Beiträge von rumble-bee

    Französisches Sozialdrama mit leisen Tönen


    Ich finde, die Autorin ist sich und ihren Fähigkeiten treu geblieben, was schon einmal prinzipiell gut ist. Schon in ihrem ersten Buch, "Das Labyrinth der Wörter", hatte sie sich in die Perspektive eines Ungebildeten, eines "Underdog", versetzt, und aus seiner Sicht das Leben geschildert. Es nahm dann durch die Begegnung mit einem Menschen, der sich tatsächlich für ihn interessierte, eine Wendung zum Guten. Genau dasselbe passiert hier - allerdings hat sich die Autorin einen erfrischend neuen Ansatz einfallen lassen.


    Erzähler ist diesmal nicht der Benachteiligte selbst, sondern Alex, eine 30jährige junge Frau, die ein Nomadenleben führt. Heimlicher Held des Buches ist Gérard, der Bruder ihres Vermieters. Er ist geistig behindert und verkrüppelt, und fristet mehr sein Dasein, als dass er es wirklich lebt. Dies liegt hauptsächlich an Marlène, der Frau von Gérards Bruder Bertrand. Durch die Augen von Alex wird nun dieser triste Haushalt herrlich bissig und entlarvend geschildert: Marlène ist in ihrem Leben desillusioniert und gescheitert, und hat auch noch diesen "Klotz am Bein", Gérard. Bertrand schuftet in der Fabrik, liebt seinen Bruder aber. Und Gérard selbst - ist schlauer, als man denkt, ist herrlich begeisterungsfähig, und interessiert sich ausgerechnet für Gedichte.


    Es ist wirklich herzerwärmend, wie Alex hinter die Fassade des "Krüppels" zu schauen beginnt, und sich ihm annähert. Die Tatsache, dass sie eine ziemlich drastische, weibliche "Schnauze" hat, macht es der Autorin leicht, gleichzeitig schonungslos und doch einfühlend zu schreiben. Nur eine Tatsache hat mich die Stirne manchmal runzeln lassen: die Autorin hat hier den "Tick" entwickelt, immer am Schluss der "Alex"-Kapitel einen kleinen, nachgeschobenen Satz einzuflechten, der wohl besonders tiefsinnig sein sollte. Meiner Ansicht nach hätte sie sich diese "nachgeschobenen" Sätze lieber sparen sollen, sie waren zumeist überflüssig und plakativ. Nicht immer, aber doch oft.


    Das Besondere an diesem Buch ist nun, dass sich die Kapitel aus Alex' Sicht abwechseln - und zwar mit der Perspektive von Cédric, dem zweiten Erzähler dieses Buches. Er ist 28, arbeits- und perspektivlos, und hängt mit seinem etwas seltsamen, aber doch drolligen Freund Olivier immer an der anderen Seite des "Kanals" ab - genau dort, wo Alex mit Gérard spazieren geht. Durch diverse Vorfälle kommen sich beide Parteien näher, bis schließlich eine Freundschaft entsteht. Sehr gut gemacht - denn die beiden Perspektiven von Alex und Cédric ergänzen sich, schildern auch mal Vorkommnisse völlig gegensätzlich. Der eine nimmt den Faden aus dem vorigen Kapitel wieder auf, und "gibt seinen Senf dazu". Sehr oft habe ich geschmunzelt, wie sehr sich doch Männer und Frauen missverstehen können! Der Wechsel hat mir wirklich gut gefallen, das brachte Leben ins Buch.


    Ich finde, die Autorin hat sich wirklich perfekt in dieses triste Vorstadtleben hineinversetzt; sie erweckt ihre Figuren zum Leben, weckt Sympathien auch noch mit den größten Schrullen, den scheinbarsten "Losern". Am Ende hat man alle gern gewonnen - sogar Marlène.


    Was mich aber von 5 Sternen definitiv abhält, ist das Ende. Dies braucht hier nicht näher erläutert zu werden, denn es geht mir nicht darum, WAS geschieht, sondern um die Kürze. Im gefühlten letzten Viertel des Buches geschieht auf einmal sehr viel. Ganz zum Schluss hat Alex eine Eingebung, was sie alle vier gemeinsam machen könnten. Und - bumm! - alle Probleme lösen sich in Wohlgefallen auf. Das wirkte auf mich sehr unbefriedigend, gekünstelt, gewollt. Wie ein "deus ex machina". Es sah beinahe so aus, als habe der Abgabetermin genaht, und sie habe das Buch schnell beenden wollen. Oder als habe ein Lektor aus verlagsinternen Gründen mindestens 50 Seiten gestrichen - und aus dramaturgischer Sicht fehlen die nun. Wohlgemerkt, ich freue mich für die Figuren - hätte aber die Wandlung zu diesem Ende hin gerne genauer verfolgt. Dem Buch hätten ca. 50 Seiten mehr sehr gut getan!


    Insgesamt bin ich jedoch positiv überrascht von diesem Buch. Denn der Autorin ist ein doch sehr erfrischend zu lesendes Buch gelungen, das den Leser in eine soziale Randgruppe führt, die er sonst wohl nie kennengelernt hätte. Und auch für Behinderte weckt sie große Sympathien. Man sollte jedoch nicht so sehr auf "logische Enden" stehen, wenn man dieses Buch lesen möchte.

    Die Autorin hat verlauten lassen, dass dieses Buch nicht einmal speziell als Jugendbuch gedacht sei. Seine eigentliche Botschaft sei übergreifend gültig. Das mag wohl sein - dennoch finde ich, dass es seine höchste "Spannkraft" und Wirkung wohl unter jugendlichen Lesern entfalten wird.


    Das liegt für mich in erster Linie an der Protagonistin. Cat ist süße 17, mit ihren Eltern gerade zwangsweise nach Bamberg gezogen, und mit einer herrlichen "Schnauze" gesegnet. Sie erzählt uns die Begebenheiten aus ihrer Sicht, ganz in ihrer eigenen Sprache. Zu keinem Zeitpunkt wirkt diese Sprache aufgesetzt, sie ist immer lebendig, und durch die zahlreichen überdrehten Vergleiche mit Pop- und Alltagskultur auch noch oft lustig. Zudem wird die "Botschaft" des Buches durch Cats Erleben erst gefiltert und begreifbar gemacht - durch das Erleben einer 17jährigen von Liebe und Freundschaft. Das macht es für mich doch ganz entschieden zu einem Jugendbuch! Die Vermittlung von Sachinformationen zu der damaligen Zeit, in die Cat reist, tritt für mich deutlich hinter die emotionalen Aspekte der Handlung zurück.


    Doch ich sollte das wohl erstmal näher erläutern. Cat landet durch ein verfluchtes Halsband, das sie zufällig findet (und auch noch anlegt!), im Jahre 1630 in Bamberg. Zu dieser Zeit hatte die Hexenverfolgung ihren Höhepunkt erreicht, was auch den Hintergrund für die Story abgibt. Die damals lebende 15jährige Dorothea soll, weil sie sich dem Werben eines Richters widersetzt, "aus Rache" als Hexe angeklagt und verbrannt werden. Cat lernt Dorothea kennen, und es entwickelt sich schnell eine Freundschaft. Und Cat merkt, dass sie die Hinrichtung nicht nur um Dorles willen verhindern muss. Ihrer beider Leben sind durch den Fluch, über die Jahrhunderte hinweg, miteinander verbunden...


    Mehr braucht man über die Handlung im Grunde nicht zu wissen. Ich finde, dass der Autorin gekonnt dieser Spannungsaspekt der Handlung (also Verhinderung der Hinrichtung, sowie Lösen des Fluchs zur rechten Zeit) in Verbindung mit typischen Jugendbuch-Elementen gelungen ist. Beide, sowohl Cat als auch Dorothea, erleben im historischen Bamberg ihre große Liebe. Beide erleben, wie wichtig es ist, als Freunde zusammenzuhalten, um schwierige Situationen zu lösen und zu meistern. Und beide sind eigentlich "starke Frauen", die gerade ihren Charakter zu entwickeln beginnen. Ich finde, gerade die historische Perspektive hat hier verdeutlicht, dass es auch über die Jahrhunderte hinweg doch letztlich immer auf die gleichen Werte ankommt. Sicher eine tolle Botschaft für Jugendliche!


    Die Hexenverfolgungen, sowie die Beschreibung dessen, was eine "Hexe" eigentlich war, bilden nicht den Hauptaspekt der Handlung - laufen aber auch nicht nebenher. Auch dies ist für mich Jugendbuch-typisch: Hintergründe sind so eingearbeitet worden, dass sie an den handelnden Personen gut begreifbar werden. Besonders gut hat mir gefallen, dass die Autorin die verzweifelte Lage für damalige Frauen deutlich macht, ohne zu vereinfachen. "Hexen" waren nichts weiter als charakterstarke, kluge, oft heilkundige Frauen. Und das konnte in einer Zeit, in der männliche Macht beinahe nichts unversucht gelassen hat, natürlich nicht gut gehen.


    Auch den Spannungsbogen habe ich genossen. Zu Beginn des Buches befinden wir uns noch mehr mit Cat in der Gegenwart, doch ihre Zeitsprünge nehmen zu und werden länger. Das steigert sich ganz immens zum Ende hin, als es wirklich um Stunden und Minuten geht, um das Schlimmste zu verhindern. Der Schlussteil war von der Spannung her einfach toll. Doch die Autorin lässt das Buch nicht einfach mit der Lösung enden. Auch Cats Leben im "Danach" wird - mit einem heftigen Augenzwinkern - geschildert, was ich bei einem so ernsten Thema auch gerechtfertigt finde.


    Dieses Buch habe ich insgesamt als eine "richtig runde Sache" empfunden. Ich würde das Buch bedenkenlos mehreren Arten von Lesern empfehlen: Jugendlichen, die Spannung und Witz suchen, Liebhabern von Liebesgeschichten, aber auch allen denen, die gerne vor historischer Kulisse über allgemeingültige Inhalte nachdenken.

    Ich beglückwünsche Sie als zukünftigen Leser, wenn Sie sich tatsächlich an dieses hoch komplexe Werk herantrauen. Allerdings muss ich Sie gleichzeitig warnen - ein wenig Arbeit werden Sie schon investieren müssen, um hinter die Fassade dieses Panoptikums an Absonderlichkeiten zu blicken. Sie erwarten reine Unterhaltung? Sie erwarten einen historischen Krimi? Sie verlassen sich gar auf den Klappentext?? Vergessen Sie's. Dann werden Sie vermutlich nach kurzer Zeit entnervt aufgeben.


    Ich habe das Buch gewissermaßen nicht gelesen, sondern "durchgeackert". Man kann es wahrlich nicht "lesen" nennen, denn andauernd musste ich mir Gedanken machen, was denn mit dieser Finte, diesem Kniff schon wieder gemeint sein könnte. Und doch wurde ich belohnt, denn ich fühlte mich als Leser ernst genommen. Als Leser, der sich nicht nur "bedienen" lässt, sondern der aktiv an der Sinnkonstruktion des Buches beteiligt wird. Und insofern fand ich das Buch richtig gut!


