Ein Abschnitt, der vermutlich einer der wichtigsten dieser Geschichte sein müßte. Angel- und Wendepunkt. Trotzdem läßt er mich ratlos zurück.
Müßte ich jetzt verstanden haben, warum die Figuren so handeln, wie sie handeln? Warum brüskiert Otto seinen Bruder derart und gibt ihm die neue "Ostmark" nicht? Mir fallen natürlich jede Menge Gründe ein; aber mir ist aus dem Erzählten überhaupt nicht klar geworden, welcher der richtige ist.
1.) Thankmar säuft zuviel. Wenn das der ausschlaggebende Punkt ist, müßte Otto allerdings, nach dem bisherigen Roman zu schließen, vier Fünftel seines Heeres entlassen. Und Gero würde sich als Alternative zu Thankmar von selbst verbieten.
2.) Editha traut Thankmar nicht und hat Otto entsprechend beeinflußt. So etwas wird zwar angedeutet, aber nicht wirklich nachdrücklich. Und Anlaß zu solchen Verdächtigungen hat Thankmar bisher doch noch nie gegeben? Er hängt nach wie vor am Hof seines Bruders rum und scheint ihn im Rat weitgehend zu stützen. Mal abgesehen davon: wenn man schon Angst hat, jemand könnte zum Aufstand geneigt sein, wie politisch klug ist es dann, ihm eine derartige öffentliche Ohrfeige zu verpassen?
3.) Otto traut Thankmar nicht zu, daß er gegenüber den Slawen hart genug ist (wegen dessen Freundschaft zu Tugomir?). Das wäre ja ganz witzig, weil Thankmar ursprünglich derjenige war, der Otto für zu weich und "heilig" hielt. - Deshalb zieht Otto Gero als Befehlshaber vor. Aber in Anbetracht der Tatsache, daß er ja plant, seine Herrschaft in den neu eroberten Gebieten auf ganz neue Grundlagen zu stellen, die auch auf eine Akzeptanz der Unterworfenen abzielt - wie schlau ist es da, einen alkoholsüchtigen, blutrünstigen Psychopathen auf die neuen Untergebenen loszulassen? Und würde Thankmar sich wirklich durch eine mürrische Freundschaft zu einer Geisel davon abhalten lassen, zu tun, was notwendig ist? Würde Tugomir, der immerhin ein Fürstensohn ist, darauf wirklich mit einem völligen Abbruch der Freundschaft reagieren? Ottos Maßnahmen begreift er doch auch. Und selbst wenn - würde das Thankmar derart beeinflussen? Er und Tugomir sind doch nicht verheiratet, sie treffen sich bloß ab und zu zum Saufen ...
4.) Otto fürchtet, daß ein "Monster" wie Gero nötig sein wird, um die Slawen zu besiegen, und will nicht, daß Thankmar, den er von klein auf schätzt, sich zu einem solchen Monster entwickeln muß.
Wahrscheinlich gäbe es noch mehr Gründe. Aber ich finde keinen, der sich mit den Ereignissen, den persönlichen Beziehungen und dem Charakter der Figuren wirklich in Einklang bringen ließe. Den - meiner Ansicht nach - wichtigsten Grund finde ich im Buch überhaupt nicht wieder: Otto will das Reich in einer Hand. Jetzt in seiner Hand, dann in der seines Erben. Das war das zentrale Motiv seines Vaters, und Otto setzt diese Politik fort. Er darf mit Blick auf Luidolf nicht erlauben, daß jemand, der dem Thron so nahe steht und mit solchem Recht Anspruch auf die Krone erheben könnte wie Thankmar, sich eine Hausmacht bildet. Und wenn Thankmar noch so wenig geneigt scheint, solch eine Macht zu nutzen - seine eventuellen Erben könnten anders denken.
