Beiträge von rumble-bee

    Ich habe die Originalversion gelesen, und möchte sie uneingeschränkt empfehlen! Hier meine Rezension.
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    Es handelt sich hier um den zweiten Band in der Reihe "The No. 1 Ladies' Detective Agency" um die liebenswerte und pfiffige Detektivin Precious Ramotswe aus Botswana. Man merkt deutlich, dass ihr Schöpfer, der in Afrika geborene Schotte Alexander McCall Smith, sich auf eine längere Reihe eingestellt hat. Denn der zweite Band mag zwar auch für sich genommen lesbar sein, seine volle Bedeutung erhält er jedoch erst, wenn man auch den Vorgänger kennt.


    Für mich war dieses Buch jedoch in manchen Aspekten noch besser als der Einstiegsband, und erhält daher auch 5 Sterne. War der erste Band noch in vielem sehr andeutungsweise, und auch von den erzählten "Fällen" her eher episodisch, hat sich in diesem Band der Autor schon mehr auf seinen Stil "eingeschossen". Er hat sich sogar ganz konkret mehrere Themen vorgenommen, und es werden auch nur zwei Fälle geschildert - einer davon sogar sehr ausführlich.


    Man kann das Buch aus mehreren Blickwinkeln betrachten. Da wäre erstens der persönliche Aspekt. Mma Ramotswe und ihr Verlobter, der etwas tumbe, aber herzensgute J. L. B. Matekoni, bereiten sich sowohl innerlich als auch konkret auf ihre Hochzeit vor. Da geht es um die Wahl des Wohnsitzes, um faule Hausangestellte, teure Verlobungsringe, und - wer hätte das gedacht - zwei unerwartete Adoptivkinder. Es ist einfach herzerfrischend, wie sich diese zwei ungleichen Charaktere einander annähern, immer wieder mal unsicher sind, aber durch teils wirklich ulkige Wendungen doch wieder sich versöhnen.


    Der zweite wichtige Aspekt ist ein thematischer. Ich vermeinte förmlich riechen zu können, wie der Autor sich am Schreibtisch die Hände rieb, und sich darauf freute, dem Leser Botswana mit all seinen Facetten nahebringen zu können! Genauer gesagt, geht es um diverse Aspekte der Höflichkeit, der Etikette und Erziehung. Wie begrüßt man sich, wie geht man miteinander um, wie nimmt man ein Geschenk an, wie steht es um Bescheidenheit und Nachbarschaftshilfe, wie um die Erziehung der Jugend, und und und. Ganz nebenbei geht man so aus der Lektüre bereichert hervor - nämlich bereichert um ein farbiges Bild eines afrikanischen Landes, das zu Recht stolz auf sich ist.


    Der dritte Aspekt ist - schließlich und endlich - der kriminalistische. Doch schon im ersten Band wurde ja deutlich, dass der Autor die Reihe nicht in erster Linie als Detektivromane, als reine Spannungslektüre also, versteht. Hier wird das noch viel klarer. Erzählt wird konkret von zwei Fällen, einem am Rande, und einem ausführlich. In ersterem geht es völlig unspektakulär um eine untreue Ehefrau, im anderen um einen vor 10 Jahren verschwundenen Amerikaner. Doch beide Fälle werden benutzt, um tiefsinnig über Sinn und Unsinn von detektivischer Arbeit zu reflektieren. Konkret: was nützen dem Kunden gewisse Ergebnisse, wenn sie weh tun? Ist es wirklich immer die Aufgabe eines Detektivs, dem Kunden die Wahrheit zu 100 % zu sagen? Wann muss man z.B. mehr das Wohl aller Beteiligten bedenken? Mma Ramotswe, grandios unterstützt von ihrer Assistentin Mma Makutsi, findet auch hier ihren höchst eigenen Weg. Man ist als Leser fast beschämt bei so viel Menschenkenntnis und Anteilnahme.


    Der Schreibstil ist, im Vergleich zu Band 1, wesentlich ausgereifter geworden. Und vor allem: der Humor ist hier nicht mehr nur leise, sondern teilweise schon überdeutlich! zwar immer noch augenzwinkernd, aber stets mit erzieherischer Absicht. Männer und Frauen, Ausbilder und Auszubildende, Kunden und Verkäufer, Mechaniker und Motoren - überall ist Raum für lauter Episoden, bei denen herzhaft geschmunzelt werden darf.
    Da kann man sich wirklich nur freuen auf die weiteren Bände. Mma Ramotswe, Sie sind einzigartig!

    Die ersten beiden Kapitel dieses - zugegeben - äußerst stimmungsvoll aufgemachten und liebevoll gestalteten Buches lassen noch alles offen. Ich würde sie als Einstieg oder Teil Eins bezeichnen. Es geht um Jacob Portman und seinen Großvater Abraham, der seinem Enkel immerzu die wildesten Abenteuergeschichten aus seiner Jugend erzählt. Jacob (und der Leser) vermuten zunächst, diese Geschichten seien frei erfundene Märchen, um den Enkel bei Laune zu halten. Schließlich kommen darin Kinder mit übernatürlichen Fähigkeiten vor, sowie eine einsame Insel und eine geheimnisvolle Heimleiterin. Doch als der Großvater plötzlich unter rätselhaften Umständen stirbt, und mysteriöse letzte Worte voller versteckter Hinweise murmelt, da stellt sich die Situation ganz anders dar.


    So weit, so gut. An dieser Stelle hatte man als (erwachsener) Leser noch das Gefühl, es stünden viele Möglichkeiten offen. Eine gewisse Grundspannung war geweckt, und man machte sich gefasst auf (unter anderem) Vergangenheitsbewältigung, Trauerarbeit, Abenteuer, ein wenig Geschichte, und vielleicht noch eine Familiensaga. Doch das Buch lässt alle diese Fäden fast völlig in der Luft hängen, und schlägt den unvorhersehbaren Weg reiner Fantasy ein.


    Wenn ich nun versuche, mich in einen jugendlichen Leser hineinzuversetzen, mag das alles durchaus seinen Reiz haben. Doch als Erwachsener kann ich nicht umhin, auch etliche Aspekte zu bemängeln. Da wäre zum einen die Tatsache, dass sich das Buch nach den so vielversprechenden ersten beiden Kapiteln fast ausschließlich an einem rein auf Handlung ausgerichteten Faden entlanghangelt. Es geschieht immerzu etwas, eine neue Episode, ein neues Detail, alles erlebt und beschrieben aus Jacobs Perspektive. Nur leider tritt dafür die Charakterisierung doch arg in den Hintergrund. Und das Verhältnis zu Jacobs Großvater auch. Zwar trifft Jacob schließlich Personen, die seinen Großvater - noch als Kind! - gekannt haben. Aber es geht nicht um die Klärung des Verhältnisses zu seinem Großvater. Nein, es geht immer nur darum, was als nächstes geschieht. Und das ist bei einer Story, in der es um eine Reise in eine andere Zeit geht, nicht eben wenig.


    Jacob, so scheint es mir, wurde nur in den besagten ersten beiden Kapiteln wirklich charakterisiert. Es mag sein, dass ich dem jugendlichen Alter schon zu fern bin, aber ich kann mir nur schwer vorstellen, dass sich ein 16jähriger derart von den Geschehnissen treiben und mitreißen lässt, ohne auch nur im mindesten an seine eigene Familie zu denken. Es ist schwer, dies alles näher zu erklären, ohne auf das - offene - Ende anzuspielen. Jacob trifft am Ende des Buches eine Entscheidung, die sich so für mich nicht hat ablesen lassen. Und diese Entscheidung ist für meinen Geschmack viel zu einfach und problemlos umgesetzt worden. Ich kann mir das nur damit erklären, dass das Buch von vornherein auf mehrere Bände angelegt ist, und Jacob darin als eine Art "Führungsfigur" für den Leser fungiert. Aber auch das hätte man besser vorher gewusst.


    Ich kann nicht umhin zu denken, dass man - aus meiner Sicht - so viel mehr aus dieser Geschichte hätte machen können. Ein Junge mitten in der Pubertät, eine andere Zeit, viele rätselhafte Geschehnisse, und ein moralisches Dilemma. Gute Zutaten also. Zugegeben, die ganze Sache lässt sich wirklich locker-leicht lesen, und stellt kaum höhere Anforderungen an linguistische Fähigkeiten des Lesers. Das hat aber im Umkehrschluss zur Folge, dass die Geschichte sich fast ausschließlich an der Oberfläche bewegt. Innere Monologe, tiefere Erkenntnisse, seelische Konflikte und deren Lösung, längere Beschreibungen, Andeutungen - all das sucht man hier vergebens. Es drängt sich mir der Vergleich "Diana Gabaldon für Kinder" geradezu auf, zumal auch dieses Buch hier ein zartes romantisches Moment enthält - was jedoch für die Handlung an sich völlig unerheblich ist.


