gewohnheiten haben, müssen irgendwann aufs Klo.