Magali.
Immanuel ist acht Jahre alt. Sein Vater ist zu Besuch. Immanuel lebt nicht nur in einem Land, er lebt in einem Staatssystem, das es seiner Mutter und ihm aus einer diktatorischen Perspektive heraus verbietet, ihn zu besuchen. Immanuels Vater kommt ungefähr aller zwei Monate für ein paar Tage, um seine kleine Familie zu sehen, Immanuel freut sich jedes Mal. Er lieb seinen Vater.
Immanuel wacht auf. Es riecht nach gebratenem Speck, symbolhaft, hmm, ja, stimmt ja, sein Vater war gestern Abend angekommen. Immanuel liebt diesen Geruch; seine Mutter brät Speck zu Frühstück, das sagt ihm, das sein Vater zu Besuch ist. Immanuel freut sich auf das gemeinsame Frühstück mit Daddy. Er springt fröhlich aus dem Bett und eilt in die Küche, wo er unterwegs Daddy stehen sieht mit seinem Koffer.
«Ich muss weg», sagt der.
«Schon?» fragt Immanuel.
«Leider», antwortet sein Vater.
Immanuel fragt: «Wann kommst du wieder?» und sein Vater antwortet:
«Niemals.»
Die Tür fällt ins Schloss; das ist ein ultrabrutales Geräusch, einerseits, literarisch gesehen. Eine Tür fällt ins Schloss, Plonk!, Theatervorhang des Lebens, fundamentaler Einschnitt, cut. Aber Immanuel liest das Buch nicht, das sein Leben da schreibt. Für ihn ist es in diesem Augenblick eine Tür, die ins Schloss fällt. Etwas ist passiert, aber das sagt noch gar nichts.
Immanuel fragt sich momentan, wann Niemals wohl ist. In einer Woche, in einem Monat? Zu Weihnachten oder nächstes Jahr erst gar? Er besitzt nur seine eigene, gefilterte Perspektive, nicht die fiese Totale eines Lesers darauf. Bisher war Daddy immer zurückgekommen und Immanuel mochte die Zeit mit ihm. Er freute sich jedes Mal.
Immanuel beginnt zu warten. Wohlmöglich schaut er aus dem Fenster: Bäume, Häuser. Sicherlich könnte dort mehr sein, aber da sind primär nun einmal Bäume und Häuser und nicht einmal denen gilt sein Interesse. Immanuels Denken ist introvertierter Natur, selbstreferenziell, keineswegs geprägt von den Referenzen eines möglichen Lesers. Er gräbt nach Hoffnung, verdaut Zweifel, kurzum Immanuel leidet. Er erfährt wohlmöglich gerade den geglückten Start einer schriftstellerischen Laufbahn.
Bei Literatur handelt es sich grundsätzlich um Therapie, magali. Mögliche literarische Figuren spielen mögliche Szenarien ihres Autors durch, gemeinhin: der Autor denkt laut, in dem er dies öffentlich tut jedoch, versucht er sich gleichsam Gehör zu verschaffen und sein Denken in Interaktion mit dem Außen zu stellen. Dadurch hat er sich dem Verständlichkeitsterror zu stellen, es ist ihm nicht möglich, die Grenzen von Text zu überschreiten, er kann sie umschiffen, hat sich aber Stilfragen zu stellen, Referenzen zu erklären etc. Die Hauptaufgabe ist es nicht, auszuformulieren, sondern wegzukürzen; er ist allen voran Kameramann und Cutter in seinem Gedankenszenario, während er schreibt. Das kann einerseits wie bei Proust enden, andererseits sexy radikal sein, in dem es in etwas abgedroschenem, klischeebehafteten endet, in einer Tristesse, in der der Leser bis zum Ekel seine eigene Welt wieder erkennt und sich sagt, prima, hätte ich nicht lesen müssen dafür. Aber gleichsam, bedingt durch die Perspektive des Autors, die sich naturbedingt minimal differenzieren muss, besteht dennoch eine Verschiebung, die es dem Leser vielleicht ermöglicht, Dinge wahrzunehmen, Emotionen, Metaebenen, Wahrheiten, die auf dieser tristen Schilderung einer ausgelebten Welt liegen. Leser und Autor betrachten die gleichen durchgekauten Alltäglichkeiten und wie dem Leser die Perspektive von außen drauf auf seine Welt, die er nur von innen betrachten kann, nicht möglich ist, ist dem Autor die Perspektive völlig losgelöst von seiner eigenen Welt auf die Welt nicht möglich. Gemeinsam jedoch klappt das dann, jeder stößt den anderen auf die ureigene, individuelle Existenz des anderen zurück. Das Wort selbst ist nur ein Medium, es ist tot. Der Autor kann ihm kurzzeitig eine Form und Farbe verleihen, bevor es auf die Reise schickt, aber der Leser wird es zwangsläufig deformieren und seine Farben eintönen. Wie der Autor sehnt er sich danach zu erfahren, was er denkt. Darin liegt die Magie.
LG,
Christoph