    Aber es geht doch auch anders! Man kann "einfach" schreiben, ohne so oberflächlich am Plot entlang zu wandern. Man kann einen jugendlichen Helden erfinden, der sich in einer anderen als seiner eigenen Welt zu verlieren beginnt - und dem man das dann auch glaubt! Wie sehr habe ich an Bastian Balthasar Bux aus der "Unendlichen Geschichte" denken müssen - allerdings mit viel Wehmut. Jacob Portman hat nicht annähernd dessen Tiefe und Facettenreichtum. Jacob fungiert wie eine Kamera, die wenig mehr tut als reine Aufzeichnung zu betreiben. Schade.


    Was das ganze Buch allerdings bedeutend aufwertet, sind die Fotos. Über das ganze Buch verstreut, sind echte (!) alte Aufnahmen enthalten, die allesamt in die Geschichte eingebaut werden. Der Autor betont in Vorwort und Anhang, dass die Bilder nur minimal verändert worden seien. Insofern ist sein Erfindungsreichtum doch sehr zu bewundern. Auch erhält dadurch die Geschichte doch deutlich mehr Glaubwürdigkeit, als sie es rein durch die Worte hätte. Nur hin und wieder wirkte das betreffende Foto in der Geschichte ein wenig "bemüht", weil die darauf abgebildete Person nur in einem oder zwei Sätzen vorkam.


    Wie soll ich das Buch nur abschließend beurteilen? Wenn es tatsächlich rein für junge Leser gedacht ist, dann könnte ich mir vorstellen, dass es eine gewisse Begeisterung weckt. Die Grundidee für die Handlung ist durchaus originell, und das offene Ende lässt einen ganzen Erzählzyklus vermuten. Die einfache Sprache, die vielen Dialoge und der hohe Anteil an direkter Rede erleichtern das Lesen; und auch die Fotos vermitteln Lebendigkeit. Man darf nur keine tiefere Auseinandersetzung mit Wahrscheinlichkeit, Geschichte, Familie, und ähnlichen Dingen erwarten - denn die sucht man als (erwachsener) Leser hier vergebens.

    Vorbemerkung: auch ich habe das Buch auf Englisch gelesen. Ich würde die Originalfassung wirklich jedem empfehlen - die Sprache ist einfach, und so kommt die afrikanische Mentalität noch viel besser rüber. Englisch IST ja eine der Amtssprachen in Botswana. Hier nun die Rezi.


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    Auf dieses Buchreihe aufmerksam geworden bin ich durch Diskussionen unter Leseratten, die ich immer mal wieder mitbekam. Und nicht zuletzt durch die herrliche und absolut liebenswerte Verfilmung, die erst kürzlich auf Arte gesendet wurde! Ich wusste, was auf dem Bildschirm derart fesselt, kann als Buch nicht schlecht sein. Und da ich ein systematischer Mensch bin, habe ich mir gleich den ersten Band der Reihe im Original besorgt. Nach nicht einmal zwei Tagen hatte ich das Buch "eingeatmet", und mag mich noch gar nicht so recht davon trennen.


    Schauplatz und Autor sprechen ja schon für sich. Alexander McCall Smith ist hauptberuflich eigentlich kein Autor, sondern Akademiker - ein in Afrika geborener Schotte, der als Professor für Medizinrecht und Bioethik gearbeitet hat. Außerdem hat er etliche Jahre in Afrika gelebt, unter anderem eben auch in Botswana. Was schließen wir daraus? Der Mann hatte es durchaus nicht nötig, Krimis zu schreiben. Aber er wollte es offenbar, und hat es als Hobby betrieben. Und seine Liebe zu Afrika spürt man auf jeder Seite, aus jeder einzelnen Zeile heraus!


    Das Resultat nun mit anderen Krimis auf eine Stufe zu stellen, und die Heldin, die liebenswerte und dickliche Mma Ramotswe gar mit einer Miss Marple zu vergleichen - nein, dabei ist mir trotz allem nicht recht wohl. Ich habe das Buch geliebt, aber nicht als handelsübliche Spannungslektüre empfunden. Vielmehr ist es ein leicht schrulliges Porträt von Land und Leuten in Botswana, das eben mehr oder weniger zufällig an der Lebensgeschichte einer Privatdetektivin aufgehängt wurde.


    Erstens einmal wird die Geschichte durchaus nicht geradlinig erzählt. Nicht wie andere Krimis, von der Idee der Gründung der Detektivagentur über den ersten Fall bis hin zum spannenden Höhepunkt. Oh nein, so einfach macht es der Autor dem Leser nicht. Er zwingt ihn geradezu, sich mit dem Land Botswana und der Mentalität afrikanischer Menschen auseinanderzusetzen. Und genau zu diesem Zweck benutzt er seine Figur Mma Ramotswe, eigentlich Precious Ramotswe, als Spiegel und Leitmotiv.


    In den ersten Kapiteln geht es um diese Frau und ihre Geschichte. In mehreren Kapiteln voller Rückblicke geht es zunächst um das Verhältnis zu ihrem Vater, und wie sie an die Erbschaft gelangte. Ferner erfahren wir viel über ihr Verhältnis zu Männern, insbesondere ihre desaströse kurze Ehe mit dem Egomanen und Musiker Note Mokoti. Die Gründung der Agentur geschieht fast nebenbei. Die "Fälle" werden eher episodisch erzählt, wobei immer wieder Zwischenkapitel auftauchen, in denen Mma Ramotswe z.B. einfach durch die Landschaft fährt, sich Gedanken über das Verhältnis von Männern und Frauen macht, ihre Freundschaft zu einem etwas tumben, aber herzensguten Mechaniker überdenkt, und so weiter. Das ganze sprüht dabei vor sehr leisem, aber dennoch deutlichem Witz. Die schnörkellose und einfache Sprache unterstreicht diesen Eindruck noch. Auch mit ein wenig verblasstem Schulenglisch ist dieses Buch noch wunderbar zu lesen!


    Ich bin mir nicht einmal sicher, ob der Autor nicht ursprünglich eine Krimi-Parodie beabsichtigt hat. Denn Mma Ramotswes Herangehensweise an ihre Fälle ist dermaßen eigen und ungewöhnlich, dass man aus dem Schmunzeln nicht mehr herauskommt. Sie hat durchaus keine Ausbildung als Detektivin, und hält sich viel lieber an ihren gesunden Menschenverstand, und - ein Handbuch! Einen Schnorrer überführt sie beispielsweise dadurch, dass sie sich als Krankenschwester verkleidet und einen medizinischen Notfall vortäuscht. Den Fall eines geklauten Autos löst sie, indem sie den ursprünglichen Besitzer ermitteln lässt, und das Gefährt schlicht und ergreifend selber zurück klaut! Und so geht das in einem fort. Sie ähnelt insofern ein wenig "Pater Brown" von G. K. Chesterton, der ja auch immer eher versucht hat, die Menschen zu läutern und mit ihnen ins Gespräch zu kommen.


    Wer also ein Fan von spannenden Fällen und logischer Ermittlung ist, der sollte wohl lieber nicht zu dieser Reihe greifen. Mma Ramotswe ist eine Figur, die mitten aus dem Leben in Afrika gegriffen scheint, und die uns als Lesern doch so manches Mal den Spiegel vorhält, was unsere Leidenschaften und Besorgnisse angeht. Für mich ist sie zu einer Art Freundin geworden, deren weiteren Weg in den Folgebänden ich gespannt erwarte.

    Zitat

    Original von magali
    Munro ist weniger eine Erzählerin, deren Stimme einem in den Ohren klingt, während man liest, sondern eine, die einem ihre Augen leiht. Ihre Geschichten zu lesen, heißt, mit ihren Augen Menschen zu sehen. Und das, was man beim Lesen hört, sind die Stimmen und die Worte eben dieser Menschen.
    Ein Erlebnis.
    :wave
    magali




    Das ist wohl die schönste Beschreibung von Alice Munros Prosa, die ich je gelesen habe!! Wundervoll!!

    Achtung, Frauenbuch! Am liebsten würde ich sämtlichen Exemplaren dieses Buches einen solchen Aufkleber verpassen. Und dafür den eigentlichen Klappentext streichen. Der sagt nämlich ungefähr so viel über das Buch aus, wie ein Kochrezept über den Geschmack eines Gerichts. Eigentlich geht es hier schlicht und einfach um die Vergangenheitsbewältigung einer etwas verkorksten Frau Mitte 50, und nicht etwa um einen Wochenendausflug einer Erwachsenen und eines Teenagers.


    Ich muss mich wirklich ein wenig über den deutschen Verlag ärgern. Den der hat in meinen Augen dem Leser gegenüber Etikettenschwindel betrieben. Das, was der Klappentext hier anpreist, ist wenig mehr als Auslöser für die Handlung - insofern man das als Handlung bezeichnen kann, was man hier serviert bekommt. Es fängt schon damit an, dass einem vorgegaukelt wird, eine erwachsene Frau fahre mit "der Tochter einer Bekannten" in ihr Ferienhaus, um die Folgen eines Einbruchs zu verdauen. Schon zweimal falsch. Erstens, das Mädchen ist eine völlig Fremde für die Frau; sie ist die Tochter der Innenarchitektin, welche diese bei der Protagonistin ganz einfach für ein paar Tage "abgeladen" hat. Von wegen Bekannte. Zweitens, die Heldin wollte sowieso in das Ferienhaus fahren, um an einem Vortrag zu arbeiten. Der Einbruch wird nie wieder erwähnt, und war für die Handlung mehr als überflüssig.


