Beiträge von Tim Pieper

    Jetzt nochmal zu den Gegnern der Arbeiterbewegung:


    In das allgemeine Klima von Unsicherheit, Misstrauen und Revolutionsfurcht passt auch der Geheimerlass des Ministeriums des Inneren vom 18. Juli 1890. Man muss sich vor dem Lesen noch mal ins Gedächtnis rufen, dass gerade erst beschlossen worden war, die Wirksamkeit des Sozialistengesetzes auslaufen zu lassen. Trotzdem heißt es in dem Geheimerlass völlig ungeschminkt:


    „Im Hinblick darauf, dass das Sozialistengesetz am 1. Oktober seine Wirkung verliert, mache ich Euer Hochwohlgeboren ergebenst darauf aufmerksam, die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie demnächst mit Rücksicht auf die veränderte Rechtslage besondere Aufmerksamkeit zuzuwenden, den sozialdemokratischen Ausschreitungen mit Entschiedenheit entgegenzutreten und zu diesem Zwecke von den zu Gebote stehenden Mittel unter sorgfältiger Einhaltung der gesetzlichen Schranken, innerhalb derselben aber bis zur Grenze des Zulässigen, Gebrauch zu machen. Insbesondere wird dies auf dem Gebiete des Versammlungs- und Vereinswesens sowie der Presse erforderlich sein. Zu diesem Behufe wird es der unausgesetzten Aufmerksamkeit der Überwachungsorgane bedürfen, um in den gehaltenen Reden diejenigen Stellen herauszufinden, welche den Tatbestand einer im Strafgesetzbuch mit Strafe bedrohten Äußerung wahrscheinlicherweise begründen, und sich der wortgetreuen schriftlichen Aufnahmen solcher Redeteile zum Anhalte für die sofort zu beantragende gerichtliche Verfolgung zu unterziehen …“


    Was lest ihr aus dem Geheimerlass heraus?

    Interessant finde ich, dass die Parteileitung offenbar ihren eigenen Anhängern misstraut. Deshalb unterlässt sie alles, was die Maibewegung zum Erfolg führen könnte. Ihr geht es vor allem darum, gewalttätige Ausschreitungen zu verhindern, den parlamentarischen Erfolg abzusichern und die Führung der Massen in der Hand zu halten. Sie fürchtete, dass ihr eine aufgestachelte Arbeiterbewegung entgleiten und Genugtuung und die Durchsetzung ihrer Rechte im Straßenkampf suchen könnte.

    Sehr interessant ist in diesem Zusammenhang die Position der SAP, die Gewalt strikt ablehnte und ihre mühsam erarbeitete Reputation als gefährdet ansah. Ich habe für euch ein Zitat, eine Verlautbarung der Partei vom 13. April zum „Kampftag der Arbeiterbewegung“, zum 1. Mai, herausgesucht, die lautet:


    „Ein allgemeines Ruhen lässt sich unter den gegenwärtigen Verhältnissen unmöglich bewirken. Die Feinde der Arbeiter werden jetzt alles aufbieten, um den Arbeitern die Früchte des Sieges (…) zu entreißen und sie setzen große Hoffnungen auf den 1. Mai. Der Beschluss der allgemeinen Arbeitsruhe ist nicht durchführbar, ein großer Aufmarsch ist nicht notwendig. Wo immer man eine Arbeitsruhe am 1. Mai ohne Konflikt erwirken kann, da möge es geschehen.“


    (Zur Info: Auf dem Gründungskongress der Zweiten Internationalen 1889 wurde zum Gedenken an die Opfer des Haymarket Riot, einer blutig endenden Arbeiterversammlung, der 1. Mai als „Kampftag der Arbeiterbewegung“ ausgerufen. Am 1. Mai 1890 wurde zum ersten Mal dieser „Protest- und Gedenktag“ mit Massenstreiks und Massendemonstrationen in der ganzen Welt begangen. Quelle: Wiki)


    Was lest ihr aus der Verlautbarung heraus?

    Johanna
    Ja, genau. Auf jeden Fall war es eine Zeit des Umbruchs.