    Die erste "Schachtel", in der das Buch steckt, die erste Rahmenhandlung, rankt sich um einen verhinderten Doktoranden, der schon im mittleren Alter ist, und sein ganzes Leben lang nach einem ominösen sächsischen Maler aus dem 17. Jahrhundert geforscht hat: nach Silvius Schwarz. Dieser namenlose (!) Doktorand schreibt das Buch im Rückblick, als fiktiver Herausgeber. Er stellt die Ergebnisse seiner lebenslangen Forschung dem interessierten Publikum frei "als Download" zur Verfügung (was für uns Leser natürlich die physische Einheit "Buch" ist). Gleichzeitig wird seine höchst absonderliche Lebensgeschichte geschildert, die vor Zufällen und Eigenheiten nur so strotzt. Hier kann man Anklänge an allerhand Schelmen- und Entwicklungsromane finden, wovon ich nur den "Tristram Shandy" oder "Pinocchio" erwähnen möchte. Denn auch unser Doktorand jagt zwar nicht seinem Geppetto, sondern Silvius Schwarz hinterher - wird jedoch immer wieder an der Nase herumgeführt. Ich habe mich hier sehr oft köstlich amüsiert! Das akademische Milieu wird herrlich veralbert. Gleichzeitig wirkt der "Plot" dieser Rahmenhandlung wie aus "Alice im Wunderland": es endet in einem Labyrinth (!), in das der Doktorand "gefallen" zu sein scheint, und aus dem er nur knapp entkommt - mit einer ganzen Meute hinter sich.
    Der zweite Rahmen, die zweite Schachtel, besteht aus 6 antiken Druckbögen, die ein Zeitgenosse des besagten Silvius Schwarz seinerzeit gesetzt haben soll. Leopold war stumm, und mit Silvius augenscheinlich befreundet. Der Doktorand kam durch allerlei abenteuerliche Zufälle an diese Bögen, in denen sich Leopold vom Chronisten zum Denker und Forscher entwickelt. Der Tonfall ist hier ganz der damaligen Zeit angepasst, und zeichnet glaubwürdig die innere Entwicklung Leopolds nach. Ganz unverkennbar bestehen hier Parallelen zum "Namen der Rose", sowie zum "Parfum": Zwar ist die Handlung zeitlich deutlich hinter Umberto Ecos Meisterwerk angesetzt, aber der Grundgedanke scheint derselbe zu sein. Es endet an einem ominösen, versteckten, verschachtelten Ort, und es geht um Morde, die aus höchst idealistischen Gründen begangen wurden. Insofern ähnelt Leopold, der Drucker, ein wenig Adson von Melk. An das "Parfum" wiederum erinnert die Lebensgeschichte des Silvius Schwarz; seine Kindheit mit weitestgehend dunklen Wurzeln, seine Besessenheit, die ganz derjenigen Grenouilles ähnelt, und sein Ende. Auch eine orgiastische Verwirrungsszene ist enthalten, ganz wie im "Parfum".


    Die dritte "Schachtel" schließlich, oder sollte ich vielmehr sagen, das dritte Kaninchen, das der Autor aus dem Hut zaubert, besteht aus Liebesbriefen, die sich Silvius Schwarz und seine Cousine Sofie geschrieben haben sollen. Sollen, wohlgemerkt; denn es ist ebenso möglich, dass diese Briefe nur ein Roman einer nicht näher bezeichneten Nonne, Dionysia von Rose (!), sind. Das bleibt angenehm offen, und trägt zum Reiz des Ganzen bei. Auch diese Briefe sind kunstvoll geschrieben - ganz egal, woher sie auch stammen mögen. Der Tonfall und die ganze Ausdrucksweise stammen derart unverkennbar aus den "Gefährlichen Liebschaften", dass man schon blind sein müsste, um dies nicht zu merken. Sofie gleicht der Marquise de Mertueil, und Silvius dem Vicomte de Valmont - beide berichten sich in scheinbar plauderndem, doch hoch frivolem und lauernden Ton von ihren jeweiligen Winkelzügen.


    Diese drei Erzählstränge werden das ganze Buch über höchst kunstvoll verschränkt, so dass man als Leser dauernd "auf der Lauer liegen" muss. Nie kann man sicher sein, nun wirklich alles erfasst zu haben. Immer wieder gibt es ein neues skurriles Detail, eine neue Wendung. Ich gebe sogar unumwunden zu, dass ich nicht sicher bin, ob ich das Ende richtig verstanden habe. Was war denn nun auf dem ominösen "Foto" zu sehen, das Silvius gemacht haben soll? Lebt er noch, oder konnte er seinen Henkern entkommen? Was geschah mit dem Ort in Sachsen, den es heute nicht mehr geben soll, und der geheimnisvoll "***rode" genannt wird? Doch wissen Sie was - es ist mir letztlich egal. Wie aus einem Labyrinth, bin ich aus diesem Buch hervorgetaumelt. Es war ein wenig anstrengend, doch unbedingt lohnend, sich in dieses Abenteuer zu stürzen. Sollten Sie mir folgen wollen, So wünsche ich Ihnen ebensoviel Spannung und Entdeckerlust, wie ich sie verspüren durfte.

    Mit Rollator auf Verbrecherjagd


    Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll; so sehr hat mir dieses Krimi-Debüt der Übersetzerin und Autorin Marlies Ferber gefallen! Denn sicher ist es eine Sache, als Erstling einen „lustigen Krimi“ zu veröffentlichen, wie es derzeit gerade Mode ist. Eine völlig andere Sache ist es jedoch, glaubhafte Charaktere mit einer unterhaltsamen Story und vielen, liebevollen Referenzen an große Krimi-Vorbilder so zu verquicken, dass ein eigenes, aber durch und durch glaubwürdiges „Produkt“ entsteht.


    In diesem Buch fließen Reminiszenzen an James Bond und Miss Marple gekonnt zusammen, sowohl was „Setting“ und Handlung, als auch was die handelnden Personen betrifft. Hauptpersonen sind erstens James Gerald, pensionierter Geheimdienstagent in den 70ern, und seine Freundin, Nachbarin und ehemalige Kollegin Sheila Humphreys (ihrerseits auch schon 69 Jahre alt). Ein ungutes Bauchgefühl treibt James mitsamt seinem Spezial-Rollator (!) in die Seniorenresidenz „Eaglehurst“ in Hastings an der Südküste Englands. Sein ehemals bester Freund ist in der besagten Seniorenresidenz plötzlich verstorben, und James mag an die Harmlosigkeit des Vorfalls einfach nicht glauben. Sheila wettert per Telefon anfangs noch gegen James’ Entschluss, sich im Heim niederzulassen – doch einige unerklärliche, weitere Todesfälle später reist auch sie an, um gemeinsam mit James der Sache auf den Grund zu gehen…


    Die Handlung mag ich gar nicht weiter zerpflücken. Es würde dem Buch und seinem ganz eigenen, herzallerliebsten Witz auch gar nicht gut tun, dem Leser alles vorweg zu nehmen. Ganz wie bei Miss Marple & Co. ergibt sich jede neue Situation, jede neue Verwicklung aus einem scheinbar winzigen Detail heraus. Auch von scheinbaren Vergiftungen und Überfällen auf der Straße lassen sich James und Sheila nicht beirren! Mit Charme (Sheila) und knochentrockenem Witz (James) begegnen sie so mancher Situation, und das ist mehrfach wirklich urkomisch!


    Besonders herrlich fand ich die Veralberung, bzw. Bezugnahme auf den Technik-Spleen des „echten“ James Bond. James ist eine wahre Fundgrube an hochmodernen Ermittlungstechniken, und jongliert mit Apparaturen, bei denen man als Leser nur noch mit den Ohren schlackert. Und das mit 70! Und letztlich sind es genau diese Dinge, die der Aktion ihren Erfolg einbringen.


    Sheila wird angenehm als Begleitfigur aufgebaut, nicht zu dominant, eher wie eine „würzende Beigabe“. Mit ihren 69 Jahren wirkt sie doch viel jünger, immer noch attraktiv, charmant, und ihren Minirock (!) schwingend. Ein wunderbar skurriles Paar, das sich die Autorin hier ausgedacht hat! Auf die zahlreichen „literarischen Verneigungen“ vor weiteren Kriminalfiguren, geschickt in der Handlung versteckt, möchte ich nur am Rande hinweisen. Krimi-Leser werden schon allein am Herauspicken dieser Details ihre helle Freude haben!


    Ich habe ungern im (wiederum herrlich schrägen) Prolog von den Figuren Abschied genommen. Ganz wie in einem dieser alten Schwarzweiß-Filme mit Margaret Rutherford, bleibt man am Ende verblüfft, aber auch wieder befriedigt zurück. Es geht weniger darum, ob man den Täter selber auch erraten hätte – mir wäre dies z.B. nicht gelungen. Es geht vielmehr darum, den Leser glänzend zu unterhalten, und sich vor literarischen Vorbildern zu verbeugen. Beides ist der Autorin hervorragend gelungen. Bitte mehr davon!

    kann mich pepperann nur anschließen - hier meine Rezension!



    „Schnapsleiche“ – durchaus keine „Schnapsidee“!


    Dieser Debütroman der Autorin Sabine Trinkaus war für mich ein pfiffiges Lesevergnügen, lies sich flott weglesen, und vereinte angenehm mehrere Details, die ich so nicht erwartet hätte.


    Als „klassischen Krimi“ würde ich das Buch weniger bezeichnen. Das Genre sollte hier deutlich verulkt werden. Nur zu Anfang wird (ganz kurz) die Polizei gerufen, doch dann geht die weitere „Ermittlung“ in den Privathaushalt der Familie Hutschendorf über. Der Schnapsfabrikant Walter Hutschendorf II. ist nämlich urplötzlich verschwunden – und dass, wo die Firma gerade vor wichtigen Abschlüssen steht, und seine Unterschrift gefragt wäre.


    Alle drei Frauen des Haushalts erteilen der Physiotherapeutin Britta und ihrer Freundin, der Köchin Margot, unabhängig und unwissend voneinander (!), den Auftrag, Walters Verbleib schnellstmöglich zu klären. Schon allein dies sorgt für einige haarsträubende Situationen. Denn die grantelnde Agathe, 92jährige Matriarchin, Lucia, deren Tochter und aktuelle Firmenchefin, sowie Chantal, blondes, dümmliches Busenwunder und ihres Zeichens neueste Ehefrau von Walter II., könnten alle unterschiedlicher nicht sein. Jede dieser drei Figuren wird zwar nicht gerade „romanmäßig“ ausgestaltet, aber doch so kurz und prägnangt ge- bzw. überzeichnet, dass es eine wahre Freude ist.


    Auf klassische „Ermittlungstätigkeit“ darf man sich aber wiederum nicht einstellen. Britta und Margot stolpern vielmehr durch einige Situationen, gebären sich mal als Ermittler, mal als Journalisten, und mal auch als harmlose Teilnehmer einer Betriebsführung. Man weiß nicht so recht, was man von den „Methoden“ der beiden Damen halten soll; jedoch sorgen ihre unterschiedlichen Temperamente, sowie Margots ständig klingelndes Handy, für unterhaltsame Zwischenfälle. Ganz zu schweigen von Louis, dem ständig furzenden Hund, der mitten in der Handlung vor Ort auftaucht – und auch noch bleibt…


    Die Handlung wird ab der Mitte des Buches ein wenig vertrackt, denn nun wird so langsam klar, dass Walters Verschwinden mit lange gehüteten Familiengeheimnissen zu tun haben muss. Es tauchen mehrere Nebencharaktere und –schauplätze auf, und man muss sich schon ein wenig konzentrieren, um den Überblick zu behalten. Doch der überdreht-lustige Showdown entschädigt für so manche, kleinere Länge, die sich eingeschlichen haben mag. Alles kulminiert nachts auf der Veranda des Hutschendorf’schen Anwesens, und das ist doch teilweise so plötzlich und komisch, dass man sich das Schmunzeln nicht verkneifen kann. Gänzlich ohne Blut, und sogar ohne Polizei, löst sich der allgemeine Wirrwarr auf – wenn auch nicht in Friede, Freude und Eierkuchen, so doch in einen Prolog, der auf weitere unterhaltsame Bände hoffen lässt.


    Insgesamt verleihe ich dem Buch vier wohlverdiente Sterne. Die Handlung hat mich zwar nicht zu 100 Prozent überzeugt, doch haben mich vor allem die lebendigen Dialoge, und die vielen Überraschungen bei der Stange gehalten. Und obwohl Agathe wahrlich kein Sympathieträger ist, war sie mir doch eindeutig die liebste Figur in diesem Buch. Als grantelnde Alte, die verzweifelt versucht, alles zusammenzuhalten, war sie großartig! Ich würde weitere Bände der Autorin definitiv lesen wollen.

    Warum nur ist der Begriff "Unterhaltung" bei uns oft so negativ besetzt? Dieses Buch ist der beste Beweis dafür, dass "Unterhaltungsliteratur" durchaus ihre Berechtigung hat. Ich habe das Buch in kürzester Zeit gelesen, und fühlte mich hinterher heiter-beschwingt. Das ist schon wesentlich mehr, als manche sogenannte "ernsthafte" Literatur fertig bringt.


