Beiträge von Harry Popow

    Ein politisches Tagebuch von Jo Menschenfreund


    „Mein Leben in der Piratenpartei 2012“


    Buchtipp von Harry Popow


    Jeder hat seine eigene Sicht, aber nicht jeder sieht etwas, das besagt ein polnischer Aphorismus. Die Politik macht es uns vor, jeder quasselt auf Teufel komm raus, mehr oder weniger substanzreich. Meist weniger. Unsere Zeit aber benötigt Sehende, Nachdenkliche, Handelnde, kritische Sichten. Licht ins Dunkel zu bringen, Klartext zu sprechen - das ist eine Frage des Überlebens geworden auf diesem Planeten Erde, eine Frage des Charakters, des zielgerichteten politischen Kampfes. So wie das in linksgerichteten fortschrittlichen Zeitungen, in online-Beiträgen und vereinzelt in Parteien geschieht. Das neueste erfeuliche Beispiel: Das 461 Seiten umfassende Buch von Jo Menschenfreund (Pseudonym) mit dem Titel „Mein Leben in der Piratenpartei 2012“.


    Jo Menschenfreund ist Gründer der AG Friedenspolitik und zum Zeitpunkt der Erstellung des Buches einer der für drei Monate gewählten Sprecher des basisdemokratisch organisierten „Sozial Progressiven Piratenkreises“ innerhalb der Piratenpartei. Zu seinem Buch meint er, es sei keine vollständige Geschichte der Piratenpartei, er beschreibe lediglich Vorgänge und Erlebnisse „aus der subjektiven Sicht eines engagierten Aktivisten…“


    Doch Skepsis ist angebracht. Da sollte man sich schon angesichts der bisherigen politischen Unterprofilierung dieser anfangs in der Gunst der Wähler nach oben geschnellten Piratenpartei fragen, welche Sicht auf die Partei und auf die Welt Jo Menschenfreund hat? Welche Vorstöße unternimmt der Autor, um sich und damit auch die Partei fester zu positionieren? Welche Spuren nimmt er auf?


    Ins Auge fällt, mit wie vielen Themen sich der Autor auseinandersetzt. Da geht es laut Inhaltsverzeichnis u.a. um das Innenleben der Piratenpartei, um Basisdemokratie, um Rassismus, um das Grundgesetz, um die Manipulation durch die Medien, um die Bankenkrise, um die Antideutschen und deren versuchtes Eindringen in die Piratenpartei, um Nazis, um Friedenspolitik, um Terrorismus, um Menschenrechte, um Drohnen, um Verschwörungstheorien. Es geht um Erwartungen, Hoffnungen, Initiativen, Auseinandersetzungen, Enttäuschungen und Aussichten. Drei der wesentlichen Themenkomplexe möchte der Leser besonders ins Auge fassen: Krieg, Europa und Antiimperialismus.



    Auf den insgesamt 461 Seiten finden sich etwa 222 Vokabeln zum Krieg. Will man Wörter suchen, die die Ursachen von Kriegen markieren, dann gibt es fünfmal die Bezeichnung Monopol, 30 mal das Wort Imperialismus (das man in den bürgerlichen Medien kaum findet), dreimal das Wort Ausbeutung, einmal die Vokabel Mehrwert. Nach solchen Wörtern wie Privateigentum, Eigentumsverhältnisse und Profitmaximierung sucht man allerdings vergeblich.


    Bereits im Vorwort positioniert sich der Autor: Er wolle eine politische Programmatik mithelfen zu entwickeln, „die eine moderne Friedenspolitik im 21. Jahrhundert dem Konzept des ´Recht des Stärkeren` aus der Zeit
    als wir noch in Höhlen wohnten, gegenüber stellt.“ Braucht er dazu Mut? Er beantwortet sich die Frage selbst: Nur wenige würden sich trauen, öffentlich auszusprechen was sie denken, wurde dies doch über Jahrzehnte als "kommunistisch" oder "sozialistisch", als "Spinnerei" oder "weltfremd" bezeichnet, bzw. besonders neuerdings als „antisemitisch“, „rechts“ oder „Querfront“.



