Sibel, der aktive Versuch, Peinlichkeiten zu vermeiden und sich "kollegial" zu verhalten, das mag durchaus eine Rolle spielen. Aber nur darauf würde ich es nicht reduzieren. Das würde der Sache nicht gerecht. Ich denke, der eigentliche Grund liegt tiefer; Tereza hat ja schon versucht, das zu erklären.
Die Autorensicht wurde weiter oben ja detailliert geschildert: Sehr vielen Menschen, die schreiben, fällt es schwer, sich emotional völlig von ihrem Text zu lösen. Das mag irrational und vielleicht sogar dämlich sein, aber es ist so. Ich kann das jedenfalls gut nachvollziehen. Irgendjemand wagt es, in vorsichtigstem Ton, den zarten Hauch einer Kritik zu äußern, "weißt du, ganz toll, was du da geschrieben hast, hat mir wirklich super gefallen, ABER ...", und mir versetzt es einen Stich in der Magengegend, ich stelle sofort sämtlich Stacheln zur Abwehr auf und merke, wie mir Krallen und Fangzähne wachsen. - Reflex. Dagegen kann ich überhaupt nichts machen, außer mich auf meine Hände setzen, warten, bis der Puls sich wieder beruhigt hat, und dann - so ungefähr drei Wochen später - die Kritik nochmal in Ruhe lesen.
Nun bin ich kein professioneller Autor. Tom oder Tereza können damit sicher ganz anders umgehen. Aber nur wenige werden diesen ersten Stich überhaupt nicht empfinden. Warum das so ist, warum man diesen fehlgeleiteten Mutterinstinkt hat, jedem an die Kehle zu gehen, der es wagt, die eigene Schreibe zu kritisieren, das weiß ich nicht, und ich bin auch nicht sicher, ob ich's wissen will.
Wenn ich also so gut nachvollziehen kann, wie weh es tut, wenn das eigene "Baby" angegriffen wird, dann ist es zunächst mal nur logisch, daß ich diesen Schmerz einem anderen Menschen gern ersparen möchte. Ich glaube, darauf wollte Tereza auch eigentlich hinaus.
Aber.
Da gibt es ja auch noch die Lesersicht. Und als Leser interessiert mich der Autor nicht. - Nein, falsch. Den Autor gibt es während des Lesens für mich nicht. Es gibt nur das Buch, und sollte ich beim Lesen durch irgendetwas daran erinnert werden, daß dieses Buch überhaupt von jemandem geschrieben worden ist, wäre das aus meiner Sicht schon ein dicker Kritikpunkt. Dieses Buch geht, sobald ich es lese, nicht mehr an der Hand seiner geistigen Mama spazieren. Es ist ein großes, erwachsenes Buch und muß alleine laufen. Würde ich das nicht von ihm erwarten, dann würde ich dem Buch Unrecht tun und es nicht für voll nehmen. (Im Unterscheid dazu sehe ich etwa die Art selbstproduzierter Bücher, deren Reiz genau darin liegt, daß es die Tante oder der Onkel oder der Nachbar verfaßt hat. Diese Bücher gehen immer an der Hand des Autors.)
Das heißt, ich will beim Lesen und beim Bücherbesprechen eigentlich wirklich nicht daran denken müssen, daß gleichzeitig vielleicht irgendwo in seinem stillen Kämmerlein ein Autor vorm PC sitzt, der entweder vor Wut Stückchen aus seiner Tastatur beißt oder kummervolle Tränen im Taschentuch zerdrückt. Ich mag es, mich über Bücher zu ärgern und aufzuregen (und die tiefere Motivation dafür will ich auch nicht wissen, danke ;-)), und ich lese auch bissige Kritiken ausgesprochen gerne.
Und trotzdem kann ich mich so gut in den armen Autoren hineinversetzen. So, was mache ich jetzt? Dilemma.