Das ist ein Auszug aus der Bucheinführung von vergangenem Freitag, die die Museumsleiterin gehalten hat bei meiner Lesung:
Silke Poraths zweiter Roman hat im Gegensatz zum >Bär auf meinem Bauch< ein völlig anderes Thema und ist auch so ganz anders im äußeren Erscheinungsbild.
Ein Blick auf das Cover zeigt den Protagonisten des Historienromans. Daß es den „Helden“ zeigt, möchte ich vermeiden zu formulieren, denn nach der Lektüre des Buches war mir klar, daß Antonio Claret viel zu bescheiden gewesen sein muß, um diesen Ausdruck für sich zu reklamieren.
Gerade die Hälfte des Portraits gibt der Einband her – symbolisch, denn wir wissen ja kaum, wer er wirklich war! Zumindest in Spaichingen wird man den Namen natürlich als den Gründer des Claretiner-Ordens identifizieren.
Dass die Person Claret aber weithin im Dunkeln liegt, zeigt die Tatsache, daß die Autorin im In- und Ausland, in der Sekundärliteratur, in Archivalien und mittels Gesprächen recherchieren mußte, um den Lebensweg Clarets nachzeichnen zu können. Zeitzeugen konnten natürlich nicht mehr befragt werden. Auch merkt die Autorin im Vorwort an, daß sie sich gewisse schriftstellerische Freiheiten genommen hat - allerdings immer der Absicht verpflichtet, den politischen Situationen, der Kultur und dem Milieu in dem sich Claret jeweils aufhielt und natürlich auch der Person Clarets möglichst nahe zu bleiben.
Auch wir als Leser sind Antonio Claret immer möglichst nah –fast hautnah. Die Autorin erzählt aus der beobachtenden Perspektive der Jetztzeit, bedient sich des Stilmittels der Gegenwartserzählung. Gerade am Anfang des Buches fesselt der genau beobachtende Blick Poraths, die minutiös geschilderten Szenarien, die fast an einen Dokumentarfilm erinnern. Die Autorin hält die Kamera immer dicht drauf, jedes Detail der häuslichen und alltägliche Umwelt des kleinen Buben Antonio wird festgehalten. Wir stehen im Wohnzimmer der Familie, die beim Mittagessen sitzt. Wir sitzen mit am Tisch, wenn der mit den Gedanken abschweifende aber durchaus aufmerksame Toni bemerkt, daß die Haut seines Vaters dieselbe Farbe hat, wie die zum Essen bereitgestellten Oliven. Fast indiskret wird die Nähe des Lesers, wenn er – eigentlich unbeabsichtigt – Zeuge davon wird, wie der von einem inneren Konflikt zerrissene Antonio vor dem Altar einen Zusammenbruch erleidet.
Die mit atmosphärischer Dichte geschilderte Szenerie und von der Autorin mit großer Empathie erspürte Gefühls- und Gedankenwelt des Toni zieht uns gleich zu Anfang mitten in das Geschehen, in das Leben einer spanischen Familie, die zur Zeit Napoleons durch den Betrieb einer kleinen Weberei-Fabrik im bescheidenen bürgerlichen Wohlstand lebt. Die Familie ist katholisch –aber gerade so, wie es vermutlich die meisten spanischen Familien zu dieser Zeit waren: Man betet vor den Mahlzeiten und vor dem Schlafengehen, und am Sonntag geht man zum Gottesdienst.
Allerdings gibt es eine Madonna. Und eben diese löst in dem Buben eine - Zeit seines Lebens währende - Verehrung der Mutter Gottes aus. Da die Verehrung der Jungfrau Maria eine zentrale Rolle im Leben Antonio Clarets spielt, will ich hier etwas ausholen, denn auch die Autorin hat versucht zu vermitteln, worin die Anziehung zunächst bestand.
Bereits in seiner Kinderzeit beginnt eine für den Buben wohl verwirrende Verquickung der Person seiner Mutter, deren Wesen als sanft beschrieben wird und der häuslichen Madonnenstatue, deren liebliches Lächeln ihn an die Mutter erinnert.