Thankmars Reaktion auf seine Zurücksetzung ist mir im Grunde ebenso schleierhaft. Bisher war er, um's mal einfach zu sagen, in äußerst sympathischer Weise faul. Null Ehrgeiz. Vollauf zufrieden damit, an Ottos Hof rumzuhängen und zynische Kommentare abzugeben. Und jetzt plötzlich explodiert er?
Natürlich war es eine große Zurücksetzung. Aber doch kaum größer als die, die er durch seinen Vater erfahren hat, als der ihm die Krone verweigert hat. Und verglichen mit seiner Reaktion jetzt hat er das ja locker weggesteckt. Es hat auch sein Verhältnis zu Otto nicht wirklich getrübt; er hat sich ihm demonstrativ unterstellt und das auch betont (indem er beim respektvollen "Ihr" bleibt, das Otto so in den Ohren schmerzt). Oder lese ich da wieder nicht zwischen den Zeilen?
Thankmar mag Otto - er bewundert ihn beinahe. Und er ist nicht blöd. Kann er sich die Gründe, die Otto veranlaßt haben, so zu handeln, wie er handelt, nicht zusammenreimen? Er ist immerhin sein Bruder. Oder will er nicht? Warum nicht? Warum trifft ihn gerade diese Zurücksetzung so sehr?
Liegt es daran, daß er jetzt eine Tochter hat, für die er sorgen will? Dann herzlichen Glückwunsch, Herr Thankmar, dich zum Verräter zu machen und massakrieren zu lassen, war wohl die blödeste Idee, die du diesbezüglich hättest haben können.
Oder geht die Sache tiefer? Ist, was er will, im Grunde Ottos Anerkennung? Da er die Anerkennung seines Vaters nie bekommen hat? Hat er selbst Angst, ein Taugenichts zu sein, den man zu nichts gebrauchen kann, und will sich und Otto das Gegenteil beweisen? Schlägt er Otto, um ihn auf sich aufmerksam zu machen: da schau, Bruderherz, ich könnte sehr wohl?
So viele Fragen. Tut mir ehrlich leid, aber ich fand diese Passage ausgesprochen lieblos und oberflächlich erzählt. Daß Thankmar eine der beliebtesten Figuren im Buch sein würde, war ja offensichtlich so geplant. Da hätte ich mir einfach sehr viel mehr Aufmerksamkeit gewünscht.
Sonstige Gedanken:
- Thankmar und Egvina (ein Sachse und eine Angelsächsin) gebrauchen beide den urbairischen Ausdruck "grantig". Muß wohl schon Judiths Einfluß an Ottos Hof sein.
- Tugomir und Alveradis. Gingen mir weitgehend am Allerwertesten vorbei, wenn ich ehrlich sein darf. Die ganze Liebes- und Kerkergeschichte war wohl hauptsächlich nötig, damit Tugomir nicht zuviel Gelegenheit hat, auf Thankmar zu achten. Was er eigentlich auch nicht tut. Wenn Otto tatsächlich der Ansicht gewesen war, die Freundschaft zwischen Thankmar und Tugomir sei so eng, daß die Thankmars Verhalten gegenüber den Slawen generell beeinflussen würde, dann muß das eine recht einseitige Freundschaft gewesen sein.
- Es mag ja sein, daß es im Mittelalter üblich gewesen sein mag, aus dem Burgfenster zu pinkeln. Aber wie ich feststelle, es ist nicht unbedingt nötig, mir en detail davon zu erzählen. Zumindest wäre es mir lieb gewesen, wenn ich von einer eigentlich tragischen Figur wie Thankmar nicht gerade dieses Bild hätte im Kopf behalten müssen.
- Ottos Doppelmoral kennt keine Grenzen. Er schickt Gero zu den Slawen, weil er Thankmar die notwendige Härte nicht zutraut (?), ist aber hellauf entsetzt, daß sein Bruder Thankmar womöglich ein Dorf niedergebrannt haben könnte. Also was willst du jetzt eigentlich, Mann?