    Und so nimmt er kein Blatt vor den Mund, die Enttäuschungen nach dem Zusammenbruch des Ostblocks folgendermaßen zu charakterisieren: Es hatten „viele Menschen die Hoffnung, dass jetzt eine Zeit des Friedens, der Abrüstung beginnen würde. Und was haben wir erreicht? Atomwaffen, netterweise jetzt „Mini Nukes“ genannt sind nicht mehr Abschreckungswaffen, sondern Teil des normalen Kriegsszenarios der Nato. Es wird mehr statt weniger in Rüstung in der westlichen Welt ausgegeben. Wir haben mehr Kriege als jemals vorher. Und wir stehen heute vielleicht näher vor einem 3. Weltkrieg als zur Zeit des Eisernen Vorhangs und der gegenseitigen Abschreckung.“ (S.111)



    Jo belegt diese Aussage zusammenfassend: „Alle Welt spricht von den ca. 3.000 Toten durch den Terroranschlag von 9/11. Und die toten US-Soldaten aus dem Irak- und Afghanistankrieg werden einzeln als Helden geehrt. Schon viel weniger denken an die über 1,75 Millionen nicht US-Bürger, die durch die Kriege zu Tode kamen. Noch weit weniger reden von den tausenden, vielleicht zehntausenden von missgebildeten Kinder durch Uranmunition 619. Und niemand spricht von den Millionen, die körperlich und / oder seelisch schwerstverletzt wurden, die ihr Leben lang an der Bürde eines Krieges zu tragen haben. Und wieder hört man in Deutschland, dass Krieg ´auch mal notwendig sei´. Man hört, dass es einen ´gerechten Krieg´ gäbe. Man erklärt uns, dass Deutschland ´seinen Beitrag leisten müsse.´ Man erklärt uns, dass wir den Menschen helfen müssten ´sich zu befreien´. Was nichts anderes bedeuten soll, als sich unseren Idealen, unserem Weltbild anzupassen. Was automatisch bedeutet, dass wir Krieg als ewigen Begleiter akzeptieren sollen.“ (S. 448)



    Der Autor und Pirat weiß ebenso wie Millionen andere Bürger: Enttäuschungen türmen sich nur dann auf, wenn sie sich aus Illusionen nähren, aus Gläubigkeit und politischem Unwissen, in Verkennung der wahren Ursachen für imperialistische Machtansprüche. So ist das auch mit den anfänglichen Jubelschreien zur EU. Jo meint, die Piraten würden ja sagen zur Europäischen Union, wollen aber anmerken, die EU-Einheit solle als langfristiges, basidemokratisch vorbereitetes Projekt beginnen. Aber vollkommen unabhängig von der derzeitigen Geldordnungs- und Finanzkrise. Dem widerspreche, das legt der Autor dar, dass es Profiteure der heutigen Krise gebe. Und diese sollten zuallererst herangezogen werden. Wörtlich: „Wenn diese Unternehmen ihre Last dem Staat, also jedem einzelnen Bürger, aufbürden, müssen Sie auch ihr Eigentumsrecht abgeben.“ (S. 109) Auf Seite 110 ergänzt er: „Wir dürfen uns nicht wegen einer Krise, in die uns die Elite der Gesellschaft manövriert hat, dazu bringen lassen, überhastet und übereilt in eine neue Gesellschaftsordnung einzutreten, in der noch stärker Eliten das Sagen haben und Einfluss nehmen werden. Wodurch mehr Sprengstoff entsteht, als wir derzeit durch die Finanzkrise angehäuft sehen.“



    Was unternimmt ein vernunftbegabtes Wesen, um sich eine eigene Orientierung zu geben, um sich weitgehend unabhängig von den Nebelschwaden verbreitenden bürgerlichen Medien zu machen? Jo Menschenfreund tut das, indem er sich die Frage stellt, ob er sich einen Antiimperialisten nennen könne. Auf Seite S.198/199 schreibt er: „Nachdem man mich auf Twitter einen ´Piraten-Ober-Antiimperialisten´ genannt und aus dem Grund geblockt hatte, wollte ich der Sache nachgehen, was denn einen ´Antiimperialisten´ heutzutage überhaupt ausmachte. Und so kaufte ich mir das Büchlein ´Mit Kapitalismus ist kein Frieden zu machen´ der Linksjugend Hamburg, um mich auf den neusten Stand zu bringen.“ (Mit Kapitalismus ist kein Frieden zu machen, Christine Buchholz/Stefan Ziefle ed.al, www.papyrossa.de ISBN 978-3-89483-504-0)