    Zugegeben, die Rahmenhandlung ist denkbar dünn - und, wie sich am Ende bei der Auflösung herausstellt, zuckrig-bollywood-süß. Der junge Inder mit dem seltsamen Namen, Ram Mohammed Thomas, ein Straßenjunge und Kellner, hat bei der indischen Ausgabe von "Wer wird Millionär" den Hauptpreis gewonnen. Doch wie kann das sein? Die Produktionsfirma hat insgeheim nicht damit gerechnet, dass jemals ein Kandidat so weit kommt. Und daher "muss" nun bewiesen werden, dass Ram ein Betrüger ist.


    Wie ein "deus ex machina" taucht auf einmal eine Anwältin im Gefängnis auf, die Ram scheinbar völlig selbstlos helfen will. Sie schaut sich gemeinsam mit Ram eine Videoaufzeichnung der besagten Sendung an - und dabei erzählt er ihr, immer hübsch Kapitel für Kapitel, eine Episode aus seinem Leben. So wird langsam klar, warum er - ausgerechnet! - die Antworten auf die ihm gestellten Fragen wusste.


    Hier kann man sich nun streiten. Es war für den Autor einfach ein bequemes Mittel, immer nur eine Episode aus dem Leben von Ram erzählen zu "müssen", ohne sich groß um einen "roten Faden" zu kümmern, wie es in einem reinen Roman ohne Rahmenhandlung der Fall gewesen wäre. Und außerdem - wie wahrscheinlich ist das Ganze? Ram hat ausgerechnet solche Dinge in seinem Leben erlebt, die am Ende zu den Quizfragen passten. So weiß er z.B., wie der kleinste Planet des Sonnensystems heißt, weil einst ein trunksüchtiger Nachbar eine Katze so benannte - die er dann im Suff umbrachte. Oder: Ram weiß genau, für welchen Film die Schauspielerin XY in welchem Jahr einen Preis bekam - weil er bei ihr Hausdiener war. Und so weiter, und so fort.


    Aber - das Ganze hat für mich dennoch Charme versprüht. Die einzelnen Episoden sind einfach zu "süffig" geschrieben, natürlich, wie könnte es in Indien auch anders sein, mit einem Schuss Tragik und Romantik. Und jedes Mal streut Ram ein- oder zwei Sätze ein, die ziemlich ironisch die Welt der Reichen, der Weißen, oder der Gauner kommentieren. Vom Inhalt her hat mich das Buch insofern sehr an den Film "Salaam Bombay!" erinnert, den ich erst kürzlich gesehen habe. Auch hier wird das typische Leben von Straßenkindern thematisiert.


    Als Ram mit seiner ominösen Retterin endlich - auch noch im Laufe einer einzigen Nacht! - alle Fragen, alle Episoden durchdiskutiert hat, folgt nur noch ein sehr kurzer Epilog, in dem auf wundersame Weise alle offenen Fragen geklärt werden. Ganz aus heiterem Himmel ist die Anwältin nämlich nicht erschienen! Doch den Grund werde ich hier nicht verraten. Ach, es ist am Ende alles ein wenig wie aus "1001er Nacht". Reinstes Bollywood, reinste Unterhaltung. Und doch - das Buch hat mich zum Schmunzeln gebracht. Es ist zwar keine große Literatur - doch seine 8 Punkte ist es dennoch wert.

    Ich gebe gerne zu, dass ich das Buch zu Anfang noch gelesen, dann im weiteren Verlauf aber nur noch überflogen und schließlich abgebrochen habe. Für mich passen einfach Titel, Klappentext und Schreibstil hinten und vorne nicht zusammen - oder ich bin schlicht die falsche Adressatin für dieses Buch gewesen.


    Soweit ich erlesen konnte, geht es eben bei weitem nicht (!) darum, dass berufstätige Frauen glücklicher wären. Nein, was wir als Leser hier bekommen, ist ein recht unentschlossenes Gemisch. Einesteils Erinnerungen der Autorin, z.B. an Klassentreffen, oder Job-Entscheidungen. Dann wieder, immer wieder, scheinbare Schuldgefühle, weil sie selber keine Kinder hat. Andererseits bemüht sie sich, Kapitel und Themen zu erstellen, die alle mit der deutschen Job-Landschaft oder gesellschaftlichen Ansichten zu tun haben. Doch immer wieder gleitet sie ab, kommt vom berühmten Hölzchen aufs Stöckchen, wiederholt sich auch mal. Da war für mich keinerlei roter Faden erkennbar.


    Außerdem hat mich persönlich sehr geärgert, dass "Berufstätigkeit" und "Erfüllung" für die Frau permanent mit Spitzen-Jobs, Spitzen-Gehalt und Karriereleiter zu tun haben soll! Was ist mit Berufen, die man aus ideellen Gründen ergreift? In der Pflege, oder in der Kunst und Musik zum Beispiel? Das wird überhaupt nicht erwähnt. Immerzu geht es nur darum, dass die Frau doch bitteschön - wie angeblich die Männer - auch ohne Schuldgefühle in den Chefetagen zu sitzen habe. Das ist für mich genauso ein Klischee wie alle anderen! Und von daher für mich am Thema vorbei!


    Ich glaube, die wahren Hürden für ein vorurteilsloses Nebeneinander von Mann und Frau sitzen immer noch in unseren Köpfen. Doch dazu brauchte ich dieses Buch nicht. Es ist für mich höchst entbehrlich, und auch vom Stil her nicht gelungen. Daher nur eine geringe Bewertung.

    ich fand es auch nicht einfach - aber lest selbst:


    Dieses Buch ist ja nicht wirklich dick mit seinen gerade mal 173 Seiten. Und auch die Tatsache, dass es - man höre und staune - ohne eine einzige Kapiteleinteilung, und fast ohne Absätze daherkommt, könnte einen denken lassen, es eigne sich gut zur Überbrückungslektüre zwischen mehreren Wälzern. So nahm ich es mir ganz unvorbereitet und spontan zur Hand, und musste doch entdecken, dass es alles andere ist als ein Buch für "zwischendurch".


    Zum Glück habe ich doch ein wenig Erfahrung mit neumodischen literarischen Techniken, und war von daher nicht ganz so "erschlagen" vom wirklich ambitionierten Stil wie manch ein Leser vor mir. Dennoch, ich kann letzten Endes weder sagen, ob mir das Buch wirklich gefallen hat - noch, ob es gut oder schlecht war. Geschweige denn, ob ich das Ende wirklich verstanden habe. So man es denn überhaupt als ein "Ende" verstehen kann.


    Ich vermute, dass hier verschiedene Dinge zusammenkommen, die mir den Zugang erschwert haben. Zum einen enthält das Buch, so kann man vermuten, doch zahlreiche autobiographische Bezüge, da auch die Autorin, wie die Protagonistin, vor etwa 37 Jahren in Moskau geboren wurde, aber seit der Kindheit in Deutschland lebt. Vieles ist aus dieser Zeit un- oder halbverdaut geblieben, und bricht sich nun in diesen Zeilen Bahn.


    Zweitens, und das muss ich dem Buch wirklich lassen, ist es eine ziemlich plastische und authentische Darstellung dessen, was man als "russische Volksseele", als russische Mentalität bezeichnen könnte. Doch, leider, die ist nun so gar nicht meins! Ich bin ein fröhlicher und optimistischer Mensch, und hätte die junge Mascha am liebsten öfters geschüttelt, sie solle sich doch um alles in der Welt nicht so hängen lassen, und über Vergangenem brüten...


    Drittens, das Buch hat keinen wirklichen Abschluss, und man muss eher raten, was die eher traum- oder fieberhaften Sequenzen gegen Ende zu bedeuten haben. Im Klappentext steht zwar zu lesen, Mascha komme einem Familiengeheimnis auf die Spur - doch das stimmt so, meiner Meinung nach, nicht. Das Problem ist, dass sich sowieso der überwiegende Teil der "Handlung" in Maschas Kopf abspielt. Und von daher kann man einfach nicht sagen, ob sie nun etwas "herausgefunden" oder sich nur eingebildet hat.


    Es ist wirklich sehr schwierig, etwas Objektives zu diesem Buch zu sagen. Mascha berichtet die ganze Zeit in einem ununterbrochenen Fluss aus wirren Gedanken und sonstigen Splittern - die eigentliche Handlung gerät dabei eindeutig in den Hintergrund. Das ist in zwei Sätzen gesagt. Sie fährt nach Russland, um das Haus ihrer Großmutter zu verkaufen - begegnet vor Ort aber ihren unverdauten Erinnerungen, und flüchtet wieder. Damit sind natürlich keine 173 Seiten gefüllt. Dementsprechend wird der überstürzte Ausflug nach Russland denn auch eher als Folie für ihre eigene Vergangenheitsbewältigung benutzt. Aber, und das ist es gerade, wird hier eigentlich etwas bewältigt? Am Ende bin ich genauso schlau, was Mascha betrifft, wie am Anfang. Eine Entwicklung oder "Bewältigung" im eigentlichen Sinne kann ich da nicht ausmachen!


    Ich kann letztlich nicht mehr tun, als drei etwas ratlose Sterne zu verleihen - da ich sehe und anerkenne, dass hier schriftstellerisch neue Wege beschritten werden sollten. Aber "gemocht" habe ich das Buch wohl eher nicht. Es blieb mir letzten Endes fremd - was aber, wie gesagt, auch an der russischen Melancholie und Trägheit gelegen haben kann. Empfehlen würde ich das Buch jedenfalls nur solchen Lesern, die sehr (!) viel Willen zur Mitarbeit und Sinnkonstruktion mitbringen.

    Und hier ist sie, meine Rezi:


    Ich habe etwas gewartet, bevor ich mich an diese Rezension wagte. Das Buch ist ein wirkliches Kleinod viktorianischer Schreibkunst, ein wunderbarer Schmöker, der derart voller Details steckt, dass man erstmal "verdauen" muss. Das ist wahrhaftig andere Lesekost als heutige "Unterhaltungsliteratur"! Obwohl Wilkie Collins zu seiner Zeit auch so etwas war wie ein "Konsalik der Mittelschicht". Aber: man hatte damals noch eine andere Vorstellung davon, was Unterhaltung ist. Der Leser wurde als Mensch mit vielen Facetten und Interessen ernst genommen, die alle bedient wurden. Und er wurde, durch die komplexe Schreibweise, mitten in die Sinnkonstruktion und die Geschichte einbezogen.


    Der oben abgedruckten Inhaltsangabe habe ich nichts mehr hinzuzufügen. Daher möchte ich mich auf die Eigenheiten des Buches konzentrieren, die es für mich zu einem sehr runden Leseerlebnis gemacht haben.


    Mich hat, wie gerade eben angedeutet, vor allem begeistert, dass das Buch so viele Aspekte hat, und so viele mögliche Leser-Interessen anspricht. Es beginnt beispielsweise wie ein Krimi: ein mysteriöser, aber todkranker Engländer lässt sich in einem deutschen Kurort nieder, und diktiert seine Lebensbeichte einem Landsmann, der diese darauhin notariell hinterlegt. Schon allein dieser Prolog hat alles, was das Leserherz begehrt: Dramatik, Geheimnisse, ein Verbrechen in der Vergangenheit, Rache, Schuld, Liebe. Das Ganze wird grandios gespiegelt durch die sehr eigenen Figuren! Jeder ist ein wenig eckig und kantig, passt aber perfekt zur Story. Der gediegene Erzählstil vertieft diesen Eindruck nur.


    Im weiteren Verlauf könnte man das Buch noch in viele weitere "Schubladen" stecken, doch man hat als Leser nicht das Gefühl, dass auch nur einer dieser Aspekte zu kurz käme. Da wären zum Beispiel die teils vertrackten Liebesgeschichten, die immer wieder haarscharf gut - und dann wieder schief gehen.
    Und noch dazu das Setting in der englischen Mittelschicht, in der sich Gerüchte und Meinungen geradezu inflationär verbreiten - es war einfach köstlich! Ein wenig wie bei Jane Austen - wobei man aber sagen muss, dass Wilkie Collins doch eine deutlich entspanntere Haltung zu dieser Gesellschaft vertritt. Er kann es sich auch nicht verkneifen, immer wieder höchst bissige Abschnitte über die Torheit diverser Personen oder Zu- und Umstände einzuflechten. Das hätte sich eine Jane Austen nie erlaubt.


