III.
Das Café war nicht sonderlich gut besucht an diesem Mittwochabend. Das Personal hockte dicht beieinander gedrängt hinter dem Tresen und hatte sich gelangweilt in inzestuöse Gespräche vertieft. Es gab nicht viel zu tun für sie. Hauptsächlich Studentinnen, schätzte Marie, vielleicht auch ein oder zwei Studiumsabbrecher. Sie mochten sechs Euro die Stunde verdienen, maximal Sechsfünfzig. Wahrscheinlich lästerten sie gerade über Gäste, die sich besonders grenzdebil verhielten, seltsame Sonderwünsche in ihren Bestellungen äußerten, schüchtern umherdrucksten, als sei es ihnen peinlich, jemanden damit zu belästigen, ihnen etwas zu trinken oder essen zu bringen, oder deren Bekleidung einfach ein einziges fashion mistake war, so etwas halt; da gab es viel zu tun, schließlich findet man an jedem Menschen etwas grenzdebiles, wenn man nur genau genug hinschaut. Vielleicht versuchten sie auch, sich im Smalltalk gegenseitig abzuschätzen, in dem sie oberflächlich Dinge von sich preisgaben, ohne möglichst viel von sich zu erzählen. Das Team jedenfalls wirkte nicht, als sei es durch irgend etwas näher miteinander verbunden als dem Job.
Marie verlor die Geduld zu warten und gab schroff ein Handzeichen. Geht doch! Einer der lobotomierten Bedienäffchen hatte sie registriert und kam katzbuckelnd angekrochen.
"Ja, ich habe Titten", dachte Marie. "Ja, ich bin blond."
Sie war am Ende.
"Ein Wasser", sagte sie und bewies Geschmack, in dem sie hinzufügte, dass sie auf San Pellegrino bestünde. Im Gegensatz zu anderen Mineralwässern, deren Kohlensäuregehalt meist unausgeglichen ist, die zu weich oder hart schmeckten oder gar einen unangenehmen Eigengeschmack mit sich tragen, was besonders stark bei stillen Wassern, allen voran Evian, das zum Übergeben nach Swimmingpool schmeckt, negativ zu Buche schlägt, im Gegensatz zu anderen Mineralwässern war San Pellegrino jederzeit vorzuziehen.
"Ja, ich habe Titten", dachte Marie. "Ich bin blond und du darfst mich gern sabbernd anschauen, aber wenn du ernsthaft in Erwägung ziehst, mich in dein Bett befördern zu wollen, solltest du dir erst einmal einen ordentlichen Job suchen." Im Laufe der Jahre hatte sie aufgehört, Männer daran zu definieren, dass sie einen Penis trugen. Sie sah sich unfähig einen Mann zu lieben, der in ihrem Alter war. Was der geläufige (und läufige)Zweiundzwanzigjährige stolz als seinen Machismo ansah, stellte in so gut wie allen Fällen lediglich eine kindliche Unsicherheit heraus. Sie haben Angst. Im Bett kamen sie häufig zu früh und erwarteten auch noch Applaus für ihren Orgasmus. Zwar wollten sie kurz danach im Gegensatz zu älteren Männern häufig gleich noch einmal, aber die weibliche Erregung war zu diesem Zeitpunkt meistens schon wieder abgeflacht und musste sich erst neu aufbauen; mit dem Resultat, dass dann alles schon wieder vorbei war, bevor die Partnerin kam. Sie halten sich dafür für besonders Potent und erwarten erneuten Beifall. Marie gähnte. An Attribute wie Anstand und Benehmen wollte sie gar nicht erst denken. Kinder! Konnten sie sie nicht einmal heute in Ruhe lassen?
Das Personal ließ auf dem Flachbildschirm an der hinteren Wand des Cafés "Germany's Next Topmodel" laufen, wobei sie der Sendung aber keine nähere Beachtung schenkten.
Ein recht feminin wirkender Neger gestikulierte wild vor sich hin, während ein minderjähriges Flittchen mehr oder minder erfolgreich versuchte, möglichst aufreizend einen Fuß vor den anderen zu setzen und dabei geil mit dem Hintern wackelte. Auch wenn Marie nicht abstreiten konnte, dass die selbstbewussten, kraftvollen Bewegungen ihres Beckens einen gewissen Sexappeal ausstrahlten, wirkte das Gesamtbild eher lächerlich. Das junge Mädchen, das da mit einer schon leicht bewundernswerten Zielstrebigkeit einem naiven Traum nachjagte, wirkte einfach wie ein junges Mädchen, das mit einer leicht bewundernswerten Zielstrebigkeit einem naiven Traum nachjagt und irgendwann in nicht allzu geraumer Zeit scheitern wird, wie es nun einmal bei der Jagd nach einem naiven Traum im Leben gang und gäbe ist. Die Kamera schwenkte auf Heidi Klum, die ihr ständig wie eine Puffmutter vorkam, deren mütterliche Güte man, die man klischeebehaftet an diese Rolle haftet, durch ein dämliches Grinsen ersetzt hatte. In einem fast schon brutal zu nennenden Close-up auf ihr Gesicht zuckte ihre Zunge gespielt verschlagen durch die leicht geöffneten Lippen wie die eines Reptils.
