Berlin, Berlin - dein Herz kennt keine Mauern...
Wissen Sie noch, wie das war, wenn man sich verliebt hatte? Es war ein Zustand ein wenig jenseits der Rationalität. Sicher kann man sich erinnern, welche Momente einen ergriffen und bezaubert haben. Aber letztlich "erklären" lässt sich Verliebtheit nicht. Mit diesem Buch nun geht es mir ganz ähnlich. Ab einem bestimmten Punkt war ich einfach nur noch "verliebt", und habe mich von der ganzen Atmosphäre mitreißen lassen. Von Dingen wie Perfektion oder Anspruch will ich nicht einmal reden. Aber von einer Autorin und von Charakteren, die das Herz am sprichwörtlichen "rechten Fleck" haben.
Ich habe lange überlegt, was ich als Hauptgrund für meine "Verliebtheit" bezeichnen würde. Ich denke, es ist die - für mich - perfekt ausbalancierte Absicht und "Botschaft" des Buches. Es vereint in sich sowohl die Geschichte zweier Familien, diverse amouröse Verstrickungen und verhinderte Lebensentwürfe, deutsche Zeitgeschichte, sowie die Geschichte eines berühmten Gebäudes, nämlich des Hauses Torstraße 1 in Berlin. Keiner dieser Anteile bekommt mehr Raum als die anderen, und keiner wird vernachlässigt. Das fand ich schon ein großes Kunststück!
Schon allein die Rahmenhandlung hat mir wunderbar gefallen. Das Buch wird nämlich eingeleitet (und abgeschlossen!) mit Zitaten aus "Cabaret", dem berühmten Film, der ja ebenfalls in Berlin spielt, und Zeitgeschichte behandelt. "Willkommen, bienvenue, welcome", in der Tat! Ich habe Liza Minnelli förmlich vor mir gesehen, wie sie durch diese "Revue" leitet. Womit ich die Handlung keineswegs abwerten möchte! Für mich hat das einfach nur betont, dass die Autorin ein Porträt und Panorama zeichnen möchte, und sich einer Wertung weitestgehend enthält. Genau der richtige Ansatz! Ich gestehe, ich habe auch ein oder zwei Tränchen verdrückt. Denn die Rahmenhandlung, das erste und letzte Kapitel, stellt ja dar, wie Elsa und Bernhard, die Kinder von Vicky und Wilhelm, sich nach langer Zeit wieder finden. Und zwar - wie könnte es anders sein - in "ihrem" Haus, der Torstraße 1...
Ich mag die Handlung einfach nicht wiederkäuen. Das würde für mich den Zauber des Buches zerstören. Es reicht völlig aus, zwei Sätze hierzu zu schreiben. Vicky und Wilhelm lernen sich im Berlin des Jahres 1929 kennen, und zwar anlässlich der Eröffnung des (jüdischen) Kaufhauses Jonass. Ihre Geschichte, die wechselhafte Geschichte des Gebäudes, und die Wirren ihrer beider Familien, ziehen sich (mit diversen Sprüngen) durch das ganze Buch, bis in die Gegenwart hinein.
Ich muss wirklich sagen, dass Berlin für mich so eine Art "heimlicher Held" des Buches ist. Man merkt auf jeder Seite, dass die Autorin selber aus Berlin stammt und dort auch lebt. Das Buch "atmet" Berlin! Das reicht von politischen Stimmungen, zeitgeschichtlichen Episoden, bekannten Schlagern, Dialekt-Passagen, Straßennamen, Lokalen bis hin zu Kleidungsstücken. Det fand ick dufte!
Beeindruckt hat mich außerdem die schriftstellerische Technik. Ich würde sie fast ein wenig wie "Korbflechten" bezeichnen. Man musste sich schon ein wenig konzentrieren beim Lesen; gefällige Unterhaltung war dies gewiss nicht...! Die Kapitel handeln immer abwechselnd von einer der beiden Familien. Und innerhalb der Kapitel wechseln auch die Perspektiven der Personen. Mal von Mutter zu Tochter, oder von Sohn zu Vater. Zeitliche Sprünge von geschätzten 10 Jahren liegen zwischen den einzelnen Kapiteln, was zusätzliche Denkarbeit erforderte. Doch gerade das habe ich genossen. Ich mag es, wenn ich als Leser an der Sinnkonstruktion beteiligt werde! Nur ganz zum Ende hin hatte ich das Gefühl, dass ein paar Fäden offen gelassen wurden. Doch das führt bei mir zu keinem Punktabzug. Das Buch war insgesamt reichhaltig genug! Ich habe einen grandiosen Einblick erhalten in all die politischen Wirren, die sich in Berlin abgespielt haben - über die Nazis, die Sozis, bis hin zum Heute. Und das Merkwürdige war, ich habe (fast) alle Beteiligten gut verstehen können.
Abschließend möchte ich noch einmal meine persönlichen Vermutungen überdenken, die ich nach dem Überfliegen der Leseprobe hatte. Buddenbrooks? Nee, det war et nich. Schon eher "Vom Winde verweht". Doch, Vicky hat mich ein wenig an Scarlett O'Hara erinnert - halsstarrig, leidenschaftlich, heiratet halb aus Berechnung einen Anderen - und hängt ihr ganzes Leben an einem Haus, der Torstraße 1... Ach, ich kann und will meine Verzauberung nicht letztlich erklären. Aber ich will das Buch unbedingt weiterempfehlen! Es ist für viele Gruppen von Lesern geeignet: sowohl solche, die sich für deutsche Geschichte interessieren, als auch für diejenigen, die Familiendramen und Liebesgeschichten mögen. Von mir völlig verdient die volle Punktzahl.