    Die Romanhandlung fällt in die Zeit zwischen den 25. Januar 1890 (Entscheidung über die Nichtverlängerung des S.) und den 30. September 1890 (Auslaufen der Wirksamkeit des S.).
    In den politischen Lagern herrschte ganz allgemein folgende Stimmung vor:

    Die konservativen Kräfte um Bismarck hatten die Wirksamkeit des Sozialistengesetzes ohnehin verlängern wollen und waren über die Ablehnung ihres Antrages verärgert. Außerdem fürchteten sie, dass die Arbeiterbewegung durch die Aufhebung des Sozialistengesetzes zu mächtig werden und sich nicht mehr kontrollieren lassen würde.


    Viele der bürgerlichen Abgeordneten hatten der Verlängerung nicht zugestimmt, weil sie der Meinung waren, dass das Sozialistengesetz kein geeignetes Instrument zur Unterdrückung der Arbeiterbewegung sei. (Zur Info: beim Erlass des Sozialistengesetzes besaß die SAP 437 158 Wahlstimmen, 42 politische Blätter, 50000 Gewerkschaftsmitglieder; beim Erlöschen 1 427 298 Wahlstimmen, 60 politische Blätter und 200 000 Gewerkschaftsmitglieder.) Die bürgerlichen Abgeordneten waren nach wie vor Gegner der Sozialdemokratie, aber erhofften sich von der Aufhebung des Sozialistengesetzes nun einen Rückgang der Wählerstimmen frei nach dem Motto: Was erlaubt ist, ist nicht mehr so interessant. Trotzdem konnten sie natürlich nicht voraussehen, ob ihr Kalkül aufgehen und was nach dem 30.9.1890 geschehen würde. Auch sie fürchteten sich vor einer Zunahme des politischen Einflusses der SAP.


    Die Arbeiter und ihre Angehörigen hingegen hatten die jahrelangen Entbehrungen und Unterdrückungen durch die Machthaber weder vergessen, noch verziehen. Ihnen waren die langen Haftstrafen, die Ausweisungen und die Bespitzelungen noch sehr gegenwärtig. Viele von den Arbeitern dürstete es nach Rache, viele von ihnen wollten es den einstigen Peinigern endlich heimzahlen. Und die Aufhebung des Sozialistengesetzes bot ihnen endlich einen größeren Handlungsspielraum.


    Aus diesem Spannungsfeld erklärt sich auch die Revolutionsfurcht, die in Teilen der Bevölkerung vorherrschte. In den gehobenen Kreisen wurde ohnehin kein Unterschied zwischen Anarchisten, Sozialisten und Gewerkschaftern gemacht. Für sie waren alle Proletarier potentielle Unruhestifter, die auch vor Gewalttaten nicht zurückschrecken würden.

    Ok, hier eine kurze Definition.


    Sozialistengesetz – Das S. wurde am 19. Oktober 1878 vom Reichstag verabschiedet. Es sollte Bismarck dazu dienen, die als gemeingefährlich eingestufte Sozialdemokratie zu zerschlagen. Die Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands (SAP), sozialistische Vereine, Versammlungen und Druckschriften wurden verboten.


    Am 25. Januar 1890 scheiterte Bismarck mit seinem Versuch, das Sozialistengesetz im Reichstag ein fünftes Mal zu verlängern. Es wurde entschieden, dass die Wirksamkeit des Sozialistengesetzes am 30. September 1890 auslaufen sollte.

    Eines vorweg: In einer Stunde können wir nicht das gesamte Parteienspektrum und alle politischen Hintergründe des Jahres 1890 erörtern. Deshalb lasst euch bitte nicht entmutigen, wenn ihr etwas auf Anhieb nicht versteht oder sich eine Wissenslücke auftut. Alle Kommentare sind willkommen und helfen den anderen Teilnehmern, sich besser zu orientieren. Also, nur Mut! Unsere kleine „Talkrunde“ soll Spaß machen, geistige Anregung bieten und einige Hintergrundinfos liefern. Ich werde daher versuchen, unser Gespräch in eine Richtung zu lenken, die euch helfen soll, die politischen Spannungen, die im Roman immer wieder thematisiert werden, im Kontext der Zeit besser zu verstehen.