    Was dann folgt, las sich zwar oft poetisch und schön, kann aber meiner Meinung nach nur sehr ansatzweise als "Handlung" bezeichnet werden. Der Ausflug in das Ferienhaus ist wenig mehr als ein loses Gerüst, an dem die Kindheitserinnerungen von Gunnur, der Protagonistin, aufgehangen werden. Denn Geschichten aus der Vergangenheit zu erzählen, erweist sich kurioserweise als einziges Mittel, um den renitenten Teenager einigermaßen bei Laune zu halten - wo es doch in dieser Einöde schon keine funktonierenden Medien gibt.


    Schon diese Tatsache allein fand ich, man entschuldige mich bitte, schlicht unglaubwürdig. Mir ist die Absicht der Autorin zwar durchaus klar: eigentlich wollte sie von Anfang an die Vergangenheit Gunnurs in den Mittelpunkt stellen. Aber warum das ausgerechnet anhand einer Rahmenhandlung funktionieren soll, in der ein pubertierendes Gör bei einer Mittfünfzigerin festsitzt - das ist mir ein Rätsel. Dann hätte man sich die Rahmenhandlung gleich ganz sparen können, zumal alles völlig in der Schwebe bleibt, und das schwierige Verhältnis Gunnur / Gast weder in den Alltag zurückgeführt, noch wirklich "gelöst" wird. Das Buch endet einfach mit einer mehr als schwer zu dechiffrierenden Andeutung, Gunnur habe nun ihren Frieden mit ihrer Vergangenheit und vor allem mit ihrer Mutter geschlossen.


    Ich möchte meine vorangegangenen Bemerkungen insofern "entschärfen", als ich nicht grundsätzlich von der Lektüre abraten würde. Die Widmung im Vorsatzblatt hätte eigentlich für mich auf den Umschlag gehört; dort sagt die Autorin nämlich, Männer läsen dieses Buch "auf eigene Gefahr", weil es hier um sehr weibliche Themen gehe. Stimmt zu 100 %! Es geht um eine schwieriges Verhältnis einer vaterlosen Tochter zu ihrer Mutter, um die Versuche dieser Tochter, sich selbst zu behaupten, eine eigene Identität zu finden. Es geht um schöne Naturschilderungen, um die Rolle der Frau in Island, und um poetische Sprache. Nur geht es eben fast gar nicht um die Rahmenhandlung. Und das sollte man eben berücksichtigen, wenn man denn doch zu diesem Buch greift. Ich bescheinige der Autorin durchaus schriftstellerisches Talent. Nur eben kein glückliches Händchen darin, auf den Punkt zu kommen, dem Leser wirklich das zu reichen, worum es ihr eigentlich geht.

    Nach diesem Buch fühlt man sich, als habe man zehn Romane gelesen, und nicht zehn Erzählungen! Alice Munro besitzt eine unglaubliche Gabe, die sie in diesem Band wieder einmal glänzend entfaltet: sie erweckt mit wenigen Worten ganze Szenerien, ganze Biographien zum Leben, sie porträtiert, sie ergründet menschliche Motivationen, sie stellt Fragen, sie nimmt den Leser mit, sie begeistert. Dabei sind nicht alle Geschichten wirklich in sich geschlossen. Oft gibt es offene Enden, oder doch zumindest fragwürdige. Doch gerade dies führt dazu, dass sich die Geschichten im Kopf des Leser fortspinnen, und er sich immer wieder in die erzählten Welten zurückträumt.


    Beeindruckend finde ich diesen Band auch wieder wegen der Vielfalt der gewählten schriftstellerischen Mittel, die aber in jedem Falle professionell durchgezogen werden. Wir haben den allwissenden Erzähler, der von einer schicksalsträchtigen Periode im Leben der Hauptfigur berichtet, mit gelegentlichen Vor- und Rückblenden. Wir haben den Ich-Erzähler, einmal als Mann (!), einmal als junge Frau. Beide streunen wie die Katze um den heißen Brei um gewisse Geschehnisse in ihrem Leben herum; aber der Leser merkt doch genau, was ihr Leben ausmachte. Er durchschaut sie, wohingegen sie sich selber weniger verstehen. Wir haben unglaublich kunstvoll erzählte Familiensagas, die zum Teil in der fortlaufenden Gegenwart, zum Teil aber auch durch mehrere eingeschobene Erzählebenen reflektiert und gebrochen werden. Wir haben Geschichten, deren erzählte Zeit nur sehr kurz ist, aber deren Symbolgehalt dafür umso reichhaltiger ausfällt. Wir haben Dramen in der Vergangenheit. Und sogar kriminalistische Elemente gibt es! Wahrhaftig, dieses Buch enthält das ganze Leben, möchte ich meinen.


    Allerdings möchte ich meine Begeisterung insofern einschränken, als die Bücher von Alice Munro gewiss nicht zum wohlfeilen Konsum taugen. "Verschlingen" lassen sie sich schlecht; sie möchten miterlebt und nachvollzogen werden. Diese Schriftstellerin, die zu meinem völligen Unverständnis immer noch nicht den Literaturnobelpreis gewonnen hat, verdient besondere Leser. Nämlich solche, die sich immer wieder neu innerhalb von 30 oder 40 Seiten auf einen ganzen Kosmos einlassen können. Und solche, die Atmosphären, Stimmungen, Rätselhaftem und teilweise auch Diabolischem gegenüber offen sind. Ach - die Welt wäre ärmer ohne Alice Munro.

    Alberto Manguel ist für mich der Prototyp dessen, was man einen "gelehrten Plauderer" nennen könnte. Er steckt so voller Leidenschaft, was sämtliche Themen rund um Bücher, das Lesen und die Schriftkultur angeht, dass er aus fast jedem Anlass die Motivation ziehen kann, uns Leser mit einem weiteren Druckerzeugnis zu beglücken. Und dabei schafft er es auch noch "ganz nebenbei", seine Plaudereien sowohl zur Informationsveranstaltung, als auch zur Unterhaltung geraten zu lassen.


    In diesem Falle stammt die Motivation für das Buch aus seiner eigenen Bibliothek, die (zum Zeitpunkt der Niederschrift) in einem kleinen, restaurierten Landsitz mitten in Frankreich liegt. Manguel nimmt nun seine Erlebnisse mit dem Aufbau der eigenen Bibliothek als Leitfaden, und spinnt von dort aus jeweils seine Kapitel. Beim Auspacken von Kartons denkt er z.B. über die Ordnung einer Bibliothek nach. Beim abendlichen Sitzen im Lesesessel über die Erinnerungen, die in einer Bibliothek versammelt sein können. Beim Einräumen in die Regale sinniert er über politische, literarische oder sonstige Gründe, eine Bibliothek zu errichten oder zu stiften. Und so weiter, und so fort.


    Man fühlt sich als Leser von ihm an die Hand genommen, und mit sicherer Hand durch einen Kosmos des Wissens geleitet. Die ersten Seiten der Kapitel spielen jeweils noch in der Manguel'schen Bibliothek, doch unmerklich gleitet der Autor auf den weiteren Seiten in Historie und Histörchen, in Informationen und Anekdoten aus berühmten Bibliotheken aus aller Welt. Verblüfft hat mich dabei vor allem, wie oft doch eine Bibliothek ein Politikum sein kann. Der Zugang kann mit simplen Machtstrukturen zu tun haben. Die Stiftung einer Bibliothek kann dem Wunsch entspringen, sich selbst in der Geschichte zu verewigen. Die Zerstörung einer Bibliothek entspringt oft dem Wunsch, den Gegner zu unterwerfen. Es gab Bibliotheken in Konzentrationslagern, mitten im Bürgerkrieg im Libanon, auf Eselsrücken im südamerikanischen Urwald, und in der Wüste. Meine Schlussfolgerung ist, dass Bibliotheken dem gespeicherten Gedächtnis der Menschheit entsprechen.


    Doch genauso oft gibt es einfach nur komisch-informative Kapitel. Da geht es z.B. um die Dauerhaftigkeit verschiedener Speichermedien, wobei das Buch nicht einmal schlecht abschneidet. Es geht um kuriose Ordnungsprinzipien, und um den meist vergeblichen Wahn, einen repräsentativen Querschnitt in den Regalen zu versammeln. Da fragt man sich teilweise doch, ob die Menschheit vor der Erfindung der Schrift wirklich schlechter dran war...!


    Mein einziger Kritikpunkt an diesem Buch ist der, dass in späteren Kapiteln doch der Zusammenhang zwischen Titel und Inhalt eher lose ist. Gerade in den allerletzten Kapiteln besteht der Inhalt oft nur aus einer einzigen weiteren politischen Anekdote. Das hätte man meiner Meinung nach alles ein wenig raffen können. Dann lieber nur 8 Kapitel, und dafür ein etwas ausführlicheres über "Bücher und Politik". Das wäre für mich besser gewesen als 12 Kapitel, bei denen die Titel wenig mehr als ätherische Spielereien sind. Doch das nur am Rande. Insgesamt ist das Buch immer noch hervorragend. Es unterhält, und es regt zum Nachdenken an. Und vor allem - es zeigt dem Bücherwurm, dass er mit seiner Manie in der Geschichte der Menschheit nicht allein ist!