Es gibt aber auch die ältere Schwester Rosa, die vielmehr als die Mutter sein emotionaler Halt und Trost sind. Vom Vater gar nicht zu reden. Rosa ist diejenige, mit der er auch seine religiösen Erfahrungen teilen und mitteilen kann. Sie ist es auch, die ihn zu der Marienkapelle bringt, in der er die schönste Mutter Gottes findet, die er je gesehen hat und die von da an fast zu seinem zweiten Zuhause wird.
Die religiösen Erfahrungen sind zunächst vollkommen von der mütterlichen und Wärme ausstrahlenden Mutter Gottes geprägt. Der Bezug zu Jesus wird in diesen jungen Jahren noch nicht deutlich. In der erwähnten Marienkapelle ist die Mutter Gottes die zentrale Figur, Jesus scheint nur das kleine Kind zu sein, das diese wunderbare Frau auf dem Arm trägt.
Es scheint, als hätte Toni nicht nur in seiner warmherzigen Schwester Rosa, sondern auch in der Mutter Gottes einen Ersatz für seine leibliche Mutter gefunden. Maria ist die Mutter, die er nicht mit der wachsenden Kinderschar der Familie teilen muss. Sie hat immer Zeit für ihn. Sie spricht auch mit ihm. Er erklärt das seiner Schwester: Es ist ganz einfach, „hier unten ist die Statue und da oben hört dich das Original“. Und mit ihrem überirdisch schönen Gesicht und in dem schönen Kleid ist sie offensichtlich auch als Frau bereits für den Buben eine Augenweide.
Einige Jahre später kommt es in der Kapelle zu einem tragischen Zusammenbruch des inzwischen pubertierenden Antonio: In einer Vision erkennt er in den Zügen des Jesuskindes, das Maria auf dem Arm trägt, sein eigenes Gesicht, spürt verbotenes Begehren, das er Maria entgegenbringt und spürt ebenso die Scham über seine nicht zu kontrollierenden Gefühle. Seine Schwester, deren Körper sich ebenfalls ganz augenscheinlich entwickelt hat, wird Teil dieser mit Schuldgefühlen beladenen Phantasien. Rosa findet den nach einem offensichtlich epileptischen Anfall Bewusstlosen. Im Fieberwahn verwandelt sich das besorgt über den Kranken gebeugte Gesicht der Mutter in eine Fratze und im Rosenkranz, den die Mutter in der Hand trägt, glaubt er eine Schlange erkennen zu können.
Mit dieser an Deutlichkeit nicht zu übertreffenden Metaphorik wird hier der innere Konflikt des 14-Jährigen aufgerollt. Das klassische dreigeteilte Frauenbild in der Aufspaltung männlicher Phantasien wird wechselnd und sich überschneidend von der realen Mutter, der Schwester und der Jungfrau Maria übernommen, wobei wohl alle drei, insbesondere aber die Mutter Gottes selbst zum Objekt verbotener Begierden werden. Der Junge reagiert mit heftigsten Schuldgefühlen, man kann kaum zusehen, wie er das abwehrt, sich quält und windet. Auf wenigen Seiten wird deutlich, was eine psychologische Abhandlung über das Thema kaum deutlicher und plastischer hätte analysieren und darstellen können.
Nachdem Antonio mit dem Lateinstudium begonnen hat, gibt er seinen bislang gehegten Wunsch, Pfarrer zu werden auf und lernt auf Geheiß seines Vaters das Weberhandwerk. Antonio ist begabt, begeistert und ringt dem Vater die Erlaubnis ab, in Barcelona studieren zu dürfen. Auch hier hat er Erfolg auf Erfolg. Aber – in der Großstadt lauern Verlockungen. Die aufdringlichen Verführungskünste einer Wirtin kann er abwehren, er flieht entsetzt. Daß er kurz darauf auch noch durch die Geldgier eines Freundes bitter enttäuscht wird, treibt ihn schließlich ins Meer. Natürlich ist er nicht ertrunken, denn sonst wäre die Geschichte hier zu Ende. Antonio hat – nicht zum erstenmal – eine Marienerscheinung. Maria spricht zu ihm und schubst ihn sanft wieder auf den Strand zurück.