    Dann haben wir den Grusel- und Mystery- Aspekt, der ebenfalls gebührend behandelt wird. Es wimmelt in diesem Buch vor lauter Vorahnungen, Visionen, dräuendem Unheil, und Seelenqual. Sicher ist uns dies als heutigen Lesern ein wenig fremd - aber innerhalb der jeweiligen Charakterisierungen der beteiligten Personen wirkte alles organisch und logisch. Es gibt wunderbare Passagen über Nebel, Wolken, Parks und einsame Landstraßen, die man glatt noch einmal, um ihrer selbst willen, lesen könnte. Ganz große Schriftstellerkunst!


    Doch am eindrücklichsten blieben mir wohl die starken Hauptfiguren im Gedächtnis. Im wesentlichen haben wir es hier mit einer Dreier- Konstellation zu tun: der Freundschaft zwischen zwei Männern, die durch das Auftauchen der Dame mit dem roten Schal heftig auf die Probe gestellt wird. Obwohl sich einer der Männer im späteren Verlauf für eine andere Frau entscheidet, ist es doch die Dame mit dem roten Schal, auf die alles hinausläuft. Sie spielt im Showdown, wie man das heute nennt, die entscheidende Rolle. Und sie reißt gleich mehrere Personen ins Verderben. Ich denke jetzt noch, lange nach dem Zuklappen des Buches, an diese Figuren: Allan Armadale, sein Freund Ozias Midwinter, und - eben "Miss Gwilt", wie ich sie hier einmal nennen will. Denn wer sie wirklich war, bleibt am Ende offen.


    Ich muss noch erwähnen, dass es sich um keine "geradlinige" Erzählweise handelt. Das Buch ist sehr kunstvoll und komplex geschrieben. Da haben wir teils die bewährte auktoriale Erzählperspektive in der dritten Person. Dann wieder haben wir viele Dialoge, die aber sehr lebensnah und authentisch klingen. Dann wiederum Briefe und Tagebucheinträge. Testamente und Zeitungsartikel. Im mittleren Teil des Buches sind es hauptsächlich die Briefe, welche die Handlung vorantreiben- gegen Ende dann wieder Miss Gwilts Tagebuch. Das zwingt den Leser zur aktiven Teilnahme, zum "Mitbasteln" am Geschehen. Das Buch lässt sich insofern gewiss nicht gefällig "konsumieren"! Ein wenig erinnerte es mich in seiner Technik an die "Gefährlichen Liebschaften" - denn dort ging es ja auch um die Winkelzüge verschiedener Parteien, die man erst durch die Briefe entwirren musste.


    Insgesamt kann ich nur sagen, dass mich diese Lektüre gefordert hat - aber im sehr positiven Sinne! Ich konnte mich nicht zurücklehnen, sondern musste bewerten, miterleben, nachvollziehen. Zu keiner Zeit kam Langeweile auf, ich fühlte mich versetzt in einen gänzlich anderen Kosmos, in dem das Schreiben und Lesen von Büchern noch als das galt, was es bestenfalls auch ist: eine Reise ins Herz der Menschen.

    Zuerst war ich ja skeptisch, weil gerade im Falle von Alan Bennett der deutsche Verlag die Strategie zu verfolgen scheint, in unregelmäßigen Abständen in Schubladen zu kramen und das darin Enthaltene zu veröffentlichen. Im Falle der "Souveränen Leserin" war das zwar ein Glücksgriff, kann aber dennoch nicht über die Tatsache hinwegtäuschen, das diese in England in Buchform längst nicht solche Popularität genießt wie bei uns - weil sie eine erst später erschienene Zeitungskolumne (!) war.


    Nun, ein Blick ins Impressum, und in weitere Quellen hat mich beruhigt. Auch in England sind diese Geschichten erst in einem zweiten Schritt veröffentlicht worden, sie sind der zweite Teil der Serie "Talking Heads" - und erschienen somit erst nach dem "Kräcker unterm Kanapee". Die einzige Ausnahme bildet hier die allerletzte Geschichte, "Eine Frau ohne Bedeutung". Diese wurde auch in England erst dem zweiten Band angehängt, da sie zwar als erstes verfilmt, aber vorher nie gedruckt wurde. Wenn ich das richtig verstanden habe!


    Alan Bennetts Stil aber ist es vor allem gewesen, der mich auch diesen Band hat lieben lassen. Man kann ihn, den Stil, kaum beschreiben, ohne ihn zu "zerreden". Es ist eine ganz und gar eigene Mischung aus unterkühltem Witz, britischem "Spleen", und satirischer bis bitterböser Gesellschaftsbeobachtung. Dies dann gepaart mit dem sehr spärlichen "Setting" ( es handelt sich jeweils nur um Monologe für einen Ein-Mann-TV-Auftritt) ergibt eine zwar ungewöhnliche, für mich aber gerade deshalb unvergessliche Mischung. Sogar die Regieanweisungen hat man in der Buchfassung stehen lassen! Wenn das mal nicht "eigen" ist...


    Allerdings hat sich die Thematik in diesem Band doch in eine andere Richtung entwickelt, sie ist nachgerade sinister bis tiefsinnig geworden. Für mich war das ein Schritt weg von reiner Unterhaltung, hin zu echter Weltliteratur. Nein, ich scheue mich nicht, diese Worte in den Mund zu nehmen! Denn was sonst soll "Weltliteratur" bewirken, wenn nicht, uns an unsere Grenzen zu führen, und uns bisweilen das Lachen im Halse steckenbleiben zu lassen...?


    Nur die erste hier vertretene Geschichte, "Der Finger Gottes", ist noch, wie im ersten Band, heiter-verdreht und fröhlich (zumindest für den Leser). Hier geht es um eine geldgierige Antiquitätenhändlerin, der durch eigene Schusseligkeit das Geschäft ihres Lebens durch die Lappen geht. Doch danach geht es bedeutend ernster weiter, fast zu ernst für einen Bennett. Ungewöhnlich oft taucht Sexualität auf, in allen möglichen und unmöglichen Spielarten. Eine gelangweilte Ehefrau, die zur Fußmassage geht und nicht merkt, dass sie einem Fetischisten auf den Leim gegangen ist. Eine demente alte Dame, die im Heim auf den Tod wartet. Eine weitere Ehefrau, deren Mann Metzger ist, und die sich wundert, warum er immerzu mit dem Hund raus muss - und das zu den Zeiten, zu denen junge Mädchen ermordet werden. Eine biedere Büroangestellte, für die es nichts Lebenswichtigeres gibt als die Sitzordnung beim Mittagessen - und die natürlich vollkommen verpeilt, dass keiner sie so recht ernst nimmt. Bis sie schwer erkrankt...


    Ja, wie es scheint, ist unser Alan Bennett erwachsen geworden. Obwohl ich mich das bei einem Mann, der sich ein Hausschwein hält und mit ihm Gassi geht (!) fast nicht zu sagen traue. Nun, zu berücksichtigen ist ja auch die große zeitliche Distanz zur ersten Veröffentlichung in England - das war im Jahre 1998! Dennoch, ich bleibe dabei. In diesem Band zeigt Alan Bennett, dass er mehr ist als ein "Unterhalter" oder Pausenclown. Sein Witz tut hier fast schon weh, er zwingt den Leser in die Knie, und entlässt ihn irgendwo zwischen "himmelhoch jauchzend" und "zu Tode betrübt". Auf jeden Fall aber entzieht sich jede dieser Geschichten dem wohlfeilen und daher schnell vergessbaren Konsum. Und das finde ich schlicht großartig.

    Also, ich kenne ihre anderen Bücher nicht, und war von diesem begeistert! Hier meine Rezi:


    Da sind wir nun, ich und Kommissar Adamsberg. Wir sind uns als völlig Fremde begegnet, beinahe zufällig - weil jemand meinte, die Bekanntschaft könnte, zumindest für mich, förderlich sein. Also bin ich dem guten Kommissar entgegengetreten, und zwar ob vieler Vorschusslorbeeren eher skeptisch bis neutral. Doch nun werde ich ihn nicht mehr los, und das überrascht mich dann doch. Zumal es in diesem Fall um ein Thema ging, das ich in einem ernsthaften Krimi eher nicht erwartet hätte: Vampire. Ausgerechnet.


    Der große Vorteil bei diesem Buch ist allerdings, dass man (so finde ich) gefahrlos über den Inhalt reden kann, weil dieser sowieso nicht (!) den immensen Reiz der Geschichte ausmacht. Von der reinen Kriminalhandlung her würde ich das Buch zwar als gut, aber doch nicht überragend gut bezeichnen. Mehrere Menschen werden im wahrsten Sinne des Wortes "pulverisiert", zermalmt, zerhackt, und in ihrer Wohnung verstreut, so dass kein Teil mehr zum anderen passt. Und ein wenig später stellt sich zufällig heraus, dass diese Geschehnisse mit einem seltsamen Fund auf dem berüchtigten Friedhof Highgate in London in Zusammenhang stehen. Dort standen nämlich 17 Füße samt Schuhen vor dem Tor. Oder sollte man sagen, Schuhe samt Füßen? Wie dem auch sei, Adamsberg war aufgrund einer internationalen Konferenz just zu dem Zeitpunkt in London, als der besagte Gammelfleisch-Skandal um die ominösen und herrenlosen Füße in Erscheinung trat. Ferner erkennt ein Mitarbeiter seiner Truppe später einen Fuß (samt Schuh), bzw. Schuh samt Fuß als den eines Verwandten aus Serbien. Schon ist die Verbindung hergestellt, und Adamsberg wird, halb aus Neugierde, halb aus Instinkt, in die Geschehnisse hineingezogen. Da die Ermittlungen vor Ort in Frankreich nicht recht vorangehen wollen, macht Adamsberg sich auf zu den Wurzeln des Übels, dem serbischen Dorf im tiefsten Transsylvanien, wo alles seinen Anfang nahm...Kiseljevo...


    Eines sei jedoch gleich vorweg gesagt: in diesem Buch wird nicht (!) die Frage beantwortet, ob es Vampire nun wirklich gibt oder nicht. Und genau das fand ich großartig! Der Sachverhalt wird gerade eben so in der Schwebe gehalten. Für die Verbrechen war allein ausreichend, dass es jemanden gab, der an Vampire glaubte, und der sich in der Mission sah, sie bis ins letzte Glied auszulöschen. Dennoch nimmt die Schriftstellerin ihr Thema insofern ernst, als sie profund recherchiert hat. Vor allem Land und Leute sowie die Umgebung in Serbien, samt vielerlei lokaler Mythen und Eigenheiten, hat sie sehr authentisch zum Leben erweckt. Und auch die wahrlich "sagenhaften" Geschehnisse um den Friedhof Highgate hat sie ganz unangestrengt in die Geschichte eingestreut, gut dosiert, so dass das Ganze eine packende, doch nicht übertriebene Mischung ergab.


    Doch das war für mich noch immer nicht das eigentliche Faszinosum an diesem Buch! Es war, schlicht und ergreifend, dieser Adamsberg, seine Truppe, die vielen schrägen Dialoge, die unerwarteten Wendungen, der Wortwitz, die Sprachbilder. Sogar einen "running gag" gibt es im Laufe des Buches, und zwar das Wort "Plog!", welches an allen möglichen und unmöglichen Stellen auftaucht. Mehr verrate ich dazu an dieser Stelle aber nicht!


    Schon allein auf den ersten 80 Seiten hatte ich mehrere ausgewachsene Lachanfälle, und das bei diesem Thema, das will doch etwas heißen! Adamsberg passt vom Charakter her wirklich in keine einzige gängige Schublade. Er stellt Dinge an, bei denen man nur noch den Kopf schütteln kann, wobei man aber fast gegen den eigenen Willen lachen muss. Manchmal sind seine Aktionen wahnwitzig, manchmal tollkühn, manchmal auch einfach verschmitzt bis liebenswert. Adamsberg hat einen ausgeprägten Sinn für gutes Essen und hübsche Frauen, und wenn dann auch noch beides in Kombination auftritt, wie in dem Gasthof in Serbien, dann ist er nicht mehr zu halten.


    Adamsberg wird in diesem Buch beileibe nicht zum Helden stilisiert. Mehrfach glaubt er, sein letztes Stündlein habe geschlagen - gut, manchmal provoziert er dies auch. Aber letztlich wird dem Leser klar, nur so konnte es gelingen, diesen Fall auch nur ansatzweise aufzuklären. Denn hinter aller Tollkühnheit steckt bei Adamsberg doch ein wacher Geist und eine unglaubliche Kombinationsgabe.


