Zitat
Original von Mulle
Natürlich sind die Eltern gegen eine Erzieherin mit solchem Krankheitsbild. Wer wäre das nicht?
Ich hab einen ziemlich guten Einblick in die Welt der Zwangsgedanken. Mir macht das überhaupt keine Angst. Trotzdem würde ich meine Kinder nicht in der Obhut von jemandem lassen, der dies hat und den ich nicht in- und auswendig kenne.
Nicht einmal, weil etwas passieren könnte. Sondern weil das einfach unangenehm sein muss. Und die Kinder merken ja etwas, können aber nicht einordnen, was sie da merken.
Nein, Marie wieder im Kindergarten - das geht gar nicht.
Ich musste ein wenig darüber nachdenken, ob ich noch etwas zu diesem Thema schreiben soll. Denn es ist ja praktisch schon abgeschlossen und ich will hier auch niemanden nerven, außerdem weiß ich nicht, ob ich meine Gedanken und Gefühle so richtig herüberbringen kann. Ich habe mich dann aber entschieden, es trotzdem zu tun.
Mulle, Du schreibst, Du glaubst nicht, dass Marie den Kindern etwas antun würde, hättest aber Sorge, dass sie vielleicht etwas von dem, was in Marie vorgeht, mitbekommen würden.
Nur war (worauf Wiebke ja auch bereits hingewiesen hat) im Buch ja davon die Rede, dass Marie gar nicht mehr an diesen starken Zwangsgedanken litt, so dass es da folgerichtig auch gar nicht mehr so viel gab, was die Kinder merken könnten.
Marie vom Kindergarten fernzuhalten wäre dann mehr eine prophylaktische Herangehensweise, für den Fall, dass Zwangsgedanken wieder auftauchen.
Ich denke Marie hat gute Karten, was das angeht. Die Zwangserkrankung entwickelte sich nach einem sehr traumatischen Ereignis (so etwas erlebt man ja zum Glück nicht alle Tage) und bestand vergleichsweise kurze Zeit, so dass sie sich wahrscheinlich nicht so extrem verankern konnte. Aber selbst wenn wieder Zwangsgedanken auftauchen sollten, ist die Situation ja inzwischen eine andere. Sie ist ihnen nicht mehr so hilflos ausgeliefert, sondern weiß wie sie damit umgehen muss. Ich denke, wenn man es einmal geschafft hat, eine Zwangerkrankung soweit zurückzudrängen wie es bei Marie der Fall war, gelingt das auch ein zweites mal.
Aber angenommen Marie hätte noch Zwangsgedanken, was würden die Kinder dann tatsächlich wahrnehmen (die Bilder selbst können sie ja nicht sehen)?
Es könnte der Eindruck entstanden sein, dass aggressive Zwangsgedanken einem Gefühl großer Wut entspringen oder davon begleitet sein könnten. Denn Gewaltphantasien (dieser Ausdruck wurde ja häufig verwendet) kennt man meistens aus einem anderen Zusammenhang: Man ist sehr wütend auf einen Menschen und stellt sich dann vor, wie man dies auf irgendeine Art körperlich an ihm auslässt. Es ist mehr ein aktives Phantasieren, manchmal empfindet man auch Befriedigung dabei und kann sich sozusagen visuell abreagieren.
Es gibt aber noch eine andere Art, die bei Zwangsgedanken eine viel größere Rolle spielt. Ich nehme jetzt mal ein Beispiel, das (wenn ich mich recht erinnere) im Buch auch vorkommt. Es kommt zwar eher aus dem autoagressiven Bereich, aber damit können die meisten etwas anfangen und man kann es nicht so leicht verwechseln: Man steht vor einem Abgrund und der Gedanke blitzt auf: Ich könnte mich jetzt in die Tiefe stürzen.
Da ist man in der Regel keineswegs suizidgefährdet, manchmal noch nicht einmal schlecht drauf. Es sind einfach nur Gedanken. Genausowenig muss man bei agressiven Zwangsgedanken wütend sein.
Das sind Gedanken, die wie aus dem nichts auftauchen, man fühlt sich eher passiv. Bei einem Menschen ohne Zwangsstörung lösen diese Gedanken meist nur ein Erstaunen aus, aber bei jemandem mit einer Zwangsstörung kann es dazu führen, dass sich dieser immer mehr damit beschäftigt, sie analysiert, versucht zu ergründen was sie zu bedeuten haben oder was sie über ihn aussagen und er entwickelt oft große Angst davor, dass er sie vielleicht in die Tat umsetzen könnte. Die Gefühle, die er durchlebt beziehen sich auf diese Folgegedankengänge und sind daher viel mehr von Selbstzweifeln, Angst oder Schuld usw.geprägt als von irgendeiner anderen Emotion.
Das sind natürlich auch keine schönen Gefühle und sicher hätten die Kinder lieber eine fröhliche Marie, aber hat irgendjemand sein Kind aus dem Kindergarten genommen als Marie ihr Kind verlor und unter ganz ähnlichen Gefühlen litt?
Ich glaube auch, dass es natürlich (und auch liebenswert) ist, dass Eltern ihre Kinder vor Leid schützen möchten und dass dieses Bestreben hin und wieder eben auch die Grenzen der Vernunft ein wenig überschreiten kann. Aber von Leid fernhalten ist nicht unbedingt vor Leid schützen.
Mal das ganze von einer völlig anderen Seite betrachtet:
Welche Botschaft geben wir unseren Kindern, wenn wir Gefühle von Angst, Trauer und Schuld zur No-Go-Area erklären? Sollten sie nicht auch damit umgehen lernen?
Könnte nicht, jemand, der eine große Krise in seinem Leben überwunden hat (wie Marie), eigentlich ein Geschenk sein, weil er diesen Gefühlen vergleichsweise unerschrocken begegnen kann, ausstrahlt, dass es Hoffnung gibt, egal wie schrecklich die Situation ist und weil er sich seiner Schwächen bewusst ist.
Erzieherinnen sind keine Supermenschen (sonst müssten wir sie wenigstens etwas besser bezahlen ), sie haben alle Stärken und Schwächen (und die werden von unterschiedlichen Menschen auch noch sehr unterschiedlich eingeschätzt) und sie werden, wie wir alle, hin und wieder von Tragödien heimgesucht, die ihre Auswirkungen haben.
Ich habe Marie als Erzieherin mit einer besonderen Hingabe verstanden und ich denke man muss immer die ganz konkrete Situation und den gesamten Menschen betrachten. Das heißt für mich: Sollte sich wirklich irgendwann eine Situation ergeben, die für die Kinder eine richtige Belastung darstellt, so muss man dann sehen, wie man dem begegnen kann, aber nur weil Marie an agressiven Zwangsgedanken erkrankt war, sie für nicht mehr kindergartentauglich zu deklarieren, finde ich nicht gerechtfertigt.
Gruß,
Silberdistel