Stimmt,
liebe Roma,
Deine Frage ich übersehen – aber eben noch mal gefunden: Thread 1, 26.7., morgens um 05:51 Uhr. Danke, dass Du sie noch einmal einbringst.
Auch hier wieder: Eine eigentlich unkomplizierte Frage, die aber eine unglaublich komplexes Feld aufwirft. ich möchte nicht einfach die Standardantwort geben: Ja, die Figuren machen was sie wollen, oder Ja, die Figuren sind völlig anders als ich.
Es gibt mehrere Wahrheiten, die sich beim Schreibprozess überschneiden, weswegen eine Antwort allein eine bequeme Lüge wäre:
- die Figuren all meiner Geschichten tragen etwas von mir mit sich herum. Meine Hochgefühle, meine Liebe, meinen Kummer. Meine Sorgen, meine Scham, meine Sehnsucht, jemand zu sein der ich nicht bin - kurz: meine Erinnerung an alle Gefühle und Regungen, die ich in bald 38 Jahren durchlebt und durchlacht habe.
Irgendetwas an ihnen ist aus mir, ganz gleich welchen "Wert" dieses Gefühl hat, ob etwas Kleinliches oder etwas Großartiges, Über-Menschliches. Ich glaube, das gehört dazu - aus sich zu schöpfen, aus ALLEN Regungen; und sich nie darüber zu schämen, welche "kleinen" Gefühle man hatte (Wie Neid und Abfälligkeit und Intoleranz oder Feigheit).
Was deswegen dazu führt, dass die Selbstreflektion (bei vermutlich vielen Schriftstellern) sehr hoch ist. Während ich Liebeskummer hatte oder habe, speichert ein Teil von mir bereits das Gefühl ab unter: Vielleicht mal literarisch verwendbar. Dasselbe gilt für Trauer. Lust. Schmerz. Sehnsucht. Für alles.
Vielleicht sind wir die größten Vampire unserer selbst.
- Allerdings: Ich "borge" auch Gefühle und Erinnerungen und Leben bei anderen. Ich allein würde nicht genug erleben um daraus zu schöpfen, sondern würde mit meinem Repertoire bald Leser langweilen. (es gibt so Autoren, die ein und dieselbe Story imemr wieder erzählen, nur mit anderen Farben und Settings, aber immer mit denselben Archetypen und Gefühlen).
Also klaue ich aus dem Leben der Anderen. Während des Schreibens ist mir aber nur selten bewusst, von welchem Individuum; es ist mehr so, dass ich ein inneres Sammelsurium anzapfe. Da lagern unendliche Reihen von Gesichtern, Gesprächen, Geständnissen. Dazu die Flut von Eindrücken aus Zeitungen, Kino, Plakatwänden, Tagesschau… ein riesenhafter Tief-Bunker. Ach, nein, ein Ultra-Pilz, dessen unterirdische Pilzfäden sich über halbe Kontinente entlang zieht.
- alle Figuren sind dennoch eigene Chrakatere, die nichts mit mir, Nina, und meinem Leben, zu tun haben, und rein gar nichts mit dem Leben eines Anderen, den ich mal getroffen oder belauscht habe - denn auch wenn wir gewisse Gefühlsregungen teilen, so haben die Roman-Menschen eine andere Gewichtung in ihrer Persönlichkeit. Während z.B. meine Schwäche, mich in einen Lebenskäfig zu setzen und mich für einen anderen Menschen aufzugeben in der Hoffnung, dann mehr geliebt zu werden, NICHT sehr stark ausgeprägt ist - ABER VORHANDEN - so ist es in Marianne stärker ausgeprägt.
Oder meine Naivität und Schüchternheit: So habe ich mich als Kind gefühlt, so fühle ich mich manchmal noch heute; ich aknn das anzapfen, wie es war, als ich klein und die Welt groß war. Aber Simon weiß noch besser, wie das ist. Und er handelt anders als ich, genau wie Marianne - ihr Cocktail aus Eigenschaften hat andere Zutatenmangen, obgleich sich manche Zutaten mit den meinen in der Persönlichkeit gleichen.
Ich habe mich mich Marianne deswegen gestritten, weil ich mich immer gefürchtet habe, in Lebenskäfigen hocken zu bleiben; ich schrammte oft nur knapp daran vorbei. Ich war so SAUER, dass sie das auch machte - aber ich wusste, es MUSS sein, um ihre weitere Entwicklung zu tragen. Da haben Emotion und Schriftstellerhandwerk gegeneinander gewütet. Das Handwerk hat gewonnen.
- Ich bin ein discovery writer. Ich entdecke die Geschichte oft erst während des Schreibens. Vieles, was ich mir dann vorher vorgenommen habe - wer was tut oder lässt oder welche Schwächen und Bedürfnisse hat - geht einen chemischen Prozess mit dem Workflow ein. Neue Ideen kommen hinzu, neue Wege, um etwas auszuprobieren, was irgendwie mehr schäumt und zwitschert und brodelt als der geplante Weg. So kann es also sein, dass die Summe aus Plan und Prozess und Gedankentango zu einem völlig ungeahntem Weg führen; und jemand handelt, spricht oder sich entwickelt, wie ich es am Anfang oder auf den ersten 40, 50 Seiten nie gedacht hätte.
DAS ist das, was ich am Schreiben liebe. Diese Magie, diese Intensität, dieses Vordringen in Welten, die vielleicht, vielleicht, ganz diffus irgendwo in mir herum wabern. Und dann den Weg in sie gefunden zu haben - wow! Den ich aber nur fand, weil ich ihn ging! Es gibt Autoren, die planen und wissen alles; ich beneide sie manchmal, denn sie kennen die Sackgassen und Umwege und verzweifelten Labyrinthe nicht, in denen man sich verfängt und Blut und Schweiß heult, um sich aus den aberwitzig bunten Welten wieder zu lösen, um eine flüssige, lesensfähige Geschichte daraus zu machen. Echt, wie oft ich mich verfange in tausend Erzählschleifen und Abseiten und Nebenwegen… aber ich liebe es. Es geht nur so, sonst könnte ich nicht mehr schreiben.
Habe ich das jetzt einigermaßen un-verständlich dargelegt ?
Schreiben ist wie Lieben. Je mehr man es erklärt, desto unerklärbarer wird es.
Und Schreiben kommt vom Schreiben. Wer es schon längst mal tun wollte, soltle es verdammt noch mal tun. Er wird sich wundern, dass er sehr wohl über eine Seite hinaus kommt, wenns erstmal fließt.
- letzte Wahrheit über Figuren und Schreiben und die Natur des Autoren:
Oh, ja, manchmal ist es herrlich, wider seiner eigenen Natur zu schreiben. Es ist ein Fest. Böse zu sein. Oder heldenhafter. Oder aufregender. Mal ein Mann sein. Ein Tier. Oder mal der Tod sein oder ein Todfänger. Ich kenne keine Grenzen, oder, vielmehr: Ich sehe sie, und breche sie. Es gibt nichts, was so oder so sein MUSS - alles kann anders sein, immer wieder.
Wozu sonst schreiben - wozu sonst leben?
herzliche Grüße
_Nina
Mondspielerin