    [quote]Original von Cith
    Vorwort


    Deine Kritik gefällt mir sehr gut, rumble-bee. Ich kann dieser Kritik auch in fast allen Punkten zustimmen, obwohl du es wesentlich besser ausgedrückt hast, als ich bei meiner vorablesen-Rezension.


    Meiner Ansicht nach ist das Buch eine gute Unterhaltungslektüre, wenn man mit nicht zu hohen Erwartungen an dieses (Jugend-)Buch (denn das ist es eindeutig) herangeht.


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    Es freut mich, dass wir einer Meinung sind! Ich hatte zuerst Bedenken, ob ich die Kritik an der Vermarktung so offen äußern sollte. Denn soweit ich das sehen kann, wird das Buch nicht ausdrücklich als Jugendbuch beworben. Schade. So könnte viel Verwirrung vermieden werden!

    Eigentlich lese ich gar keine historischen Romane. Zu staubtrocken, zu moralinsauer erschienen mir die wenigen Exemplare dieser Gattung, in die ich tatsächlich hineingelesen habe. Entweder gerieten sie zu völlig unsinnigen Schmonzetten à la Gabaldon, oder sie verloren sich in historischen Details, und die Figuren blieben blass (Iny Lorentz wäre da ein gutes Beispiel). Umso überraschter war ich von diesem Buch! Schon die Leseprobe wich in vielen farbigen Details von meinen Vorurteilen ab, und auch das ganze Buch konnte mich überzeugen.


    Ich muss dazu sagen, dass dies für mich auch kein "reinrassiger" historischer Roman ist. Die Autorin hat das Kunststück vollbracht, verschiedenste Charakteristika zu vermischen. Hier mischen sich gleichermaßen Zeitgeschichte, Familiensaga, Abenteuer- und Banditenerzählung, Liebesroman, und kriminalistische Schnitzeljagd à la "Da Vinci Code".


    Sicher, einerseits geht es hier um ein prallvolles und farbiges Epochenporträt, nämlich das Sevilla des 18. Jahrhunderts, mit allen politischen und sozialen Umwälzungen. Dann jedoch darf man nicht aus den Augen verlieren, dass es sich ebenso um eine Familiensaga handelt, die sich über drei Generationen erstreckt. Gut gemacht ist dabei die Tatsache, dass die drei Teile des Buches (Eröffnung - Mittelspiel - Finale) jeweils einer Figur dieser Familie zugeordnet sind. Den ersten Teil bestreitet im wesentlichen Julia de Haro, die Witwe eines Druckereibesitzers. Den zweiten Teil über begleiten wir ihren Sohn Abel de Montenegro; und der dritte Teil schließlich wird von dessen Tochter Guiomar dominiert.


    Diesen Aspekt, die Familiensaga, würde ich das "Gerüst" des Buches nennen, zu dem die anderen Handlungsaspekte mehr oder weniger Beigaben bilden. Selbst das im Klappentext angekündigte Abenteuer um das historisch so relevante Schachspiel zwischen Mauren und Christen gerät letztlich zu nicht viel mehr als einer netten Ausschmückung. Das möchte ich jedoch nicht als Kritik verstanden wissen! Im Gegenteil hatte ich vor Antritt der Lektüre die Befürchtung, das Buch könnte, wie bei einem Dan Brown, völlig überdreht auf eine detailreiche Schnitzeljagd hinauslaufen. Doch im Gegenteil. Die Suche nach den verloren gegangenen Regeln des Spiels taucht nur in einem gefühlten Drittel des Buches auf, und wird organisch mit der Geschichte der Familien de Haro/Montenegro verbunden. Das hat mir gut gefallen.


    Jeder der drei Teile könnte zudem für sich stehen, und wäre schon einen einzelnen Roman wert. Jede dieser drei Personen, sei es Julia, Abel oder Guiomar, ist ein starker Charakter, der jedoch die immer gleichen Probleme durchmachen muss. Jeder von ihnen entwickelt sich anders, als sich seine Erzieher das gedacht hatten. Jeder hat eine geheime Liebschaft, und jeder wird in politische Wirren hineingezogen. Und auch die letztliche Partnerwahl gestaltet sich immer hindernisreich. Doch was sie alle eint, ist die Liebe zur Druckerei, die Überzeugung, mit diesem Gewerbe etwas Wichtiges voranzubringen.


    Wie gesagt, hat mich fasziniert, dass die Autorin so viele erzählerische Ansätze verfolgt. Nicht nur das historische Schachspiel, nicht nur die familiären Wirren um Julia, Abel & Co. Wir haben genauso die klassischen Liebesdramen, die teils ein wenig an Shakespeare, dann wieder an "Zorro" erinnerten! Obwohl sich manches dabei von Generation zu Generation wiederholte, fand ich diese Stellen sehr farbig und überzeugend gestaltet. Geheime Treffen, nächtliches Entkommen aus dem Schlafzimmer, Steinchen, die an Fenster geworfen werden, gewagtes Erklettern von Obstbäumen, und gegen Ende sogar eine echte Räuberhöhle und ein offenes Ende. Wohlgemerkt, für sich allein genommen wäre das natürlich ein wenig zuckersüß, aber innerhalb dieses an sich schon prallvollen Buches bildeten diese Liebesgeschichten einen angenehmen Kontrapunkt.


    Wie würde ich den eigentlichen Erzähl- und Schreibstil charakterisieren? Ein wenig war mir so, als säße ich mit einer alten Zigeunerin am Lagerfeuer, und lauschte ihren Erinnerungen. Denn die Erzählweise war oft nicht "geradlinig", sondern eher verschlungen. Innerhalb eines Kapitels kam die Autorin schon mal vom berühmten Hölzchen aufs Stöckchen, um dann, nach etlichen Rückblicken und Abschweifungen wieder bei der Szene zu landen, die in der Gegenwart spielt. Doch das hat mit der Zeit seinen ganz eigenen Reiz entwickelt. Zudem hat die Autorin es verstanden, die Neugierde des Lesers durch unzählige "Vorausdeutungen" immer wieder anzustacheln. Und im Rückblick muss ich sagen, die machten auch alle Sinn, und wurden sämtlich aufgelöst. Respekt! Das Ganze wurde dann noch gewürzt mit einer ordentlichen Portion Leidenschaft, tragischen und rachsüchtigen Nebenfiguren, sowie tränenreichen Sterbeszenen und Abschieden. Ziemlich großes Kino also, das mich jedoch in der Gesamtschau überzeugt hat.


    Zuletzt erwähnen möchte ich noch, dass die Autorin meiner Ansicht nach trickreich versucht hat, Episoden einzufügen, die ganz indirekt und charmant Kritik an unserer eigenen Zeit üben. Es wird ein schmunzelnder Blick auf manche neuen Entwicklungen geworfen, und man fragt sich amüsiert, ob die Menschheit sich überhaupt geändert hat. Da geht es zum Beispiel um die Entwicklung des Zeitungs- und Buchwesens, darum, wie Trends ausgenutzt werden, um Druckerzeugnisse zu vermarkten. Schon damals gab es scheinbar ruchlose Feuilletonisten, die ganz gerne mal die Massenhysterie angefacht haben, um gedruckt und gehört zu werden! Ferner war es wohl schon immer das weibliche Publikum, das als Hauptzielgruppe der Werbung und der Schriftstellerkunst diente. Es wurde mit Ängsten, Aberglauben und auch Sensationslust gespielt.Herrlich. Da habe ich mich köstlich amüsiert.


    Ein Fazit zu ziehen, fällt mir insofern sehr schwer. Das Buch hat einfach zu viele Ecken, überraschende Details, liebevolle "Kanten". Für mich passt es so recht in keine einzige Schublade. "Ein Kessel Buntes", sozusagen! Und gerade das war für mich die wichtigste, positive Überraschung. Nerea Riesco hat mich mit dem historischen Roman wieder ein wenig versöhnt. Von ihr würde ich weitere Bücher lesen.

    Ich weiß noch, wie ich vor vielen Jahren auf dieses Buch aufmerksam wurde. Denn, man höre und staune, damals wurde es im "Literarischen Quartett" besprochen, und zwar durchaus kontrovers. Wie immer bei gewagten Themen, war Sigrid Löffler eine vehemente Gegnerin des Buches, wohingegen der Rest der Runde es zumindest besprechenswert, wenn nicht gar gut, fand. Das hat schon damals ausgereicht, um meine Neugierde zu wecken. Doch es hat Jahre gebraucht, bis ich es mir tatsächlich angeschafft, geschweige denn gelesen, habe.


    Und was sage ich heute? Auf jeden Fall habe ich eine Bildungslücke geschlossen, und habe es nicht bereut. Allerdings möchte ich vorab Einspruch erheben gegen die Schublade, in die es vom Verlag aus gesteckt werden sollte. Auf dem Umschlag steht "Roman", und nichts könnte meiner Meinung nach falscher sein! Die Handlung, die im Prinzip nur aus einem einzigen, sehr langen Telefongespräch besteht, kann man wohl kaum als Roman beschreiben. Der "Stern" hat es da schon wesentlich besser getroffen; man bezeichnete das Büchlein hier als "Telefonsex-Novelle". Das ist wesentlich zutreffender!