Während Marie das Elend auf dem Bildschirm verfolgte, der glücklicherweise stumm geschaltet war, wurde zwei Kilometer weiter gerade einer Frau mittleren Alters der Schädel eingeschlagen. Der Täter erbeutete zwanzig Euro und dem Vorfall sollten zwei Tage später acht Zeilen in der Tageszeitung gewidmet werden.
"Hi", begrüßte Peter Marie. "Tut mir leid, ich habe mich verspätet."
"Macht nichts."
Marie lächelte zum ersten Mal an diesem Tag. Sie hatte den Nachmittag in der Klinik verbracht, nach dem sie den Anruf aus dem Krankenhaus erhielt, dass Immanuel aus dem Koma aufgewacht ist. Die Gänge des Krankenhauses hatten nach Desinfektionsmittel gestunken. Krankenhäuser sind Orte aggressiver Bakterienstämme, die mit den immer gleichen nach Chlor und Alkohol übel riechenden Desinfektionsmitteln bekämpft werden; mit dem Resultat, dass sie in kürzester Zeit zu immer aggressiveren Bakterienstämmen mutieren, denen Desinfektionsmittel so ziemlich am nichtvorhandenen Arsch vorbeigehen. Ein stetiger Kampf Pharmaindustrie gegen Natur, dessen Resultat derzeitig daraus besteht, dass es ein relativ gute Chance besteht ernsthaft krank zu werden, wenn man ein Krankenhaus besuchte.
Marie war betrübt gewesen und ging extra langsam. Erstens wollte sie den Moment hinauszögern, andererseits fiel ihr das Gehen auf dem glatten Boden mit den Folienüberzügen über den Schuhen, die für Besucher der Intensivstation vorgeschrieben waren, schwer. Mit dem Infusionsschlauch im Arm und den unzähligen Messsensoren am Körper, die seine Vitalfunktionen überwachten, sah Immanuel aus wie der fleischgewordene Traum Andy Warhols eine Maschine zu sein.
"Hi", flüsterte Marie. Sie setzte sich vorsichtig auf den äußersten Rand des Bettes und spürte etwas raues, warmes an ihrem linken Unterschenkel. In dem Auffangbehälter des Katheders befand sich wenig, ungewohnt dunkelfarbiges Urin. Immanuel roch nach den Desinfektionsmitteln, wie Kleidungsstücke nach Mottenkugeln riechen, wenn sie eine gewisse Zeit in einem Schrank neben ihnen lagen. Gleichsam war da noch ein leichter, merkwürdiger Eigengeruch. Es war nicht der beißende Gestank von Buttersäure, wie Menschen ihn aussondern wenn sie stark schwitzen (einige auf dem Körper von Säugetieren lebenden Bakterienarten beginnen prompt den abgesonderten Schweiß in Buttersäure und andere Substanzen zu zerlegen); es war eher der Geruch, der einen Menschen mit sehr trockener Haut umgibt, wenn er mehr als drei Tage nicht mehr geduscht hat, der Eigengeruch von Menschen. Der Geruch von Tod.
Marie griff nach Immanuels Hand. Eine pathetische Geste, aber ihr war danach. Sie verspürte etwas, das dem Gefühl von Liebe recht nahe kam und das sie mit Geborgenheit und der Sehnsucht danach assoziierte, vielleicht aber auch nur Mitleid war. Die Hand fühlte sich wider Erwartens gar nicht einmal so kalt an. Sie konnte spüren, wie er sie leicht drückte. Seine Lippen zogen sich leicht nach oben und Marie spürte, wie sich Tränenflüssigkeit unter ihren Augen zu sammeln begann, deren Masse glücklicherweise noch zu gering war, die Kohäsionskraft zu überwinden. Marie wollte nicht weinen. Stark sein, was immer das auch bedeuten mag.
Marie sah, wie Immanuel anhob, etwas zu sagen. Sein Mund zuckte unkoordiniert, als koste es ungeheuere Anstrengung ihn zu öffnen, als hätte sein Gehirn vergessen, wie man spricht und müsse sich erst dazu durchringen, die Informationen darüber abzurufen.
"Psst", flüsterte Marie. Sie legte ihre Lippen auf die seinigen, sie fühlten sich noch trockener an als ihre und beide hielten sie sie geschlossen. Der Kuss war als geschwisterlich zu umschreiben.
Die Verletzungen seien schwerwiegend, hatte der Arzt Marie erklärt, aber nichts, womit man nicht tagtäglich im Krankenhausalltag konfrontiert wäre. Es hätte ernst um Immanuel gestanden, aber er sei über den Berg. Was Sorgen machte, war die Verletzung der Wirbelsäule. Es bestand die Wahrscheinlichkeit, das Immanuel von der Hüfte abwärts gelähmt bliebe; sie sei sogar eine relativ hohe Wahrscheinlichkeit, aber schließen geschehen immer wieder Wunder, nicht?
