Bücher beim Lesen zu analysieren ist eine Berufskrankheit von mir. Oder vielmehr: eine wichtige Eigenschaft. Schließlich lerne ich dabei eine Menge. Wie bauen andere Autoren die Charaktere auf, wie schaffen sie Atmosphäre, erzeugen Spannung? Welche Dialoge lesen sich lebendig, wie muss eine Beschreibung beschaffen sein, damit sie sofort Bilder erzeugt? Das sind Fragen, die ich immer im Hinterkopf habe, wenn ich ein Buch lese. Es mindert meinen Lesegenuss nicht im mindesten. Ein gutes Buch wird dadurch sogar noch aufgewertet.
Aber unter einem schlechten Buch leide ich umso mehr.
Ich habe „50 Shades of Grey“ mit einem mentalen Rotstift gelesen, der fast unentwegt in Aktion war. Es kam mir vor wie ein Film, in dem die Schauspieler ihre Zeilen so aufsagen, dass sie nicht spontan, sondern auswendig gelernt klingen.
Am schlimmsten waren die zahllosen Wiederholungen, was aber nicht ungewöhnlich ist. Ich habe fünf erotische Romane aus den USA übersetzt. Dabei hatte ich vom Verlag immer die Vorgabe, sie sprachlich zu verbessern. Das Hauptproblem waren auch da die ständigen Wiederholungen. Ich hatte mal einen Text, in dem die männliche Hauptperson gut zweimal pro Seite die Stirn gerunzelt hat. 90% der Stirnrunzler habe ich rausgenommen und dem Helden damit gewissermaßen eine literatirische Botox-Injektion verpasst.
Zurück zu „50 Shades of Grey“. Ich habe nach 50 Seiten den mentalen Rotstift beiseite gelegt und versucht, mich auf den Inhalt zu konzentrieren, nicht auf die Verpackung. Ich wollte emotional mitgerissen werden. Das ist mir nicht gelungen, weil Grey ein Mann ist, vor dem ich im echten Leben schreiend davonrennen würde, Milliarden hin oder her. Dominante Männer können sooooo sexy sein, wenn man sich ihnen voller Vertrauen hingeben kann. Aber einem schwachen, narzistischen Typ wie Grey könnte ich nicht vertrauen.
Fazit 1: leider kein Buch, für das ich mich begeistern kann. Ein Glück, dass es genug andere erotische Literatur gibt, die ich mit Vergnügen lese.
Fazit 2: ich bin zugebenermaßen einen Hauch neidisch auf den Erfolg des Buchs und frage mich: Was hat „50 Shades of Grey“ was meine Bücher nicht haben?
Liebe Grüße
Nina
PS: es gibt aber etwas, das ich an dem Buch richtig gut finde - sogar genial, nämlich den Titel. Der hat so was Geheimnisvolles. Und man kann ihn öffentlich aussprechen, ohne rot zu werden. Mit einem anderen Titel, z.B. "Schlag mich, mein strenger Gebieter", hätte das Buch nie eine Chance gehabt, im Feuilleton besprochen zu werden ![:grin](https://www.buechereule.de/images/smilies/grin.gif)