    Man steigt als Leser mitten hinein in dieses Gespräch zwischen Jim von der Ostküste und Abby von der Westküste (mehr erfahren wir kaum über die beiden). Beide haben, mehr oder weniger aus Langeweile oder Neugierde, bei einer sogenannten "Flirtline" angerufen, und sind in ein elektronisches "Hinterzimmer" umgeleitet worden, wo sie sich nun ungestört austauschen. Der Autor hält dabei ein Minimum an Fiktionalisierung aufrecht; besonders gegen Anfang gibt es noch Elemente wie "er sagte" und "sie sagte", die jedoch im Laufe des Buches immer seltener werden. Ferner gibt es nur noch dann Einschübe des Autors, wenn eine Pause entsteht, und sich einer der beiden beispielsweise ein Getränk oder ein Handtuch (!) holt.


    Ansonsten besteht das Buch ausschließlich aus wörtlicher Rede, aus abwechselnden Gesprächsbeiträgen. Zum Glück mit Anführungszeichen; aber auch das hilft nicht immer weiter, da die beiden Telefonierer entweder Sätze wie Maschinengewehrsalven abfeuern, oder aber sich gegenseitig lange Fantasien zum Besten geben. Man ist als Leser also auf jeden Fall gezwungen, genau mitzulesen und vor allem mitzudenken, um nicht den Faden zu verlieren.


    Den eigentlichen Inhalt dieses Gespräches braucht man hier wohl kaum nachzuerzählen. Von Anfang an ist klar, warum diese Personen angerufen haben, und auch das Ende kann man sich denken. Im wahrsten Sinne des Wortes steuert das Buch auf einen Höhepunkt zu, was aber überraschend "unschmutzig", ja sogar einfühlsam und regelrecht spannend gemacht war. Besonders schön ist dabei, dass Abby und Jim am Ende beschließen, in Kontakt zu bleiben.


    Man muss bei diesem Buch sehr aufpassen, und sein Unterscheidungsvermögen einschalten. Denn die Fantasien dieser beiden Menschen, und ihre Vorlieben, hat man als Leser nicht zu bewerten! Das steht auf einem völlig anderen Blatt. Was aber das Buch als solches vermitteln will, und wie es zu diesem Ziel gelangt, das kann man sehr wohl bewerten. Und meine Bewertung fällt hier, zu meiner eigenen Überraschung, durchweg positiv aus! Leider ist Sigrid Löffler damals genau in diese Falle getappt, und hat ihre Bewertung auf persönlichen Neigungen aufgebaut. Verklemmte Schnepfe, kann ich da nur sagen.


    Mich hat das Buch sehr berührt. Denn es wurde klar, je länger das Gespräch dauerte, dass hier eine tatsächliche Annäherung zweier Menschen stattfand! Sie fassten Vertrauen zueinander, öffneten sich immer mehr. Geradezu rührend fand ich, dass jeweils derjenige, der mit dem Erstellen einer Fantasie zugange war, sich die Mühe gemacht hat, genau auf das zu achten, was der andere ihm zuvor über sich erzählt hatte. Es wurden immer mehr persönliche Merkmale in die Geschichten eingebaut. Abby und Jim trugen Sorge füreinander, sie wollten dem anderen wirklich Freude machen. Und sie überschlugen sich regelrecht vor Fabulierfreude und Detailbesessenheit!


    Auch über Erotik und Stimmungen habe ich einiges gelernt. Es hängt bei der Lust so viel von teils winzigen Details ab! Schon die falsche Musik, die falsche Decke, ein falsches Wort kann alles zerstören. Und der Orgasmus ist bei weitem nicht das alleinige Ziel. Viel mehr geht es auch um das Auskosten der Vorfreude auf dem Weg dorthin. Eine der für mich schönsten Passagen des Buches befindet sich gegen Ende des Buches, als nämlich Jim seine Sicht des weiblichen Orgasmus beschreibt. Er sagt, das Empfinden von Lust macht eine Frau schön, und verleiht ihr Macht. Sie kann noch so hässlich oder übergewichtig etc. sein, wenn sie auf den Höhepunkt zusteuert, dann ist sie bewunderungswürdig und unangreifbar.


    Sicherlich muss man sich an das sprachliche Niveau ein klein wenig gewöhnen, das irgendwo zwischen Slang und Schriftsprache steckt. Es kann aber auch an der Übersetzung gelegen haben, da die beiden ständig neue Wörter für gewisse Tätigkeiten erfinden. Ansonsten las sich der Einblick in zwei Genießer-Seelen erfreulich flott und unproblematisch.


    Dieses Buch war sicherlich eine Herausforderung. Aber eine letztlich lohnende. Ich habe gelernt, ein Tabuthema, nämlich Telefonsex, mit anderen Augen zu betrachten. Ich musste über meinen eigenen Schatten springen. Und ich durfte erkennen, dass im modernen Zeitalter eine Annäherung durchaus auch auf ungewöhnlichem Wege stattfinden kann. Ich empfehle dieses Buch allen, die einen Nachmittag lang (denn mehr braucht man nicht) ihre eigenen Ansichten zum Thema Sex überprüfen und sich gleichzeitig unterhalten lassen wollen.

    Kann Dir wirklich nur zustimmen! Hier meine eigene Rezension:


    Tut mir leid, liebes Buch, mehr als eine leidlich mittlere Bewertung wirst du von mir nicht bekommen. Dabei hatte ich mich so auf dich gefreut. Und vor allem hatte ich deinem Klappentext, und dem Beruf deiner Autorin (Journalistin) vertraut.


    Was man heutzutage so als "Sachbuch" bezeichnet, erstaunt mich wirklich. Ein Sachbuch ist dieses Werk nur insofern, als es Geschehnisse behandelt, die sich wirklich so ereignet haben sollen. Aber alles, was für mich eigentlich ein Sachbuch ausmacht, fehlt: Wenn schon kein Panorama, dann doch wenigstens Konzentration auf und Durchleuchtung von bestimmten Bereichen. Eine fundierte Auseinandersetzung. Persönliche Sachkenntnis. Quellen, Vergleiche, Studien, Fotos.


    Die Autorin hat sich leider auf keinen Bereich wirklich konzentriert. Selbst die neun Kapitelüberschriften bleiben eher zufällig, und treffen höchstens die Hälfte von dem, was dann unter dieser Überschrift erzählt wird. Besonders auffällig wird das in dem Kapitel "Funktionäre", in dem überhaupt keine Funktionäre vorkommen, sondern in dem sich munter Beschreibungen einer Beerdigung mit wilden Sprüngen in Vergangenheit und Zukunft abwechseln. Enttäuscht war ich auch vom Kapitel "Glauben". Gefühlte zwei Absätze beschäftigen sich tatsächlich mit dem, was ostdeutsche Jugendliche so glauben und glaubten. Der Rest besteht aus eher zusammenhanglosen Erinnerungen an eine Jugendweihe, und an einen Schuh (!), der auf einen Acker geworfen wurde. Also bitte, Sachbuch sieht anders aus!


    Die Autorin hat einfach, wie mir scheint, in ihren Erinnerungen gekramt, und wie in einer Collage etliche Schnipsel zu Kapiteln verbastelt. Aber es bleibt beim Leser doch der Eindruck haften, dass sie nicht recht weiß, was sie schreiben soll. Denn schließlich war sie zum Zeitpunkt der Wende erst 5 oder 6 Jahre alt. Wirklich verstanden hat sie damals natürlich noch nichts - was die Politik und manches andere betrifft, mussten über Jahre hinweg mühsam Eltern und Verwandte befragt werden. Und auch die haben oft nichts gesagt, flüchteten sich in mühsam erworbene Jobs, entwickelten kuriose Manien, oder wurden depressiv. Vielleicht ist es gerade das, was das Buch vermitteln kann bzw. will: die Erfahrung einer Entwurzelung einer ganzen Generation.


    Aber seinem offensichtlichen Anspruch wird das Buch ganz gewiss nicht gerecht. Es ist weder wirklich ein Sachbuch, noch behandelt es "Meine Jugend". Es sind Blitzlichter, Schlaglichter, tagebuchartige Erinnerungen, mal hier, mal da ein wenig. Sicher ist manches komisch, manches auch tragisch, manches geradezu hellsichtig. Aber es fehlt ein roter Faden, eine klare Erzählhaltung, etwas, das man dem Leser als Essenz, als Botschaft mitgeben könnte. Und dass die Autorin Journalistin sein soll,merkt man hier auch nicht besonders. Die Schreibweise wirkt oft unbeholfen, die Sätze abgehackt, wild dahingeschrieben. Sehr gestört haben mich in späteren Kapiteln die scheinbar planlos und bemüht eingestreuten englischen Sätze/Zitate. Das sollte wohl Wut oder Coolness ausdrücken - wirkte bei mir aber eher verkrampft. Nun ja, man kann das Buch sicher lesen - aber man muss es auf keinen Fall.