    Ich bin derart begeistert von dem, was ich hier lesen durfte, dass eine unmittelbare Sogwirkung eingesetzt hat. Von wegen, Fred Vargas nur eine weitere Kriminalautorin unter vielen! Pah! Jetzt erst kann ich Denis Scheck verstehen und beipflichten, der - und das ist für ihn ein wahrhaft großes Lob - zu diesem Werk sagte: "Ein gutes Buch!"

    Die Liebe in Zeiten des Krieges


    Ich gebe zu: ich war anfangs skeptisch. Denn der Klappentext stellt bei weitem nicht das in den Vordergrund, worum es in diesem Buch wirklich geht. Und noch ein Buch über den Krieg, dachte ich insgeheim; brauchte es das wirklich? Doch dann stieg ich mit dem Erzähler, dem 21jährigen Tristan Sadler, mitten in das Jahr 1919 ein, und merkte, dass mich die gänzlich unverstellte, aber dennoch eingängige Schreibweise schnell in den Bann zog. Sicher, es geht um Dinge, die wohl nur zu Kriegszeiten so hatten passieren können. Aber es geht im Grunde um viel mehr; es geht um die Befindlichkeit eines ganzen Landes, um Stimmungen und Ansichten, die in der Luft lagen. Es geht um die Grundthemen Freundschaft und Liebe. Und vor allem geht es um das Rätsel Tristan Sadler, das sich dem Leser erst langsam erschließt. Warum hasst er den Namen Clayton? Warum hat er keinen Kontakt mehr zu seinen Eltern? Warum zuckt er so oft zusammen? Warum bleibt er gegenüber penetranten Fragen nach seinem Familienstand so gleichgültig? Und vor allem: warum zittert seine rechte Hand…?


    Alle diese Fragen werden ganz behutsam im Laufe der verschachtelten Erzählung beantwortet. Diese wird verteilt auf zwei Erzählstränge: einen im Jetzt, im Jahre 1919 in Norwich, und einen zur Zeit des Ersten Weltkrieges, im Jahre 1916, vom Ausbildungslager Aldershot bis in die Schützengräben Frankreichs. Zusätzlich gibt es einen Epilog, der 60 Jahre später, im Jahre 1979, stattfindet, und der zwar nicht zwingend notwendig war, aber dennoch der Sache den letzten Schliff verleiht. Ich würde es fast als eine Art „Schnitzeljagd“ bezeichnen, was dem Leser hier geboten wird. Im Jahr 1919 trifft sich Tristan mit der Schwester seines toten Kameraden Will, und tastet sich durch viele mühsame Gespräche bis hin zu dem Punkt, an dem er ihr die Wahrheit über den Tod ihres Bruders mitteilt. Im Jahr 1916 sind wir live und in Farbe dabei, als sich die Beziehung zwischen Tristan und Will langsam entwickelt, verdichtet, verwirrt, und auch wieder löst. Von Kapitel zu Kapitel lüftet sich der Schleier ein wenig, immer wieder ein neues Detail wird dem Leser enthüllt. Zwar ahnt man als Leser schon lange vor der Schwester, wie der Hase gelaufen ist – dennoch ist es erschütternd, wie sich Tristan vor allem sich selbst gegenüber seiner größten seelischen Wunde nähert. „Brokeback Mountain im Ersten Weltkrieg“, so würde ich es nennen.


    Was die Handlung betrifft, braucht man gar nicht weiter ins Detail zu gehen. Das würde sonst schnell im „Zerreden“ enden, und das hat dieses Buch ganz sicher nicht verdient. Ist es doch in allem so überaus zurückhaltend, zart, ja, man könnte aus heutiger Sicht beinahe sagen: verklemmt und naiv. Doch das hat man als Leser insofern ja nicht zu bewerten – hier geht es um die Sezierung einer ganzen Epoche, mitsamt all ihren Vorurteilen und festgefahrenen Ansichten. Und die waren nun mal leider so, wie sie hier dargestellt werden. Die gesamte Atmosphäre kann ich nur als absolut authentisch geschildert beschreiben! Schon allein als Zeitporträt finde ich das Buch grandios gelungen. Wie Männer und Frauen miteinander umgehen – wie viele Väter und Brüder fehlen – die Ansichten über Mut und Männlichkeit – über Sittlichkeit und Anstand – über Beziehungen – über Patriotismus – über den Kampf des Wiederaufbaus – und nicht zuletzt die noch völlig andere Gesetzeslage, die Dinge unter Strafe stellte, über die wir heute nur milde lächeln. Für Tristan und Will jedoch, die auf ihre Art beide „anders“ waren, wurde dieses enge Korsett aus Moralität und Gepflogenheiten zur Katastrophe. Beide mussten letztlich untergehen – denn obwohl Tristan überlebte, ist der größere Teil von ihm damals mit Will gestorben.


    Man gerät nur allzu leicht in die Gefahr, schnell über dieses Buch hinweg zu lesen, doch davor möchte ich ausdrücklich warnen! Die Sprache mag zwar einfach sein, doch - fast wie bei Hemingway – der weitaus größere Teil spielt sich unter der Oberfläche ab. Beinahe müsste man das Buch nach der ersten Lektüre gleich wieder von vorne beginnen – erst dann versteht man viele Details in der Begegnung zwischen Tristan und seiner Umwelt richtig. Vor allem der erste Satz hat mich, erneut gelesen, wirklich umgehauen! Im Nachhinein bekommt er eine gänzlich andere Bedeutung… das fand ich ungeheuer eindrucksvoll. Das Buch ist so scheinbar leicht und einfach zu lesen, doch Vorsicht! Der Anteil der Dialoge am Geschehen ist, zugegeben, immens, doch darf man hierbei nicht die mitschwingenden Emotionen und logischen Anschlüsse aus dem Auge verlieren. Sehr trickreich gemacht ist auch die Tatsache, dass die Abschnitte im „Jetzt“, im Jahre 1919, in der Vergangenheitsform, und die Abschnitte aus dem Jahr 1916 im Präsens (!) erzählt werden. Das hat einen ganz eigenen Effekt, der uns vor allem verdeutlicht, dass für Tristan die Vergangenheit lebendig und die Gegenwart eigentlich unwichtig ist.


    Nein, es ist doch nicht „wieder eines von diesen Kriegsbüchern“. Es ist ein menschliches Drama, eine Spirale aus Liebe, Gewalt, und enttäuschten Hoffnungen. Es ist das niederschmetternde Porträt eines jungen Mannes, der mit seiner „Andersartigkeit“ zu seiner Zeit niemals eine wirkliche Heimat finden konnte. Und der uns mit diesen fiktiven Memoiren ein Dokument hinterlässt, das letzten Endes wirklich keinen ungerührt lassen kann. Ich bin mir nicht gänzlich sicher – aber verdammt nahe am Status eines Klassikers der Weltliteratur ist dieses Buch doch.

    Ich möchte mich Gronik und Bücherfreund anschließen! Über weite Strecken fand ich das Buch schrecklich. Doch lest selbst - hier ist meine Rezension.


    ***


    Memmige Nummern-Revue mit kriminalistischem Touch


    Es fällt mir ungeheuer schwer, dieses Buch zu bewerten – geschweige denn, in irgendeine Kategorie einzuordnen. Möglicherweise ist dies vom Autor gerade beabsichtigt worden. Dennoch, wenigstens einen (!) roten Faden, irgendeine Ausrichtung, sollte ein Buch meiner Meinung nach schon haben. Doch danach muss man hier lange suchen.


    Ich will dem Buch aber wenigstens in einer Hinsicht Gerechtigkeit widerfahren lassen. Dass so viele Krimi-Leser von diesem Werk enttäuscht sind, ist sicher nicht die Schuld des Buches, oder des Autors. Denn schauen wir doch mal genauer hin: nirgendwo steht hier, dies sei ein „Krimi“! Gut, der Untertitel lautet „Bröhmanns erster Fall“. Doch das Buch ist in der Sparte rowohlt Polaris erschienen, und das ist nun mal kein (!) typischer Krimi-Verlag, sondern eine neue, auf eher jugendliche Leser ausgerichtete Unterkategorie, die sich scheinbar auf Unterhaltung spezialisieren möchte (man erinnere sich: auch „Der Hodscha und die Piepenkötter“ wurden hier verlegt). Merke: nur weil ein Kommissar die Hauptperson ist, macht das noch lange keinen Krimi aus.


    Was ist es dann? Teilweise ein Familiendrama. Denn die bekennende Memme Henning Bröhmann, zufällig auch Kriminalhauptkommissar, wird gerade von seiner Frau verlassen. Er hat nun sowohl eine stark pubertierende Tochter, als auch einen fünfjährigen Sohn und einen ständig furzenden Hund zu betreuen, was bislang nicht zu seinen Stärken gehörte. Doch auch diese Handlung macht nur ein gefühltes Drittel des Buches aus. Sie wird eher episodisch in das Buch eingestreut. Die für mich besten Szenen drehen sich dabei noch um den kleinen Laurin, und den „alternativen“ Kindergarten, den er besucht. Meine Söhne waren auch in so einem von Eltern verwalteten Kindergarten, und ich habe so manches Mal schmunzeln müssen! Sicher leben diese Szenen von deftigsten Klischees, aber Übertreibung macht ja bekanntlich anschaulich.


    Insgesamt kommt mir aber Henning Bröhmann als alleinerziehender Vater zu wenig vor, um das Buch als Familiengeschichte zu bezeichnen. Hier und da ein paar Dialoge mit der stark im Jugendslang daherpöbelnden Tochter, dann die (wie gesagt netten) Szenen im Kindergarten, hier und da mal ein Abendessen mit Pizza, und Gassigehen mit dem Hund Berlusconi – das ist für mich zu wenig, das hat kein Rückgrat als Handlung.


    Den Krimi als solchen kann man so gut wie vernachlässigen. In den ersten zwei Dritteln des Buches wälzt Henning Bröhmann die Verantwortung für die Ermittlungen immerzu auf andere ab, so dass mir die Haare zu Berge standen! Memme hin oder her, aber das war schlicht unglaubwürdig. Der wäre im echten Leben schon längst gefeuert worden. Auch wenn der Herr Papa Polizeipräsident war. Hier konnte ich nur den Kopf schütteln. Lustig war es jedenfalls nicht.


    Erst im letzten Drittel des Buches bekommt dieser Handlungsstrang noch ein wenig „Pep“, und Bröhmann läuft zu Höchstform auf. Das macht zwar manches wieder wett, und liest sich recht angenehm – aber es ergibt sich nicht organisch aus dem Vorherigen. Durch nichts ist vorher zu erkennen, dass sich Henning Bröhmann so verändert. Und für mich ist es ebenso fraglich, ob dieser tatsächlich einmal aufkeimende kriminalistische Instinkt weiter Fuß fassen wird…


    Ist es vielleicht ein Ehedrama? Auch wieder nur in Ansätzen. Ab und an memmt Henning auf dem Sofa vor sich hin, dass er seine Ehefrau vermisse. Und dann fängt er, aus heiterem Himmel, mit einer Unbekannten auf Facebook an zu chatten. Für eine Memme nicht recht nachvollziehbar. Außerdem gibt es, über das ganze Buch verteilt, in der ersten Person geschriebene Abschnitte von seiner im Exil weilenden Frau Franziska. Die sind nun wirklich das reinste Klischee, und haben mir sprachlich und stilistisch überhaupt nicht gefallen. Sie haben nur insofern ihre Berechtigung im Buch, als sie am Ende zur überraschenden Auflösung ein wenig mit beitragen. Aber das verrate ich hier natürlich nicht.


    Ist es dann vielleicht eine Provinzposse? Auch nur bedingt. Gerade in den Abschnitten, in denen typische Hessen, z. B. Karnevalsmusiker, Polizeipräsidenten, Sekretärinnen oder Schlagerstars vorkommen, merkt man dem Autor sehr deutlich seinen kabarettistischen Hintergrund an. Als „Nummern-Revue“ machen sich diese Szenen sicher ganz nett, aber sie fallen stilistisch aus dem Buch doch ein wenig heraus.


