"enerviert" ist abgeleitet von "enervieren" (lat.), auf die Nerven gehen, entnerven, heißt also ebenfalls "entnervt".
Dein Hinweis auf Selmas Bekenntnis zum Realismus wirft im Prinzip die alte Debatte an, inwieweit Kunst Realität abbilden soll oder nicht. Das ist eine Grundsatzfrage, die jeder für sich entscheiden muss. Iich finde es gut, dass es inzwischen da für jeden Geschmack und jedes Bedürfnis etwas gibt. So kurz nach dem Ersten Weltkrieg aber wurde das nicht nur im Bereich der Unterhaltungsliteratur, zu der Selma wohl eher tendiert, diskutiert. Man denke nur an die Neue Sachlichkeit, die sich im Lauf der 20er Jahre nicht nur in der Literatur, sondern auch in der Bildenden Kunst entwickelt hat.
Zum Thema Zeitsprung haben wir hier schon einige Male diskutiert. Es ist immer wieder die Frage, welche Ereignisse für das Romangeschehen relevant sind, erzählt zu werden und welche nicht. Da meine Figuren nicht zu den Kreisen gehören, die im Zuge der Novemberrevolution auf die Straße gegangen sind, ist es für mich legitim, das Licht auf die Zeiten zu lenken, in denen in ihrem Leben (und nicht in dem historischen Hintergrund) Entscheidendes passiert.
Konrad Adenauer (1876-1967) war bereits im späten Kaiserreich politisch aktiv, während des 1. Weltkriegs dann in Schlüsselpositionen der Kölner Stadtverwaltung, bevor er 1917 (mit damals immerhin schon 41 Jahren) zum Oberbürgermeister der Stadt Köln gewählt wurde. Ich fand interessant, dass er direkt nach dem Krieg zu den Zentrumspolitikern gehörte, die eine Aufteilung Preußens in vier autonome Republiken befürworteten. Er hat sich damals also zum ersten Mal überregional mit separatistischen Standpunkten eingemischt, stand also vermutlich der Weimarer Republik, wie sie dann entstand, anfangs mit Vorbehalten gegenüber.
Der von Dir zitierte Standpunkt von S. 587 gibt die Meinung der Romanfigur Joseph wieder. Der hatte aufgrund seiner Erfahrung und auf dem Wissensstand von 1918 diesen Eindruck. Dass wir das heute anders beurteilen, hängt einfach damit zusammen, dass wir einen weitaus leichteren Zugang zu den Dokumenten haben, die die alleinige deutsche Kriegsschuld widerlegen. Joseph lebte im damals von den Briten besetzten Rheinland, da gab es eine strikte Zensur. Vorher hat er in Berlin die verschiedenen Beschlüsse des Kaisers und der Regierung während des Weltkrieges mitgetragen. Von daher ergibt sich seine Auffassung von der alleinigen deutschen Kriegsschuld.