    Ich konnte dieses Buch unheimlich schlecht aus der Hand legen. Es übte auf mich einen unglaublichen Reiz aus, sofort zu beginnen. Denn es ist ja kein Buch zum Lesen, nein, sondern eines zum Mitmachen! Es ist ein Quiz, das die verschiedensten Bereiche der deutschen Sprache abdeckt. Samt Lösungs- und Auswertungsteil. Man kann sich also wunderbar an diesen Fragen messen - und man kann ebenso schmunzeln, wiehern, lachen, und dazulernen.


    Die ganze Strukturierung fand ich ausgesprochen sinnvoll. Das Buch ist in zehn Kapitel unterteilt, die jeweils so unterschiedlichen Bereichen wie Rechtschreibung, Grammatik, Interpunktion oder Sprichwörtern gewidmet sind. Besonders sinnvoll fand ich auch den Abschnitt zu englischen Begriffen, weil die in unserer Zeit ja doch immer mehr zunehmen, und man sie kennen und vor allem richtig verwenden sollte! Sehr entlastend fand ich das letzte Kapitel, das sich an "Spezialisten" richtet und noch einmal Fragen aus allen hier angesprochenen Kapiteln vereint. Hier durfte man also Fehler machen, hier kam es nicht so darauf an.


    Jedes Kapitel enthält genau 20 Fragen, die teilweise durch lustige Fotos oder auch gezeichnete Bilder veranschaulicht werden. 20 Fragen sind nicht zu viel, und nicht zu wenig. Sicher können damit nicht alle Bereiche abgedeckt werden, aber man bekommt einen guten Gesamteindruck von den Feinheiten der deutschen Sprache. Schön finde ich auch, dass jedem Kapitel eine bestimmte Farbe zugeordnet ist. So kann man sich beim Vorblättern im Lösungsteil sehr leicht orientieren, und gerät nicht in die Gefahr, schon die Antworten aus dem nächsten Kapitel zu erschnüffeln!


    Zu den Illustrationen - die Fotos waren insgesamt toll, da sie alle aus dem "wahren Leben" stammten, und oft auf sehr heitere Weise sprachliche Schnitzer veranschaulichten. Das erinnerte doch sehr an "Happy Aua". Die gezeichneten Bilder allerdings - ich weiß nicht... sicher ist es nett, wenn jemand sich diese Mühe macht. Aber sonderlich inhaltlich erhellend waren sie nicht, und eigentlich hat man damit nur Seiten geschunden. Dies ist zumindest meine Meinung.


    Als absoluten Pluspunkt möchte ich aber vermerken, dass Bastian Sick selbst das Verfassen von einleitenden Texten, von Fragen oder auch Lösungen nicht als lästige Pflicht angesehen hat. Das sind keine blutleeren Sachtexte! Nein, überall hat der Autor seine selbst auferlegte Mission ernst genommen, das Durchschauen von Sprache mit Spaß zu verbinden. Überall blitzt einem der feinste Wortwitz entgegen. Und oftmals konnte man schon aus der Art, wie die Frage gestellt war, einen Teil der Antwort herauslesen. Das führt dazu, dass man das Buch immer wieder mit Genuss zur Hand nehmen kann, selbst wen man schon alle Fragen beantwortet hat. Denn der unterhaltende Effekt bleibt ja bestehen.


    Sicher trifft ein solches Buch den Nerv der Zeit. Man braucht nur einen Blick ins Fernsehprogramm zu werfen, um zu wissen, wie populär es geworden ist, sein Wissen zu testen. Dieses Buch verbindet auf gekonnte Art und Weise Heiterkeit und Wissensvermittlung, wobei es durchgehend die unterschwellige Vermittlung eines "schlechten Gewissens" vermeidet. Ich empfehle es gerne weiter an alle diejenigen, die sich einen Nachmittag lang köstlich amüsieren wollen. Und an Fans von Bastian Sick sowieso.


    Edit: ISBN korrigiert, damit man das Buch auch über das Verzeichnis finden kann. LG JaneDoe

    Schaut man sich die Rezensionen zu diesem Buch an, so scheint es nur zwei Möglichkeiten zu geben: entweder man liebt es, oder man hasst es. Nachdem ich es nun aus lauter Neugier doch selber gelesen habe, muss ich mich wohl entscheiden. Ganz zu den "Hassern" gehöre ich wohl nicht. Ich kann aber auch nicht in lauter Jubelschreie ausbrechen.


    Eine der Debatten um dieses Buch kreist um die Frage, ob es denn nun ein Psychothriller sei. Ganz ehrlich: ich denke, eher nein. Denn der einzige "Fall", in dem hier offziell ermittelt wird, der des "Schulwegmonsters" nämlich, kommt nur sehr am Rande vor. Und er endet offen. Es mag sein, dass die Autorin zu viel in Andeutungen versteckt hat. Ich jedenfalls habe nicht begriffen, wer nun das "Schulwegmonster" gewesen sein soll.


    Begeisterte Leser mögen einwenden, dass doch sehr wohl gegen Ende jemand gefasst werde. Und dass am Ende ein Verbrechen aufgeklärt werde. Ich will gerne zugeben, dass das Buch die ganze Zeit über mit übelsten, düsteren Andeutungen spielt, was sich da im Hintergrund abspielt. Aber - es tut mir leid - so gruselig ich diesen Handlungsstrang fand, so abstrus und widerlich war er auch. Sicher, in einem als Thriller betitelten Buch sollte es grausam und blutig zugehen dürfen. Aber das hier lag einfach jenseits dessen, was ich guten Gewissens noch lesen und auch als wahrscheinlich akzeptieren kann!


    Auch auf die Gefahr hin, zu viel zu verraten: Die fragliche Person ist in der Medizin tätig. Und da soll sie NICHT gewusst haben, dass die seltene Krankheit des kleinen Jungen ganz normal behandelbar ist?? Und, was ich noch viel weniger verstehe: der Junge soll das Ganze wissentlich (!) mitgemacht haben?? Nie im Leben!! Nie!! Das Buch speist seine Leser hier mit einer äußerst fadenscheinigen Erklärung ab: der Täter soll dem Kind gesagt haben, das sei alles nicht so schlimm. Um es mal mit einem bekannten Werbespruch zu sagen: ich bin doch nicht blöd...!


    Lediglich den Teil um Leni, ihre Suche nach Familie und Halt, und ihren Werdegang in der Musik, kann ich als "Roman" noch halbwegs ernst nehmen. Hier gab es teilweise fast schöne Passagen. Fragen rund um gleichgeschlechtliche Partnerschaften, Eifersucht und das Kinderkriegen wurden hier diskutiert. Das war ansatzweise richtig gut!


    Gleichzeitig liegt hier schon wieder ein Manko des Buches. Denn die Charakterisierungen der einzelnen Figuren haben für mich vorne und hinten nicht gestimmt. Besonders Leni als Person habe ich einfach nicht verstanden, sie war mir sehr fremd und unsympathisch. Es will mir einfach nicht einleuchten, warum eine Frau vor ihrem gewalttätigen Ehemann davonläuft, aber gleichzeitig auf "harten Sex" steht. Ja was denn nun?! Außerdem steigt sie im Laufe des Buches mit nahezu jedem ins Bett, der ihr über den Weg läuft. Und heult sich am Ende die Augen aus, weil sie dann doch feststellt, dass sie ihren Exfreund noch liebt... Tut mir leid, wirrer geht's nimmer.


    In diesen "persönlichen" Teil, der um Leni und ihre chaotische Familie, hat die Autorin meiner Meinung nach bei weitem zu viel hineingepackt. Auch das wirkte einfach nur überzogen. Hier lief nun wirklich alles schief, was nur schiefgehen konnte. Und das, zusammengenommen mit den bereits erwähnten üblen Andeutungen über die Nachbarn, das war letzten Endes für das Buch der Todesstoß, der ihm noch die letzte Glaubwürdigkeit als ernsthafter Thriller genommen hat.


    Es mag sich so anhören, als habe ich das Buch nun doch gehasst. Komischerweise nein. Ich glaube, es war eher eine Art morbider Faszination, die mich das Buch innerhalb von zwei Tagen hat lesen lassen. Aber ich bin durchaus ein wenig schuldbewusst aus dieser Leseattacke wieder aufgetaucht. So wie nach einer Fressattacke um Mitternacht. Würde ich es empfehlen? Ich denke da an Leser von Horror-Autoren wie Stephen King. Okay, die könnten an der wirklich widerlichen Hintergrundhandlung ihren Gefallen finden. Aber allen Lesern, die auf ernstzunehmende Schriftstellerkunst warten, mit glaubwürdigen Plots und ausgereiften Charakteren - denen sage ich: Finger weg!!

    Schatten mit Schnitzer


    Ein wahrlich eigenartiges Buch. Ungewöhnliche Thematik, ambitionierter Schreibstil, durchdachter Aufbau. Und dennoch ahne ich, dass ich meine Bewertung etwas ratlos im Mittelfeld ansiedeln werde. Das mag durchaus daran liegen, dass das Buch und ich ein wenig aneinander vorbei geredet haben.