    Was mache ich nun aus diesem memmigen Gemenge? Ich bescheinige dem Buch durchaus, dass es sich flüssig lesen ließ. Auch ist der Humor, pro Erzählstrang für sich genommen, recht nachvollziehbar. Aber das alles wirkte auf mich ein wenig unsicher zusammengeschweißt. Es ergibt weder Fisch noch Fleisch. Mit Hängen und Würgen entscheide ich mich für zwei Punkte, mit Tendenz nach oben. Wollen wir hoffen, dass „Bröhmanns zweiter Fall“ ein wenig zielstrebiger wird.

    Isiera, ich habe das Buch gerade begonnen - und kann Dir jetzt schon in vielen Punkten beipflichten. Die Stimmung ist typisch viktorianisch, und oft schaurig-schön.
    Aber ist es am Ende wirklich ein Krimi? Hm, ich empfinde es bislang eher als Lebensbeichte. Aber wir werden sehen.
    Bald schreibe ich meine eigene Rezension!


    Aber es stimmt, es lohnt sich oft wirklich, diese "alten Schinken" auszugraben. Die geraten oft völlig zu Unrecht in Vergessenheit.

    Dieses Buch hat Debatten ausgelöst, wurde allerorten beworben, viel zitiert, löblicherweise auch viel gekauft, und - es wurde von allen möglichen Fraktionen für ihre jeweilige Position ins Feld geführt. Gut, das alles kann, soll und darf man zweifellos tun. Ein Buch ist zum Lesen und Diskutieren schließlich da. Doch nun, da ich es selber gelesen habe, stellen sich mir einige Fragen. Wer, der sich so lautstark zu diesem Thema äußert, hat das Buch denn wirklich gelesen? Und wer hat einmal genau hingeschaut, was der Autor eigentlich damit über sich selbst und andere ausgesagt hat? Wer hat das Buch als Buch unter die Lupe genommen? Wenige, dürfte ich meinen.


    Das Buch "als Buch"


    Nicht nur im Vergleich zu anderen aktuellen Büchern zum Thema (siehe beispielsweise Karen Duves "Anständig essen") fällt auf, dass dieses Buch entschieden "literarischer" gemacht, erdacht und aufgebaut ist. Man merkt dem Geschriebenen zu jeder Zeit an, dass sich der Autor dem Thema viel eher "vom Kopf her" genähert hat, und dass er seine Fähigkeiten als literarischer Schreiberling hat einfließen lassen. Das Buch beginnt und endet mit einem Kapitel, das "Geschichten erzählen" betitelt ist. Hier reflektiert Foer über Essgewohnheiten im Allgemeinen, wie sie Menschen verbinden, und seine Kindheitserinnerungen. Diese "Klammer" enthält dann diverse ausführliche Kapitel, die sich hauptsächlich mit einem Thema befassen. Da geht es z.B. um ökologische Auswirkungen der Massentierhaltung; um tierquälerische Aspekte; um die Folgen für die öffentliche Gesundheit (Stichwort: Antibiotika und Geflügelpest!); und die Infrastruktur der Tierhaltung in den USA. Hin und wieder wiederholt sich eine Information - z.B. die Tatsache, dass Mitarbeiter in Schlachthöfen bisweilen zu Sadismus neigen, oder wie wenig Bewegungsfreiheit Schweine haben.


    Doch trotz einer recht hohen Informationsdichte bekommt man keine einzige Statistik, keine Tabelle, keinen trockenen Sachtext zu sehen. Alles wird in fortlaufende, elegante Prosa gegossen, die immer wieder durchsetzt ist von rhetorischen Fragen, von weiterführenden Gedanken, oder auch (hoffentlich) utopischen Szenarien. Genial gemacht ist auch die Tatsache, dass immer wieder Standpunkte verschiedener Aktivisten oder Farmer in Form von fiktiven "Briefen" eingearbeitet werden. Im Anhang steht dann zu lesen, dass jeweils ein solcher "Brief" durchaus auf mehrere reale Personen Bezug nehmen kann. Und gerade darin ist das Buch eben viel "literarischer" als so manches Sachbuch, das auf der aktuellen Welle mitreiten möchte. Vor allem den Anfang des Buches habe ich als geniale, wenngleich auch drastische, Satire empfunden - als Foer nämlich allen Ernstes überlegt, warum wir eigentlich keine Hunde verzehren, da die Haltung und Aufzucht doch viel unkomplizierter sei als bei handelsüblichen Zuchttieren. Ja, man merkt als aufmerksamer Leser auf jeden Fall, dass Foer drei Jahre an Recherche in dieses Buch gesteckt hat.


    Foers Absicht und Intention


    Schon öfters habe ich gelesen, dieses Buch sei "ein Plädoyer für den Vegetarismus". Dem möchte ich doch widersprechen! Sicher, es mag auf manchen Leser naiv und von daher auch gestellt wirken, dass Foer zu Anfang den Unwissenden mimt und sich auf eine Suche begibt, ja, begeben muss. Doch deswegen hat Foer noch lange nicht die Absicht gehabt, uns alle zu Vegetariern zu machen. Er betont immer wieder im Text (so man denn genau liest), dass sich einfache und globale Lösungen fast von selber verbieten. Es kann nur schrittweise gehen, und nur über eine gründliche Umwälzung vor allem unserer DENK-Gewohnheiten. Denn die sind noch viel wichtiger als das, was wir täglich TUN!
    Die einzige definitive Aussage bezüglich des Vegetarismus, die er in diesem Buch trifft, ist die, dass er sich für diese Alternative entschieden hat, um nicht mehr jeden einzelnen Fall durchdiskutieren zu müssen, um Fehler zu vermeiden. Er ist im Grunde seines Herzens weder "für" noch "gegen" eine bestimmte Position - dafür spricht auch, dass er diverse Farmer besucht und sogar mit ihnen Freundschaft geschlossen hat. Mir scheint er nicht generell gegen das Essen von Tieren zu sein. Er hat nur die Folgen beleuchtet, die der massenhafte Konsum und seine Produktionsbedingungen haben.


    Bedeutung und Stellenwert des Buches für mich


    Dies ist für mich nicht einfach ein weiteres Sachbuch gewesen. Und es hat für mich auch keine entscheidenden weiteren Argumente für oder gegen meine eigenen Essgewohnheiten geliefert - zumal ich sowieso schon Vegetarier bin, und mit dieser Entscheidung seit bald drei Jahren gut lebe. Nein, ich habe dieses Buch als einen Spiegel einer Geisteshaltung empfunden, die viel tiefer geht, als einzelne Entscheidungen für und wider gewisse Produkte. Ein klein wenig kenne ich mich mit Amerikanern aus, und muss leider sagen, doch, eine gewisse Naivität herrscht da durchaus vor. Das habe ich dem Autor "abgenommen". Und in weiten Teilen ist diese Geisteshaltung leider allgemeingültig. Die grundsätzliche Frage ist die unseres Selbstbildes, unseres Platzes auf diesem Planeten. Und unsere Einstellung zu unserer eigenen Zukunft. Und genau diese Punkte hat Foer für mich exzellent herausgearbeitet, und auch noch in eine höchst lesbare Form gegossen. Es geht viel weniger um ihn selbst - obwohl der Auslöser für die Recherchen zu diesem Buch die Geburt seines Sohnes war. Es geht darum, seine Fähigkeiten für eine Sache einzusetzen, die einen über Jahre beschäftigt hat, unabhängig davon, was nun "richtig" sein mag. Für genau diesen Einsatz erhält Foer von mir die wohlverdient volle Punktzahl.

    Zitat

    Original von buzzaldrin
    Meine Eindrücke haben sich leider nicht mehr wirklich gewandelt auf den letzten Seiten. Ich habe das Buch ganz gerne gelesen, wirklich umhauen konnte es mich aber leider überhaupt nicht - vielleicht hatte ich im Vorfeld auch einfach zu hohe Erwartungen, aber irgendwie hatte ich mir mehr erhofft. Ich bin mit Charly und dessen Stimme einfach nicht warm geworden - wenn er sechzehn gewesen wäre, hätte ich ihn immer noch leicht anstrengend, aber okay gefunden. So musste ich die ganze Zeit denken: so ist doch kein Kind mit zehn Jahren!


    Mensch, bin ich froh, dass ich nicht als Einzige so empfunden habe! Ich mag in die allgemeine Bejubelung des Buches einfach nicht mit einstimmen. Aus genau denselben Gründen. Irgendwann habe ich mir die Haare gerauft - realistisch war Charly für mich nicht wirklich.
    Hier nun der volle Text meiner eigenen Rezension.


    ***


    Ach, hat man es schwer als kritischer Leser! Da stehe ich nun wieder einmal zwischen denen, die das Buch hochjubeln und gar mit dem "Kleinen Prinzen" vergleichen, und denen, die es ein wenig "too much" und überzogen finden. Doch so muss ich mir wenigstens Gedanken machen, wie ich meine Rezension verfasse, und kann bei niemandem abschreiben...


    Nein, den Vergleich mit dem "Kleinen Prinzen" kann und will ich nicht unterschreiben. Ein solches Buch lässt sich einfach nicht wiederholen! Und leider finde ich eben, dass man dem Buch durchaus sein "Rezept" anmerkt. Der Autor hat, da bin ich mir fast sicher, durchaus auf einen solchen Vergleich gehofft.


    Es fängt schon damit an, dass man sich das Nacherzählen der Handlung eigentlich sparen kann, weil es darum - fast - gar nicht geht. Die Handlung bietet nur einen Rahmen für die wild daherpurzelnde Gedankenwelt des Protagonisten und Ich-Erzählers, des 10jährigen Charly, einem farbigen Jungen aus Mali, der unter rechtlich höchst fragwürdigen Bedingungen in einer Pariser Vorstadt lebt. Man könnte das ganze Buch problemlos mit dem Satz "Ein Tag in der Vorstadt" zusammenfassen, und hätte inhaltlich nichts verloren.


    Charly schwänzt die Schule, weil seine Mutter verhaftet wurde. Er sucht nun seinen großen Bruder, den Junkie Henry. Außerdem streift er durch sein Viertel, unterhält sich mit diesem und jenem, kurz, eigentlich stellt er uns seine Welt dar. Das alles spielt sich an einem einzigen Tag ab, der nur durch Ortswechsel und Charlys "innere Uhr" strukturiert wird. Der logische Faden, der die Rahmenhandlung zusammenhält, ist meiner Meinung nach allerdings schon recht dünn. Das sieht man schon daran, dass das Ende des Buches völlig offen ist, und weder die Verhaftung der Mutter, noch deren Ausgang letztgültig geklärt wird. Das hat mich, ehrlich gesagt, doch frustriert! Und dabei mag ich eigentlich offene Enden.


    Es war einfach so durchsichtig, was der Autor vorhatte! Sicher, Charly ist charmant, und seine Gedanken überraschen, belustigen, und rühren bisweilen auch an. Aber, ehrlich gesagt, brauche ich dafür nicht dieses ganze Buch, nicht diese ein wenig bemühte Rahmenhandlung, um mich in das Seelenleben eines jungen Einwanderers hineinzuversetzen. Das hat ja schon Renaud mit seinen Songtexten genauso gut drauf gehabt! Und die sind kürzer...


    Ich finde, der durchaus charmante Inhalt hätte sich besser als Kolumne gemacht. Ein Zehnjähriger Einwanderer berichtet aus seinem Leben, fabuliert über dies und das. Dafür hätte es keinen "Roman" gebraucht! Zumal ich sowieso nicht verstehe, wie die - scheinbar illegale - Mutter von Charly erst nach 10 Jahren den Behörden aufgefallen sein soll...Und der Junge geht doch zur Schule! Er hat gute Noten, will sogar aufs "Collège". Also muss er doch Papiere haben? Schon allein für die Anmeldung an der Schule?? Das war mir alles ein wenig zu hoch.


    Ein wenig geärgert hat mich auch die Behauptung in Titel und Klappentext, Rimbaud sei der Lieblingsdichter des jungen Charly. Das stimmt so einfach nicht! Sicher, er mag generell Poesie und Philosophie. Doch das Buch von Rimbaud stiehlt (!) er erst an diesem Tag aus der Bibliothek, und hat vorher noch nie darin gelesen. Klappentext und Werbung hatten bei mir den Eindruck erweckt, Charly würde nun das ganze Buch über Rimbaud zitieren, oder Vergleiche zu ihm ziehen. Doch weit gefehlt! Erst der allerletzte Absatz des Buches ist ein Gedicht von Rimbaud.