Dies ist die endgültige Wende in Clarets Leben, er faßt einen unumstößlichen Entschluß: Eine weltliche Karriere als Produktionsleiter in der mit seiner Hilfe inzwischen sehr erfolgreichen Tuchfabrik seines Vaters wird es nicht geben. Antonio ist 22 Jahre alt, als er sich entschließt, Mönch zu werden.
Mit fast schmerzhafter Deutlichkeit arbeitet die Autorin den religiösen Eifer, die Besessenheit des jungen Mannes heraus, der Antonio Claret inzwischen ist, als er seine Exerzitien in einem Jesuiten Kloster in Rom absolviert. Fast meint man, der junge Claret sei das personifizierte Leiden – keiner Gelegenheit zu frieren, zu hungern, Durst und Schmerzen zu leiden und sich den Mitbrüdern gegenüber zu demütigen, geht er aus dem Weg. Die Autorin läßt Claret an einer Stelle sagen: »Ich bete und bete, ich faste, ich büße, ich töte mich ab«.
Die Selbstverleugnung geht so weit, daß er sich bei einer Bußübung eine Blutvergiftung zuzieht, die ihn fast das Leben kostet. Der Abt des Jesuiten Klosters erkennt, was mit Claret los ist und sorgt dafür, daß er aus dem Konvent wieder austritt: Denn durch die konsequente Verleugnung eigener objektiver und existenzieller Bedürfnisse kommt Claret Gott nicht näher. Der Bischof schickt ihn als Missionar zurück nach Spanien.
Hier reift Clarets Persönlichkeit. Zwar stellt er immer noch sein Wohl hinter dem seiner Mitmenschen zurück. Aber endlich kommt er den körperlichen und seelischen Problemen der Menschen, die ihn umgeben und seiner Hilfe bedürfen, näher.
Der Leser sieht sich einem souveränen, verantwortungsbewußten und in sich ruhenden jungen Priester gegenüber, der sich den Menschen, dem Mensch-Sein, dem Leben zugewandt hat.
Auf Geheiß des Bischofs zieht er mit missionarischem Auftrag durch Spanien und wird zum charismatischen Prediger und schließlich auch zum Buchautor. Mit Respekt verfolgt man die visionären Pläne und Initiativen des Priesters.
Er erreicht als Prediger und Autor die Menschen als Seelsorger, aber auch viele, die ihn zu ihrem geistigen Führer machen wollen, denn in Spanien herrscht Bürgerkrieg. Als Ergebnis dieses Krieges waren die Radikal-Liberalen Monarchiegegner an die Macht gekommen, der Kirchenbesitz wurde säkularisiert, die Klöster geschlossen. Claret steht bald im Verdacht, auch politische Motive zu verfolgen, immer wieder verbietet man ihm zu predigen. Spannend verflicht die Autorin politische Ereignisse mit dem persönlichen Lebensweg Clarets, auf dem er eine Glaubenskongregation gründet, als Bischof nach Kuba geht, der Beichtvater der abgesetzten Königin Isabella II wird, sie durch Spanien und schließlich ins französische Exil begleitet, und schließlich – immer noch von der spanischen Regierung verfolgt , als alter kranker Mann im französischen Exil verstirbt.
Als begeisterte Leserin von Historienromanen habe ich das Buch gerne gelesen. Es ist spannend geschrieben und trotz der Freude am Detail ohne überflüssige Längen. Auch hat es mich berührt, was sicher auch an dem mit empathischem Feinfühligkeit skizzierten Seelenleben des Protagonisten lag. Als Kulturwissenschaftlerin habe ich natürlich die bei Historienromanen eher unübliche Zeittafel, als auch die Bibliographie im Anhang wohlwollend bemerkt. Auch die Verehrer Clarets dürften sich gerade auch darüber freuen.