    Zunächst einmal bin ich der Meinung, dass sich dieses Buch als reines Jugendbuch viel deutlicher und vor allem wahrheitsgemäßer einordnen und verkaufen ließe. Denn als „erwachsenen“ Roman kann ich es nun doch nicht ganz ernst nehmen. Nun sind Jugendbücher nicht per se schlecht; nur hätte mir eine realistischere Erwartungshaltung diesem Buch gegenüber bei der Lektüre sehr geholfen. So aber musste ich mich teilweise durch die ein wenig verquaste Fantasy hindurchbeißen, um den Faden nicht zu verlieren.


    Die Idee, die hinter dem ganzen Buch steckt, finde ich allerdings großartig, erfrischend neu und anders. Hier wird sozusagen die ganze Welt, und vor allem: die ganze Magie, umgedeutet und neu erzählt. Schatten sind in diesem Buch eine eigene Lebensform, eine eigene Gattung Lebewesen, die sich immer wieder neuen Herren anheften. Und eine Art „Betriebsrat“ haben sie auch noch! Mit Schatten reden zu können, oder in deren Künste einzudringen, das ist eine Form von Magie, die sich nur durch besondere Begabung oder intensives alchemistisches Studium erlernen lässt.


    In diesem Sinne wird auch Bezug genommen auf zahlreiche Ereignisse aus der tatsächlichen Historie; griechische Antike wird hier genauso erwähnt wie berühmte Forscher und Alchemisten des Mittelalters, oder Esoteriker der Neuzeit. Der Leser bekommt ein völlig neues Deutungsmodell für die Wirklichkeit angeboten: das, was wir „Realität“ nennen, ist in Wahrheit nur die eine Hälfte; alles, was in den übernatürlichen, spirituellen oder paranormalen Kontext fällt, beruht auf der bereits erwähnten „Schattenmagie“. So weit, so gut!


    Doch nicht genug damit, dass der Autor hier eine komplett neue Wirklichkeit aufbauen und nacherzählen wollte. Seine (zu hohe?) Intention bestand außerdem darin, das Ganze an der Lebensgeschichte eines kleinen Jungen namens Jonas Mandelbrodt aufzuhängen, diese auf drei verschiedene Erzählstränge und –perspektiven aufzusplitten, und die Geschichte auch noch zum schicksalsträchtigen Abenteuer werden zu lassen, bei dem nichts weniger als die ganze Welt gerettet werden sollte. Und das alles auf gerade einmal 312 Seiten? Meiner Ansicht nach ist es nur logisch, dass dabei nicht alle drei Absichten gleich gut gelingen konnten. Man mag sich ja als Leser durchaus über die Länge von berühmten Fantasy-Wälzern wie dem „Herrn der Ringe“ mokieren; aber in diesem Falle hätte die Geschichte durch ein wenig mehr Seiten nur gewinnen können.


    Dabei sind die guten Seiten dieses Buches durchaus nicht zu verleugnen. So hat sich der Autor die Mühe gemacht, für eine seiner drei Erzählperspektiven ein mittelalterliches alchemistisches Buch komplett zu erfinden, um daraus zu „zitieren“. Das zeugt von hoher Vorstellungskraft und Fabulierfreude! Auch der zweite Erzählstrang, aus der Sicht des Schattens von Jonas Mandelbrodt erzählt, fesselt den Leser durchaus. Vor allem die Sprache des Schattens scheint der Handlung angemessen – durch die erlebten Jahrhunderte hindurch hat sich ein sehr getragener, ja altertümlicher Stil herausgebildet. Als Drittes fand ich den „Rat der Schatten“ ein erfreuliches Novum, das für düstere Spannung sorgte. Gar nicht unähnlich dem berühmten Hexen-Rat aus „Macbeth“.


    Doch gute Ansätze allein machen noch kein wirklich überzeugendes Buch. Sehr bedauert habe ich, dass die Erzählperspektive des Schattens im weiteren Verlauf des Buches viel, viel zu kurz kam. Manchmal waren es nicht mehr als kurze Einschübe in ganz plötzlich auktorial erzählten Kapiteln. Sehr schade! Das hat den Lesefluss deutlich gehemmt.


    Ferner war mir nicht ersichtlich, warum aus dem erfundenen Alchemisten-Buch so planlos und wirr „zitiert“ werden musste. Erst aus Kapitel 15, dann Kapitel 5, dann wieder ganz anders. Ein wenig „bemüht“ wirkte es auch, dass die Zitate immer genau zu dem vorangegangenen Kapitel und dem Geschehen darin passten. Sicher war dies ein bequemes Mittel für den Autor, dem Leser diese Welt zu erklären. Aber es hat ihn auch ein wenig übermütig werden lassen, was die Detailfülle dieser magischen Welt anging. Noch eine Idee für die Schattenwelt? Kein Problem, das erklären wir durch das mittelalterliche Buch. Immer mehr und immer mehr kam hinzu, so dass ich gegen Ende aufgegeben habe, ob diese Welt und die erzählten Geschehnisse noch „logisch“ sind.
    Auch der „Rat“ hat im Laufe des Buches für mich an Charme verloren. Und zwar dadurch, dass er einfach zu oft zusammenkam. Es hatte gegen Ende schon fast etwas Komisches. Immer wieder besorgte Einwürfe, ernste Mahnungen, spitze Kommentare. Gelöst oder vorangebracht wurde dadurch aber nur selten etwas.


    Tja, und dieser Jonas… sein Schatten stellt ihn das ganze Buch hindurch als etwas Außergewöhnliches dar. Doch liest man zwischen den Zeilen, und folgt man den erzählten Geschehnissen, scheint Jonas einfach nur ein Sonderling gewesen zu sein. Das ganze Buch hindurch vollbringt er eigentlich – nichts. Es widerfährt ihm nur immerzu etwas. Und erst ganz gegen Ende entschließt er sich zu einer vermutlich heldenhaften Tat. Das kam für mich zu spät, und hat nicht zu seiner sonstigen Charakterisierung gepasst. Überhaupt hat Jonas für mich nicht zu einem „runden“ Charakter werden wollen.


    Doch dies ist schließlich kein reiner Verriss – oder soll es zumindest nicht sein. Die Leseprobe hatte für mich noch stimmig geklungen. Doch der Autor hat sich für meinen Lesegeschmack ein wenig zu sehr in seiner Idee verrannt, und die tatsächliche Lesbarkeit übersehen. Es wird viel zu sehr nacherzählt, viele Informationen werden nachgereicht. Detailfülle statt authentischer Charakterisierung, weniger Roman, als Abenteuer-Chronik. Und deswegen ist dies für mich ein Jugendbuch.

    Dieses Buch hatte ich vor einigen Jahren schon einmal gelesen - allerdings in der französischen Originalversion. Dies schien mir ein guter Zeitpunkt, den Versuch erneut zu wagen, zusammen mit dem Buch eines wesentlich prominenteren Leidensgenossen (Reemtsma). Doch ich kann letztlich nicht wirklich sagen, ob der Versuch geglückt ist. Ich hatte beinahe das Gefühl, ein anderes Buch zu lesen als damals, und ich frage mich, woran das liegt.


    Natürlich muss ich meine Bewertung, die ich letztlich bei einer etwas ratlosen mittleren Bewertung ansiedele, ein wenig relativieren. Ich bewerte keinesfalls das, WAS der jungen Sabine Dardenne widerfahren ist, noch ihre Gefühle hierzu. Möglicherweise hat es dem Buch auch ganz einfach nicht gut getan, dass ich den Reemtsma (und vor einiger Zeit das Buch von Natascha Kampusch) unmittelbar zuvor gelesen hatte. Der Kontrast war so einfach zu groß.


    Zunächst einmal hat mir der deutsche Titel überhaupt nicht gefallen. "Ihm in die Augen sehen - Meine verlorene Kindheit", also bitte! Es stimmt zwar, beide Zitate kommen so in dem Buch vor. Aber sie beschreiben überhaupt nicht die Absicht der jungen Autorin, und treffen auch nicht ihren wirklichen Schreibstil. Der Originaltitel lautete "Ich war 12 Jahre alt, nahm mein Fahrrad, und fuhr zu Schule"; und genau das Lakonische, Beiläufige dieses Titels finde ich viel (!) charakteristischer für den Charakter und Schreibstil dieser jungen Frau, die durch den Pädophilen Marc Dutroux traurige Bekanntheit erlangte.


    Mein zweiter Kritikpunkt, bzw. meine zweite Anmerkung betrifft die Tatsache, dass man in diesem Buch doch sehr deutlich merkt, dass es eine Co-Autorin gab. Allerdings erfährt man nur deren Namen ("mit Marie-Thérèse Cuny"), nicht deren Beruf oder Herkunft. Der Aufbau des Buches ist einfach, bei genauem Hinlesen, so vorhersehbar, so erwartbar bei einer Entführung. Und manche Sätze (bitte entschuldige, Sabine, nix für ungut!) sind einfach reinstes Bild-Zeitungs-Niveau. Da sollte beim Leser ganz kräftig auf die Tränen- und Mitleidsdrüse gedrückt werden.