    Doch, wie gesagt, will ich das Buch nicht ganz verreissen. Viele Gedanken Charlys haben mich wirklich schmunzeln lassen, besonders diejenigen zu Freundschaft und erster Liebe. Und ich habe viel Verständnis empfunden für seine etwas sprunghafte Art, hinter der sich nur mühsam das allgegenwärtige Label "ADHS" verbirgt... Gerade als ich jedoch begann, ihm wirklich nahe zu kommen, war das Buch schon zu Ende, und ließ mich mit seinen vielen offenen Fäden doch ein wenig im Regen stehen. Nun ja. Wenn man sich kurzweilig unterhalten lassen möchte...dann kann man dieses Buch wohl lesen.

    Der Untergang des Hauses Apostolous


    Ich gebe sonst nicht viel auf Vorschuss-Lorbeeren, oder hymnische Kritikerstimmen, die sich auf Buchumschlägen tummeln. Doch hier muss ich sie doch einmal erwähnen - weil sie fast ausnahmslos Recht haben. Die Rede ist von einem "großen Gesellschaftsroman", sowie einer literarischen Verwandtschaft zu Autoren wie Tom Wolfe oder Philip Roth. Die Leseprobe, sowie der Klappentext, ließen es zwar nicht vermuten - das chauvinistische Arschloch Hector schildert den Ablauf seiner eigenen Gartenparty - doch es stimmt. Es geht um viel mehr als diese Party, die durch eine Ohrfeige aus dem Ruder läuft. Es geht um zerbröselnde Fassaden, die mehr schlecht als recht aufrecht erhalten werden. Es geht um Partnerschaften, Loyalitäten, Vergangenheit, Drogen, Sex. Und nicht zuletzt um das Finden und zeitweise verbissene Festhalten an Lebensentwürfen.Und dies alles in einem Ton, der den oben zitierten Autoren zur Ehre gereicht hätte. Nur - bei Philip Roth ist die drastische Schilderung von Sexualität meist noch latent, weil tragisch, lustig. Hier aber ist alles bitterer Ernst.


    Eines gleich vorweg - anders als bei manchen Gesellschaftsromanen, geht es hier dem Autor scheinbar überhaupt nicht um die Verteilung von "Sympathiepunkten". Man "muss" die Personen nicht mögen, ja, man kann es fast gar nicht. Dafür sind sie alle viel zu verkorkst. (Fast) alle Männer, die übrigens zumeist griechische Einwanderer sind (das Ganze spielt in Australien), betrügen ihre Frauen, zumindest in Gedanken. Sie saufen wie die Löcher. Die Frauen zicken sich gegenseitig an, und kämpfen darum, wer zu wem hält oder halten sollte. Die Teenager sind orientierungslos, nehmen haufenweise Drogen, und sehen einer ungewissen Zukunft entgegen. Überhaupt spielen Drogen und Alkohol eine unverhältnismäßig große Rolle. Und dazu noch eine direkte, ja oft beinahe schmerzhaft drastische Ausdrucksweise. Man sieht, wahrlich kein Grund, von "schöner" Literatur im engeren Sinne zu reden. Und dennoch - ich kann gar nicht anders, das Buch als einen ziemlich großen Wurf zu bezeichnen. Es lässt mich nicht mehr los - gerade weil es mich durch seine Direktheit gezwungen hat, mich emotional mit dem Geschehen zu befassen.


    In vielerlei Hinsicht hat mich das Buch auch positiv überrascht. Sicher, es beginnt mit der schicksalhaften Gartenparty bei Hector und Aisha (deren Nachnamen man allerdings lange suchen muss - er wird meines Wissens nur ein einziges Mal, indirekt, in einem späteren Kapitel erwähnt). Aber - erster "Erzähler" des Buches ist Hector, der eher eine Beobachterrolle einnimmt. Denn derjenige, der das verzogene Gör Hugo ohrfeigt, ist nicht etwa Hector, sondern sein Cousin Harry. Das fand ich spannend gemacht. Durch Hectors Augen flanieren alle späteren Charaktere auf seinen Rasen, und in die Aufmerksamkeit des Lesers. Das ist zwar im ersten Moment recht viel auf einmal - aber als "Eröffnung" dennoch gelungen. Schließlich kann man zurückblättern, so viel man will.


    Zweite Überraschung. Laut Inhaltsverzeichnis ist das Buch in 8 Abschnitte aufgeteilt, die jeweils der Perspektive einer Person zugeordnet sind. Alle waren sie auf dieser Gartenparty - doch drehen sich die Kapitel gar nicht unmittelbar um das dortige Geschehen. Nein, pro Person wird chronologisch weiter erzählt, was sich in den Leben der Menschen NACH der Party so tut. Das war für mich teilweise spannend wie ein Puzzle! Es zwang den Leser zu erhöhter Aufmerksamkeit, und zog ihn mitten in das Geschehen. Ausgetüftelt gemacht!


    Streckenweise geriet die Ohrfeige, und das damit verbundene rechtliche und soziale Gerangel, sogar für mich in den Hintergrund. Es hätte im Grunde jede beliebige Rahmenhandlung sein können, an der sich dieses von Grund auf vermoderte Familienpanorama entfaltet. Doch auch das störte mich nicht weiter - es hätte der epischen Breite der Handlung auch gar nicht gut getan, sie zu sehr in die Nähe eines Justiz-Dramas zu führen.


    Dritter positiv überraschender Punkt. Der Autor verkneift es sich, sich zu sehr auf die Seite der Männer oder der Frauen zu schlagen. Ihm ist eine emotional ausgewogene Balancierung des Buches in dieser Hinsicht gelungen. Vier Kapitel handeln von Männern, und vier von Frauen. Zu beachten ist dabei, dass auch zwei Teenager und ein älterer Herr, Hectors Vater, darunter sind. Man sieht sehr schön, welch unterschiedliche Gewichtungen Männer und Frauen in ihren Leben so legen. Den Männern geht es viel eher um wirtschaftlichen Erfolg, um ihr Ansehen vor Kollegen und anderen Männern, sowie um ihre Virilität. Den Frauen geht es um den Zusammenhalt der Familie, und ihre Bindung an einen Partner, um wirkliche persönliche Erfüllung. Sehr schön herausgearbeitet auch die allgegenwärtige Unsicherheit der Teenager, in jeglicher Hinsicht! Das größte Problem für sie ist ihre sexuelle Ausrichtung, sowie die Unterscheidung zur Freundschaft. Und Manolis, der alte Mann, versucht verzweifelt, seinem Leben im Rückblick einen Sinn zu geben.


    Sicher ist dieses Buch nicht zum wohlfeilen Konsum "nebenher" geeignet. Es "sucht" sich sozusagen seine Leser. Man muss schon Geduld und ein "dickes Fell" mitbringen, sowie die Bereitschaft, nicht unbedingt unterhalten werden zu wollen. Dann entfaltet das Buch ein ungeheures Potenzial, das noch lange nachhallt. Es ist schlicht und ergreifend - leider - "wahr". Um es einmal mit den Worten des Autors zu sagen: Dieses Buch packt dich bei den Eiern, Mann. Und zwar gründlich.

    Da ist er wieder, der gute alte Peter James - und der gute alte Roy Grace. Ich habe beide herzlich willkommen geheißen, und mich schon nach kürzester Seitenzahl wieder wie zu Hause gefühlt. Peter James ist ein durch und durch routinierter und versierter Autor mit hohem Wiedererkennungswert, und dementsprechend hat er mit diesem 6. Fall um Roy Grace zwar kein bahnbrechendes, aber doch sehr ansprechendes Werk vorgelegt.


    Die Leseprobe hat mich ganz und gar nicht getäuscht. Es ist dieselbe Handschrift, dasselbe ausgetüftelte Vorgehen eines Autors, der nicht nur gerne schreibt, sondern auch die Bedürfnisse seiner Leser (vor allem seiner langjährigen) versteht. Er hebt sich vom (zumeist amerikanischen oder skandinavischen) Thriller-Mainstream durch eine wohltuend "britische" Schreibweise ab. Dies zeichnet sich aus durch eine weitestgehend erfreulich unblutige Handlung, kurze Szenen, die dennoch elegant und flüssig geschrieben sind, eine Prise Privatleben des Ermittlers, einen spürbaren Akzent auf konkrete Ermittlungsarbeit und Polizeihierarchien, und (was nun wirklich sehr britisch ist) eine deutliche Thematisierung von sozialen Unterschieden zwischen den verschiedenen, auftretenden Personen.


    Sicher, ein geübter Leser hat das "Rezept" für dieses Buch schnell durchschaut. In den ersten ca. 5 Kapiteln weiß man alles, worauf es in diesem Buch ankommen wird: ein Sexualstraftäter, der außerdem Schuh-Fetischist ist, eine Handlung, die sich auf zwei Zeitebenen bewegt (1997 und 2009), genau drei verdächtige Männer, die es alle gewesen sein könnten - und eine diskrete weitere Erforschung der Frage, was aus Roy Graces verschwundener Frau Sandy geworden sein könnte.


    Doch wie dieses Rezept umgesetzt wird, hat mich absolut in seinen Bann gezogen. Sicher erforderte der stetige Perspektiven- und Zeitwechsel hohe Konzentration. Doch das hat zu dieser Handlung gerade deshalb gut gepasst, weil es eben um die Erforschung der Parallelen zwischen den damaligen und den heutigen Fällen ging. Man fieberte gerade deshalb umso mehr mit Roy Grace, weil man seine damaligen Zweifel und Ermittlungsfortschritte und -fehler genau in der Gegenwart gespiegelt sah! Genial gemacht war auch die Taktik mit den drei verdächtigen Männern, die das ganze Buch hinweg aufgebaut und vom Autor begleitet werden. Einer ist ein merkwürdiger Taxifahrer mit allerlei Zwangsneurosen, einer ein gerade aus dem Gefängnis entlassener Kleinkrimineller, und einer erfolgreicher Geschäftsmann mit diversen Problemen. Alle drei werden gleich sorgfältig behandelt, und zu fast keiner Zeit kann der Leser ermessen, wer es denn nun gewesen ist. Die belastenden Hinweise werden bei jedem wohldosiert vom Autor verstreut. Und alle paar Kapitel schwankt man erneut - "der war's jetzt aber!" Doch nein. Zu früh gefreut. Das I-Tüpfelchen war dann für mich, dass sich die drei im ganzen Buch (unwissentlich!) immer wieder knapp über den Weg laufen, und so für Verwirrung bei den Ermittlern sorgen. Absolut genial!


    Der Spannungsbogen konnte diesmal die ganze Zeit über kontinuierlich gehalten werden, ja, er zog sogar auf den letzten 80 bis 50 Seiten noch einmal heftig an. Spätestens ab diesem Zeitpunkt war es für mich unmöglich, das Buch noch aus der Hand zu legen! Das Hin- und Herschalten zwischen den verschiedenen Perspektiven hat hier zusätzlich die Dramatik erhöht. Denn beinahe, aber auch nur beinahe, hätte alles am Ende schiefgehen können. Nur der inneren Stimme von Roy Grace, und dem Mut und der Tatkraft des letzten Opfers ist es zu verdanken, dass der Täter gefasst werden konnte. Ich habe mich besonders gefreut, dass hier einmal ein starkes, kein wehrloses Opfer gezeigt wurde.


    Zugegeben, ohne Fehler ist dieses Buch nicht. Die Fortführung der Frage um das Verschwinden von Sandy, Roy Graces damaliger Frau, ist doch ein wenig dünn ausgefallen. Hier hatte ich deutlich mehr erwartet. Für mich ist das nur dadurch erklärlich, dass eben die Lösung dieses Rätsels auf die gesamte (!) Reihe um Roy Grace angelegt ist. Insofern ist dieser Band dann wieder recht spannend, weil er eine ganz neue Seite an Sandy enthüllt, die der Leser bislang nicht kannte. Die Ehe war keineswegs perfekt, oh nein!


