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Original von Lipperin
Mir tut das Mädel einfach nur leid. Egal, wie man es nun dreht oder wendet, ich denke mir, sie war Spielball - wie das auch anderen Töchtern mächtiger Männer so ergangen ist.
Ich muss jetzt doch mal die mächtigen Väter in Schutz nehmen: Es ist ja nicht so, dass Töchter früher grundsätzlich als nutzlose Fresser angesehen wurden, gerade mal gut genug, möglichst schnell verheiratet zu werden. Das ist zwar ein sehr beliebter "feministischer" Topos, aber wie alle modernistischen und ameriko/eurozentristischen Deutungen früherer oder fremder Verhältnisse, rein schematisch gedacht: Die condition humaine wird dabei völlig außer acht gelassen.
Damit eine Heirat durch Bindung funktioniert, müssen auch positive emotionale Bindungen bestehen oder aufgebaut werden; d.h. wenn der Vater seiner Tochter nicht zugetan, sondern sie ihm wurst ist, geht er bei ihrer Weggabe keine Verpflichtung ein, und wäre das normal, würde seine evtl. Gleichgültigkeit auch keine sozialen Konsequenzen (z.B. Ansehensverlust, Autoritätsverlust) für ihn haben, weil ja alle so dächten, dass man ein Mädchen am besten gleich nach der Geburt in den Müll werfen solle.
In der Tat gibt es einzelne Völker oder Volksgruppen, in denen ein Geschlecht (meist die Frauen) als grundsätzlich wertlos betrachtet wird, aber diese treten meist (!) bei eroberten bzw. von anderen unterdrückten Völkern oder Bevölkerungsgruppen auf. Elend beraubt Menschen eines Teils ihrer (Mit-)Menschlichkeit.
Wenn man sieht, dass z.B. Platon in seinem Dialog Symposion (dt. Das Gastmahl oder Das Trinkgelage) die hingebungsvolle Liebe von Eltern sowohl im Tierreich als auch unter den Menschen als Maßstab für die Kraft der Liebe bis hin zur Selbstaufopferung ansetzen kann, dann sehen all die rein strukturellen Behauptungen, man habe seine Kinder früher nicht sonderlich beachtet sondern eher nur zu seinen Zwecken benutzt, reichlich absurd aus.
M.A.n. sagen solche Deutungen weit mehr über den Interpreten und die Weltanschauung seiner Zeit aus als über die Zeit, die er deutet.
Im Falle des Segestes ist es keineswegs ausgeschlossen, dass er seine Tochter liebte und dem Räuber auf keinen Fall überlassen wollte. Immerhin nimmt er eine Menge auf sich, um sie zurückzuholen: Er belagert Arminius' Burg.
Hinzukommt, dass die Erzählung bei Tacitus ein Einverständnis des Mädchens deutlich ausschließt: Tacitus verwendet explizit das Verb rapere - dt. rauben, "kidnappen", vergewaltigen (!) - und nicht abducere - dt. entwenden, wegnehmen - und legt damit mehr als nahe, dass Thusnelda nicht durchgebrannt, sondern gewaltsam entführt worden war. Er hat keinen Grund, die Sache anders darzustellen; wäre Thusnelda getürmt, dann wäre es auch nach römischer Auffassung Segestes' ureigenes Recht gewesen, seine Tochter zurückzuholen. Es hätte keinen Einfluss auf die Argumentation gemacht -- im Gegenteil: In diesem Falle wäre es für Tacitus leichter gewesen, Germanicus' Forderung noch eine moralische Note zu verpassen, indem er den entehrten Vater von einer Schmach befreit hätte. Aber kein Wort davon.
Die spätere Erzählung von der Raubehe mit Einverständnis des Mädchens, weil sie nicht einem ungeliebten Verlobten gegeben werden wollte, ist Bestandteil des wesentlich späteren Hermannsmythos ohne jeden Rückhalt in den Quellen. Selbst das Heranziehen späterer Sitten ist fadenscheiniges Getue; meist wurde die Raubehe dann schöngeredet, wenn es darum ging, den Raum aus politischen Gründen im Nachhinein wegen eines Friedensschlusses zwischen "Räubern" und "Beraubten" zu legitimieren (wie z.B. im Falle der Sabinerinnen oder der von Wikingern nach Island verschleppten Schottinnen).
Als Germanicus wiederum auf Segestes' Burg auftaucht und feststellt, dass Thusnelda schwanger ist und das vermutlich von seinem Erzfeind, dürfte er nachdrücklich die Herausgabe des Mädchens gefordert haben.
Offen gestanden möchte ich weder in Thusneldas Haut gesteckt haben, noch in der ihres Vaters; denn damals war ein Gaufürst für das Wohl und Wehe seiner Leute verantwortlich, und wenn er diese Verantwortung ernst nahm, dann befand er sich in dem Augenblick, als Germanicus aufkreuzte, in einer üblen Zwickmühle.
Zitat
Und was der Herr von K. aus ihr gemacht hat, verzeih ich ihm nie!
Wie gesagt: Es sagt viel aus über den Herrn von K. und seine Zeit. Das gilt auch für Herrn von. Und sein "Thusnelda-Bild"