Er sprach diese letzten Worte in einer Art und Weise aus, die keinen Zweifel daran ließ, dass er Atheist war. Ein guter Wissenschaftler, dessen Rationalität es ihm versagte, Hoffnung der Verleugnung wegen zu empfinden, der aber die Wissenschaft der Psychologie genügend schätzte, die Bedeutung dieser Hoffnung für den einfachen Menschen zu akzeptieren. Ärzte sehen sich oft als eine andere Spezies als ihre Patienten, um sich so vor deren Leid zu verschließen und es nach Feierabend ablegen zu können. Selbst viele Krankenpfleger begannen inzwischen diese Taktik der Verklärung zu übernehmen, was sich unter anderem auch darin äußert, dass sie die zu betreuenden Personen immer häufiger in der dritten Person ansprechen. ("Geht es ihm heute gut?", "Wünscht er noch etwas?" etc.)
Immanuel hatte Angst. In Augenblicken überdimensionalen körperlichen Schmerzes neigt der menschliche Körper dazu, diese Momente später einfach nicht in das Langzeitgedächtnis zu übernehmen. Traumabewältigung. Immanuel konnte sich zwar nicht an den Unfallhergang erinnern, er wusste aber sehr genau, was geschehen war.
Und er spürte seine Beine nicht mehr.
Immanuel wusste, was dies bedeute und ahnte, dass sich dieser Zustand nicht ändern würde. Er wusste von dem tiefen Mitleid, das Marie für ihn empfand und dass sie ihn nicht an Ort und Stelle verlassen würde, aber er ahnte ebenfalls, dass er noch Wochen in dieser Klinik verbringen und nach seiner Entlassung nie wieder mit Marie in einem Bett schlafen würde. Wie er in ihrer Situation würde sie sich nicht eingestehen, ihn in einer derartig schweren Phase der Umwandlung zu verlassen; im Gegenteil, die Liebe erwacht zu neuer Intensität. Man versucht sich Hoffnung zu machen, die Liebe schweißt zusammen und erkennt die Welt, das Leben, das Schicksal als ihren Feind. Diese Waffenbrüderschaft schweißt zusammen, aber am Ende siegt die Klarheit und diese sogar von der Gesellschaft, vom Leben erwarteten Verhaltensmuster lüften sich langsam, unmerklich wie Nebel und zurück bleibt die Wahrheit. Es ist nur in den seltensten Fällen möglich, dass eine Partnerschaft die plötzliche Behinderung eines Partners übersteht, die körperliche Entstellung, den Verlust der Sexualität. Der gesund gebliebene Partner wird mit einer Unmenge an neuen Pflichten überhäuft, während der Gegenpart sich abrupt in ein seiner Schönheit und Jugend beraubtes, bettlägeriges Wesen verwandelt hat, dem damit alles abhanden gekommen ist, woran die liberale Gesellschaft Funktionalität und damit Würde knüpft. Das Paarungskarusell sollte Immanuel ein für allemal abgeworfen haben und anstatt zu sagen, was er zu sagen vorgehabt und man von ihm im Rahmen des Pathos erwartet hat, versuchte er leicht seinen Arm zu bewegen, dessen Hand Maries Hand traurig drückte.
Ein letztes Experiment.
Marie spürte, wie Immanuels Hand sich erst fast unmerklich zu bewegen versuchte und sie dann kraftlos führte. Sie folgte ihrer Bewegung und spürte die Baumwolle der Decke auf ihrem Handrücken; sie war von mittelgrober Struktur, temperaturlos, weder warm, noch kalt - lau. Sie vermied seinen Blick. Sie spürte die Haut von Immanuels Oberschenkel, er fühlte sich tot an. Die Intensität seines Körpergeruches rückte in den Fokus ihrer Nase: Tod.
Immanuel wusste, dass er keine Erektion bekommen, noch nicht einmal ihre Hand wahrnehmen würde. Gleichzeitig verspürte Marie tiefen Ekel und bereits fast als körperlichen Schmerz wahrnehmbares Mitleid. Die Tränen lösten sich und rannen ihre Wangen hinunter, sammelten sich in Höhe des Kinnes, fielen zu Boden, ohne dass sich ihr Gesicht verzog. Sie biss heimlich die Zähne zusammen, ihr Kiefer knirschte. Das tote Schamhaar, wie Rosshaar; Immanuels Penis, der sich anfühlte wie ein verendetes Tier.
Marie riss sich los und zog ihre Hand zurück, stand auf und drückte ihm einen flüchtigen Kuss auf die Stirn, bevor sie das Zimmer verließ:
"Ich liebe dich."
Sie sah keine Tränen in seinem Gesicht, aber sie wußte, dass er ebenfalls weinte. Man sah nie Tränen in seinem Gesicht, wenn er dies tat.
Marie wäre fast ausgerutscht.
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