    Einen weiteren "Kratzer" erhält das Buch durch die Tatsache, dass Roy Grace hier im Wesentlichen nur als Bürohengst auftritt. Wenn Ermittlungen im "Draußen" stattfinden, werden sie zumeist von seinen Kollegen erledigt. Er selbst beruft "nur noch" Besprechungen ein, und leitet sie. Immerhin, es ist sein Gespür, das ihm gegen Ende den richtigen Weg weist.


    Ein anderer Vorablesen-Rezensent hat bereits auf wesentliche logische Fehler und Ungereimtheiten hingewiesen, die ich hier nur kurz anreißen möchte: einmal wird die erste Neu-Vergewaltigung um 12.55 Uhr entdeckt, ein andermal um 13.30 Uhr; einmal trug das damalige Opfer, Rachael Ryan, Lederstiefel, ein andermal Riemchen-Pumps; und es gibt diverse Rechtschreib-Fehler (einer davon sogar gleich auf dem rückseitigen Cover!). Eine zusätzliche logische Lücke habe ich auch noch entdeckt. In der Showdown-Phase zwischen dem letzten Opfer und dem Täter heißt es zunächst, der Täter wolle nur eben sein Nachtsichtgerät aus dem Wohnwagen holen. Doch im nächsten Absatz / Kapitel ist auf einmal eine ganze Stunde vergangen! Man braucht ja wohl keine Stunde, um ein Gerät aus einem Wagen zu holen!


    Dies alles macht mir eine Bewertung nach Punkten sehr, sehr schwer. Denn einerseits war ich von dem Buch vollkommen gefesselt, andererseits habe ich auch die erwähnten Macken klar wahrgenommen. Ich möchte dem Autor aber zugute halten wollen, dass diese Fehler womöglich durch mangelndes, unsorgfältiges Lektorat stehengeblieben sind. Dem eigentlichen Fall schaden sie nicht so sehr. Daher entscheide ich mich letztlich doch für die volle Punktzahl - mit einem gedachten, leisen "Minus" davor.

    Wo Sherlock Holmes draufsteht, ist auch Sherlock Holmes drin


    Nein, Etikettenschwindel kann man dem etablierten Schriftsteller und Drehbuchautoren Anthony Horowitz wahrlich nicht vorwerfen. Wie im Nachwort zu lesen ist, hat er über einen Zeitraum von 8 Jahren hinweg an diesem Projekt gebastelt, hat Originalquellen der viktorianischen Ära konsultiert, hat studiert und umgearbeitet, an diesem Buch gefeilt und gewerkelt. Und nicht zuletzt hat er die ausdrückliche Genehmigung des „Arthur Conan Doyle Literary Estate“ erhalten, was schon eine Auszeichnung in sich zu sein scheint.


    Alle, wirklich alle Kennzeichen eines typischen Sherlock-Holmes-Abenteuers sind hier enthalten, so dass sich „alte“ Leser sofort wie zu Hause fühlen: von der Erzählperspektive über das Setting, den Plot, diverse Charaktereigenschaften, übliche Komplikationen bis hin zum Londoner Wetter. Man kann nicht umhin zu denken, dass diese Geschichte genauso vom Meister selbst hätte geschrieben werden können. Nun ja, fast zumindest. Und mit der Begründung dieser Aussage sind wir schon mitten in der Handlung.


    In Klappentext und Werbung heißt es, dieser Fall sei anders, düsterer, irgendwie gefährlicher als alle vorher geschilderten Fälle. Und in der Tat, denkt der Leser, wie will es ein heutiger Autor begründen, dass er sich mehr als 80 Jahre nach dem Tod Conan Doyles an eine Fortsetzung wagt? Kann man das logisch hinkriegen, und gleichzeitig die Atmosphäre stimmig halten? Man kann. In einem prägnanten und stimmungsvollen Vorwort liefert der gute Dr. Watson, wie immer der ein wenig naive und dennoch treue Erzähler, die Begründung und Vorgeschichte zu diesem Buch gleich mit. Das ist wirklich nett gemacht: Der Fall sei damals so brisant gewesen, dass die Aufzeichnungen unter Verschluss gehalten werden mussten. Erst 100 Jahre nach seinem, Watsons, Tod seien sie aus dem Bankschließfach zu entnehmen und der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Lustigerweise, wenn man anhand der alten Geschichten nachrechnet, fallen diese 100 Jahre genau mit der tatsächlichen Veröffentlichung des Buches in unserer Zeit zusammen. Man merkt also, Autor und Verlag haben sich wirklich Gedanken gemacht. So konnte sowohl der damalige, viktorianische Erzählstil beibehalten, als auch die späte Veröffentlichung begründet werden. Es gibt so gut wie keine Stilbrüche, keine Diskontinuitäten (die wenigen Ausnahmen bespreche ich später), und doch ist der Fall auch aus heutiger Sicht lesbar.


    Wie üblich, wird ein unangemeldeter Besucher in die Wohnung in der Baker Street 221b geleitet. Ein angesehener Kunsthändler fühlt sich von einer ominösen Person verfolgt. Dieses Motiv hatte man schon öfter, und in der Tat wird der Faden bewährt weitergesponnen.


    Wie sich alsbald herausstellt, hat die Angelegenheit mit einem fehlgeschlagenen Kunsthandel und damit verbundenen Todesfällen in Boston zu tun. Doch das raffinierte an diesem Buch ist, dass ein zweiter Strang mit dieser vordergründigen Handlung verknüpft wird. Der angebliche Verfolger wird alsbald tot aufgefunden, und kurz darauf verschwindet ein Straßenjunge, der zu seiner Observierung abgestellt war. Sherlock Holmes ist bald klar, dass er – ganz unerwartet – auf viel mehr gestoßen ist als diesen verunglückten Kunsthandel. Die weiteren Nachforschungen stellt er auf eigene Gefahr an, gerät in diverse, teils tödliche, Fallen, muss mehrfach entkommen, und deckt schließlich in einem packenden Schlussteil gemeinsam mit Watson die wahren Hintergründe auf. Und die sind, so viel sei verraten, für die damalige Zeit wirklich ungeheuerlich. Wir in der heutigen Zeit sind solche Verbrechen, solche Manöver, solche Widerwärtigkeiten – leider – gewöhnt. Daher mutet es kurios, aber passend an, dass Watson schon damals gemeint haben soll, in 100 Jahren könne viel eher über diese Dinge gesprochen werden…


    Doch nun zu den Besonderheiten dieses Buches. Die Handlung ist spannend, ja, genau so wie sie in einem solchen Abenteuer sein soll. Watson ist naiv, Holmes brillant, viele Zeugen verkniffen, und die Polizei natürlich zu dämlich. Doch man merkt unbedingt, dass hier ein Drehbuchschreiber am Werk war! Anthony Horowitz hat u.a. Drehbücher für die beliebten „Inspector Barnaby“-Krimis verfasst, und das hat auf seinen Schreibstil ungemein abgefärbt.


    Fast hat man den Eindruck, das Buch bestehe nur aus Dialogen. Zumindest aber zu mehr als zwei Dritteln. Glücklicherweise hat er sich aber an den damaligen Sprachduktus gehalten, und zum großen Teil auf lästige sogenannte „Redebegleitsätze“ verzichtet. Erzählende, berichtende Abschnitte gibt es immer nur dort, wo es gerade passt: bei einer Kutschfahrt, einer Verfolgung, oder am Anfang und Ende eines Kapitels. Überhaupt muss ich zu den Kapitel-Enden anmerken, dass sie immer mit einem Knalleffekt, meist sogar mit einem Cliffhanger, aufwarten. Die Kapitel sind genau portioniert geschrieben, und immer auf einen Effekt hin. Das erzeugt einen nicht unerheblichen Sog nach vorne.


    Die Schreibweise, und das Voranschreiten des abwechslungsreichen Plots, sind schon sehr „szenisch“, so als seien sie fürs Fernsehen verfasst worden. In der Tat kann ich mir eine Verfilmung gut vorstellen. Es gibt immer, hübsch aufgeteilt, genau eine Komplikation, eine neue Entwicklung pro Kapitel. Immer genau eine offene Frage im letzten Satz. Und mindestens ein Punkt, den Watson nicht versteht. Das würzt und belebt.


    Gewundert hat mich ein wenig, dass der sonst immer so verhasste Inspector Lestrade in diesem Buch vergleichsweise gut wegkommt. Er freundet sich fast mit Watson an, während Holmes im Gefängnis sitzt. Und ausnahmsweise ist er am Ende rechtzeitig zur Stelle.


    Sehr lustig fand ich, wie etliche Kennzeichen der damaligen Zeit, die sich heute ganz anders darstellen, veralbert werden. Der Auftraggeber von Holmes ist Kunsthändler, und es ist schon sehr witzig zu verfolgen, welche Bilder er warum vertreibt, was gerade „en vogue“ ist, und welche Maler damals noch völlig unterschätzt werden. So kauft der Händler nur widerstrebend einige Werke von Whistler, und meint, davon werde man ja seekrank… (Heute ist Whistler ein Vermögen wert.) Und über die französischen Maler, die damals gerade erst bekannt wurden, sagt der Händler, ihre Bilder seien ja wenig mehr als „Impressionen“ – genau der Titel, den die ganze Kunstrichtung dann auch bekommen hat! Ich habe schon sehr geschmunzelt. Ferner bezieht sich der Roman auch auf etliche Entwicklungen aus Technik und Kultur, sowie ganz gegen Ende Methoden der Erpressung, die heute verbreitet sind – damals aber noch misstrauisch beäugt wurden. Mich hat beeindruckt, wie viele Gedanken sich der Autor um die historische Einordnung gemacht hat!


    Was mich aber wirklich stutzen lässt, ist oftmals die Sprache – wobei ich gerne zugeben will, dass dies der Übersetzung geschuldet sein mag. Manches Mal sind mir einige Sätze zu flapsig für die damalige Zeit; hier hätte ich gerne den Originaltext studiert. Ein definitiver Stilbruch ist auch enthalten: An einer Stelle sagt Watson, Holmes arbeite wie ein „Roboter“. Ähem, Roboter gab es 1890 wohl kaum… der Begriff wurde erst Mitte des letzten Jahrhunderts gebräuchlich.


    Und ein paar offensichtliche Übersetzungsmacken möchte ich auch erwähnen. In London gibt es eine berühmte Straße, „The Strand“. Dies dann im Deutschen nicht als Eigennamen kenntlich zu machen, und einfach mit deutschem Artikel „der Strand“ stehen zu lassen, halte ich für sehr, sehr unglücklich! „Die Kutsche hielt am Strand“… mitten in London?? Das mindeste wäre doch wohl gewesen, das Wort „Strand“ kursiv zu setzen, so dass dem Leser klar wird, dass es sich um einen Eigennamen handelt. Und dieser Fehler kommt drei Mal (!) im ganzen Buch vor!


    Mehrere Redewendungen wurden wörtlich übersetzt, die es im Deutschen so nicht gibt. Wie gegen Anfang die „Fantasien bei Mondlicht“. Hier hätte doch wohl eine sinngemäße Übersetzung bessere Dienste geleistet! Und erst der völlig unverständliche Ausruf „Das Wild ist auf.“ Wie bitte?! Das Original lautete wohl „The game is up“… Es stimmt zwar, dass „game“ auch mit „Wild“ übersetzt werden kann, aber das macht doch hier überhaupt keinen Sinn! Es hätte meiner Meinung nach heißen müssen „Die Jagd beginnt“ oder „Das Spiel geht los“ – also auch hier wäre eine eher figurative Übersetzung die bessere gewesen.


    Insgesamt gesehen, ist es mir schwer gefallen, mich zwischen acht und zehn Punkten für das Buch zu entscheiden. Atmosphärisch ist es absolut top, keine Frage, und auch die Spannung lässt kaum Wünsche offen. Dennoch, die beschriebenen sprachlichen Macken haben mein Lesevergnügen ein wenig getrübt. Auch hatte ich nicht erwartet, dass der Fall ganz nach bewährtem Strickmuster gelöst wird. Ich hätte eher eine Verfremdung oder Neudichtung des Sherlock-Holmes-Mythos erwartet. Doch ich will nicht zu schwarz malen. Immerhin hatte ich das Buch in kürzester Zeit gelesen, und habe mich prächtig an frühere Leseerfahrungen erinnert gefühlt. Ich entscheide mich also mit relativ gutem Gewissen für acht Punkte.