    Oder kann es an der Übersetzung gelegen haben? Aus meiner damaligen Lektüre habe ich einfach nicht diese platten Wendungen und ständigen Wiederholungen in Erinnerung. Im deutschen Buch heißt es jedenfalls immerzu "das Schwein", und "der Mistkerl", und es wird so getan, als handele es sich dabei um die schlimmsten Beschimpfungen. Ich möchte beinahe wetten, dass im Original hier andere Ausdrücke gestanden haben!


    Man kann das Buch als reine Information allerdings recht gut lesen. Wie die Entführung ablief, aus welchem Umfeld Sabine Dardenne stammte. Was genau sich während der Gefangenschaft ereignete, wie der Täter sie psychisch manipulierte (sie war ja erst 12!). Und welche Vorwürfe sie sich machte, als er ihr schließlich eine "Freundin" besorgte, Laetitia Delhez. Allerdings werden diese Selbstvorwürfe bis zum Erbrechen wiederholt, wobei dem Leser eigentlich klar ist, dass Dutroux IMMER so vorging: paarweise.


    Die letzten Kapitel scheinen auf Anraten der Co-Autorin angefügt worden zu sein. Hier geht es um den Prozess, und um das Aufsehen und die Theorien, die der Fall Dutroux in Belgien auslöste. Diese Kapitel habe ich nun wirklich mit Spannung und Interesse verfolgt. Ganz Belgien verfiel ja sozusagen in eine Kollektiv-Neurose, wohingegen Sabine aber behauptet, Dutroux habe die Theorie des "Netzwerkes" nur erfunden, um seine eigene Haut zu retten. Nun ja. Das wird nie zu klären sein. Gewaltverbrechen bieten eben wunderbaren Spielraum für Spekulationen, und Verschwörungstheorien.


    Was kann ich als Fazit zu diesem Buch nur sagen? Sicher ist es insofern einzigartig, als Sabine Dardenne eine der wenigen Überlebenden ist. Es ist ein kleines Stück Zeit- und Kriminalgeschichte. Es bietet einen recht guten Einblick in Sabines Persönlichkeit, die eben immer schon recht robust, frech, und, hm, eher einfach gestrickt ist. Doch möglicherweise habe ich diesen Eindruck eben auch nur im direkten Vergleich zu Kampusch und Reemtsma. Diese beiden schreiben doch wesentlich "literarischer", und genau das sollte man eben wissen, wenn man zu diesem Buch greift.

    Schon vor Jahren hatte ich dieses Buch einmal gelesen. Damals allerdings noch als Leih-Exemplar aus der Bücherei. Es wurde sogar von Reich-Ranicki empfohlen, weil es nahezu literarische Qualitäten habe. Darauf war ich neugierig. Aber erst heute, nach der zweiten Lektüre, kann ich dies so richtig würdigen.


    Es ist schon merkwürdig, wie sehr das Verstreichen von Zeit die eigenen Lese-Eindrücke formt. Von meiner damaligen Lektüre her kann ich mich nur noch erinnern, dass ich dieses Buch merkwürdig "verkopft" fand, und so detailarm. Heute ist mein Eindruck völlig anders. Vielleicht auch und gerade deshalb, weil ich das Buch im Zusammenhang mit anderen, ähnlichen Büchern lese (Natascha Kampusch, Sabine Dardenne); und weil ich selber älter geworden bin...?


    Ich habe es zwar an einem einzigen Tag gelesen, möchte aber anderen Lesern raten, dies nicht zu tun. Dafür ist schon allein Herrn Reemtsmas Sprache zu reichhaltig. Sie mag auf den ersten Blick sogar zu distanziert-philosophisch erscheinen. Doch er selbst beschreibt ja in seinem Vorwort, das man unbedingt genau lesen sollte, die Gründe.


    Die Struktur des Buches ist schon recht ungewöhnlich. Wir haben hier keinen Abenteuer-Bericht vor uns, der chronologisch vorgeht. In einem ausführlichen einleitenden Abschnitt, einem Vorwort, wird erst einmal der Grund geschildert, warum und wie dieses Buch entstand. Schon allein diesen Abschnitt könnte ich wieder und wieder lesen! Großartig versiert wird hier begründet, was eine Entführung psychisch mit einem Menschen anrichtet. Er möchte sich durch die Verschriftlichung sozusagen von der "erzwungenen Intimität" mit den Tätern reinwaschen. Und, wie so viele andere Opfer, möchte er "ein für alle Mal" alles gesagt haben.


    Der zweite Abschnitt bietet dem Leser nun in der Tat einen chronologischen Abriss der Ereignisse. Interessant wird dies für den Leser vor allem durch die Tatsache, dass nun, im Rückblick, vor allem die Gründe für das mehrfache Scheitern der Übergaben klar werden, und die zähen Verhandlungen mit den Entführern. Sämtliche Telefonate und Briefe werden zitiert, was dem Leser einen guten Einblick in die nahezu zwangsläufige Dramatik einer Entführung bietet. Hier kommt tatsächlich so etwas wie Abenteuer-Feeling auf; gebremst allerdings durch die weiterhin recht gewählte Sprache von Herrn Reemtsma.


    Der dritte (und längste) Abschnitt des Buches nun ist auch der ungewöhnlichste. Reemtsma schreibt hier gleichzeitig aus der Innen- und Außenperspektive. Im Klartext heißt das, dass sowohl Sätze in der dritten Person ("er") als auch in der ersten Person ("ich") vorkommen. Manchmal in einem einzigen Satz. Doch das ist nur auf den ersten Blick verwirrend. "Er" heißt es immer dann, wenn sich der Entführte an sein damaliges, entführtes Ich erinnert; "ich" hingegen sagt er, wenn er aus heutiger Sicht etwas hinzuzufügen hat. So entsteht ein reizvoller Kontrast, ein Kaleidoskop an Empfindungen. Schon allein dadurch verbietet sich ein erhöhtes Lesetempo!


    Herr Reemtsma will sich in diesem Abschnitt gleichzeitig verständlich machen und schützen, was ihm auch beeindruckend intensiv gelingt. Er schildert, was er von Tag zu Tag empfand, welche Emotionen ihn umtrieben, wie er von seinen Entführern psychisch manipuliert wurde, und welchen Kontakt er zu ihnen hatte. Bis hin zu seiner Befreiung, an die er selber nicht recht geglaubt hatte.


    Der vierte Abschnitt charakterisiert sich am besten selbst, durch ein Zitat: "Es ist vorbei und ist doch nicht vorbei. Der Keller bleibt in meinem Leben." Hier reflektiert Reemtsma, wiederum sprachlich versiert, voller Zitate und Einsichten, was Entführungen überhaupt sind, was sie anrichten, und was sie bei ihm angerichtet haben. Das "Danach" eben. Die Jagd nach den Tätern, die Identifierung des Tatortes, und die bleibenden Symptome. Grandios sind hier seine Gedanken dazu, was eigentlich eine Identität ausmacht - kurz, er kommt zu dem Schluss, dass es so etwas wie ein "festes Ich" gar nicht gibt, ja, nicht geben kann. Denn im Keller fühlte er sich zwischen seinen Emotionen hin- und hergeworfen, die von Minute zu Minute wechseln konnten. Da gab es nichts Festes, nichts Eindeutiges. Und somit wird er mit seinen Erfahrungen letztlich immer allein sein - auch wenn viele Menschen dieses Buch lesen.


    Dies ist sicherlich kein Buch für den leichten Konsum. Im direkten Kontrast zu den beiden eingangs erwähnten, anderen Büchern von Entführungsopfern wird auch klar, worin der Unterschied besteht. Reemtsma ist ein Intellektueller und Millionenerbe, dem in vielerlei Hinsicht gänzlich andere Mittel der Verarbeitung zur Verfügung standen. Er zitiert ausgiebig aus Literatur, Soziologie und Philosophie, und seine Sprache ist die eines Menschen, der es gewöhnt ist, sich schriftlich auszudrücken. Wäre der Hintergrund nicht so ernst, könnte man manche Absätze geradezu als "schön" im literarischen Sinne bezeichnen. Insgesamt würde ich es als ein Buch bezeichnen, dass sich auf einem schmalen Grat zwischen Sachbuch, Erlebnisbericht und wissenschaftlichem Aufsatz befindet. Das mag zwar nicht eingängig und massentauglich konsumierbar sein - dafür aber umso ergiebiger für die eigene Reflexion.

    Liebe Sylli,


    Deine Meinung kann ich ganz gut nachvollziehen. Beim ersten Lesen war ich auch ein wenig konsterniert, weil ich so gut wie nichts von dem kannte, was der Autor hier an Lese-Empfehlungen gibt. Und weil ich ihn ein wenig eitel fand. Warum muss er diese fiktive Interview-Partnerin auch noch bekochen, und seine Kenntnisse über Weine etc. herausstreichen? Das hatte für mich in einem Buch über Bücher nichts zu suchen.


    Jetzt habe ich es neulich zum zweiten Mal gelesen, und da fand ich es doch schon wesentlich "schmackhafter". Sicher ist der Stil gewöhnungsbedürftig, aber er hat doch eine gewisse Eleganz. Der Mann hat einfach Ahnung vom Lesen an sich. Zwar nicht unbedingt davon, was "man" heute so liest - aber er macht Appetit auf das Lesen!