Die Hauptstadt von Robert Menasse ist ein Roman, den man eigentlich zweimal lesen müsste. Er verdient die doppelte Lektüre, denn erst, wenn man ihn beendet hat, weiß man, wie man die Facetten zusammensetzen muss, nein darf. Kernthema ist die Europäische Union.
Inhalt
Die Handlung ist verzwickt durch die Vielzahl der Romanprotagonisten, aber mit ein wenig Aufmerksamkeit dennoch leicht zu verstehen. Ein Mord geschieht im Hotel Atlas in Brüssel. Der zuständige Kriminalbeamte wird von dem Fall alsbald abgezogen, da höhere Interessen bestehen, mit anderen Worten, der Mord wird unterschlagen und vertuscht. Es gibt keine Leiche, keine Aufzeichnungen, kein rein gar nichts. Kommissar Brunfaut forscht nach. Das ist die Rahmenhandlung, wenn man so will, die man als Leser jedoch immer wieder aus dem Blick und dem Gedächtnis verliert, weil so viele andere Abläufe passieren. Da wäre eben die Europäische Kommission, deren Kulturabteilung ein anstehendes Jubiläum feiern möchte. Ein Schwein rennt durch Brüssel und bekommt mediale Aufmerskamkeit. Schweinefabrikanten haben eine Lobby gegründet, weil sie die Schweinsohren nach China verkaufen wollen. Das ist nicht EU-konform. In den Gremien und Untergremien der EU wird um Kompetenzen, um Jobs, um Posten und um Einfluß gerangelt. Es geht um Korruption, Vertuschung, Gemauschel..... Und letztendlich geht es um die Frage, was eigentlich der Gedanke eines vereinten Europas ist. Worauf ist Europa begründet? Hat der Nationalismus ausgedient, kann man ihn überwinden, hat die Europäische Idee Bestand, gar eine Zukunft und inwiefern spielt die blutige europäische Vergangenheit eine Rolle in dem Ganzen? Drittes Resümee: bei aller Gewitzheit und Ironie steckt doch ein ernstes Thema hinter allem!
Meine Meinung
Der Autor fabrizierte mit diesem Roman eine hervorragende Persiflage über aufgeblasenen, unnötigen und kostspieligen Bürokratismus sowie Kompetenzstreitigkeiten, die mit jeder Zeile amüsant zu lesen sind. Der Roman ist spritzig, lehrreich, manchmal böse. Ich musste oft lachen, manchesmal brüllen. Und irgendwann wollte ich beim Lesen des Romans alle in der EU-Kommission entlassen.
Menasses Protagonisten sind lebendig und agil, karrieregeil, wunderbar skizziert, obwohl sie dem Plot untergeordnet sind, sie sind skurril, normal, seltsam, depressiv, aufgeblasen, eingebildet, ängstlich, von ihrer Bedeutung durchdrungen und sind letztlich doch nur arme Schweine, die bei Bedarf durchs Dorf getrieben werden, um im Schweinebild zu bleiben.
Der Schluss lässt einige lose Enden übrig. Das macht zunächst etwas ratlos, aber dann ergibt es durchaus Sinn. Wie soll es keine losen Enden geben in einem Betrieb, der einst aus einer hehren Idee heraus entstanden ist, aber dann überbürokratisiert einfach nur ins Leere läuft, wie sollte dabei jedes Quäntchen einen Sinn ergeben und ein rationales Plätzchen finden. Sobald die Medien nicht mehr darüber berichten, werden die Ereignisse uninteressant, einfach vergessen, haben nie existiert oder werden zur Not übertüncht mit einem Staatsbegräbnis. Von mir eine klare Leseempfehlung. Vielen Dank Robert Menasse für dieses Lesevergnügen.9 Punkte