    In der Einleitung des Büchleins werde darauf hingewiesen, so Jo Menschenfreund, wie die Konsequenzen, die aus dem zweiten Weltkrieg gezogen worden waren, nämlich „NIE WIEDER KRIEG“ und „NIE MEHR FASCHISMUS“ längst der so genannten „Realpolitik“ geopfert wurde. Krieg sei wieder zu einem Mittel der Interessenvertretung geworden, nur klüger verpackt in Rechtfertigungen. „Und selbst wenn diese sich nachträglich als Lügen herausstellen, funktioniert es beim nächsten Krieg wieder wie immer.“



    Auf Seite 201 zieht der Pirat Jo Menschenfreund für sich das Fazit: Wer sich mit Friedenspolitik beschäftige, komme um das Thema Imperialismus und Antiimperialismus und auch die Frage einer linken Ideologie nicht herum. Für ihn erschließe sich, dass er wohl tatsächlich ein Antiimperialist sei. Auf Seite 403 fährt er fort: „Aktive Friedenspolitik im oben dargelegten Sinn ist m.E. die einzige Chance, die die Menschheit hat, um mit steigenden Bevölkerungszahlen und schwindenden Ressourcen, sich zu einer friedlichen und nachhaltig wirtschaftenden Gesellschaft zu entwickeln. Wenn der Wert der menschlichen Arbeit und das Engagement der Menschen für Rüstung und Kriege verschleudert wird, ist die Wahrscheinlichkeit sehr groß, dass der nächste Jahrhundertwechsel einen großen Teil der Menschheit wieder in Höhlen leben sieht. Nachdem Millionen und Milliarden qualvoll zu Tode kamen.“



    Das Fazit des Rezensenten: „Mein Leben in der Piratenpartei 2012“ sollte ein Lehrbuch sein, wie man nicht nur „basisdemokratisch“ mitspielt in der Piratenpartei, sondern ernsthaft darum ringt, seine eigene politische Position zu erlangen und zu festigen. Die Vielfalt der Interessengebiete, die der Autor ins Spiel bringt und sich damit auseinandersetzt, zeugt von einer hohen kulturellen und politischen Bildung, von einem erstrebenswerten Drang, über sich selbst hinauszuwachsen, durch eifriges Suchen ein Sehender und aktiv Handelnder zu sein.



    …doch nicht jeder sieht etwas? Jo Menschenfreund gehört nicht zu denen, die sich verschaukeln lassen.



    „Mein Leben in der Piratenpartei 2012“ von Jo Menschenfreund, epubli-Verlagsgruppe Holtzbrinck, 27,90 Euro, Hardcover, DIN A5 quer, 464 Seiten, Erscheinungsdatum: 31.12.2012


    Blog des Autors: http://jomenschenfreund.blogspot.com


    Erstveröffentlichung der Rezension in der Neuen Rheinischen Zeitung


    Mehr über den Rezensenten: http://cleo-schreiber.blogspot.com

    Krieg und Frieden
    Wie die Auslandseinsätze der Bundeswehr Deutschland verändern


    „Heimatdiskurs“


    Buchtipp von Harry Popow


    Mächtig in der Zwickmühle stecken sie - die Bundesregierung und die im Hintergrund strippenziehenden Kapitalmächtigen. Sie müssen einen Zweifrontenkrieg führen. Zum einen ziehen sie nach wie vor unter dem Deckmantel der „Aufbauhilfe“ weiterhin eine Spur der Gewalt durch Afghanistan – zum anderen sind sie in Nöten, an der „Heimatfront“ wortreich und unter aller Ausschöpfung des Verdummungsarsenals vor der eigenen Bevölkerung die Kriegstaten zu legitimieren. Mit welcher Raffinesse das geschieht, dazu gibt es nunmehr ein Buch, das versucht, Leuchtraketen in den Diskurs- und Mediennebel zu schießen. Der Titel: „Heimatdiskurs“, herausgegeben von Michael Daxner und Hannah Neumann.


    „Erst Kosovo, dann Afghanistan – deutsche Soldaten sind im Ausland stationiert, Deutschland ist wieder im Krieg“, so heißt es im Klappentext. Gleich der erste Satz in der Einleitung geht so: Hoffentlich kommen wir mit dem Buch nicht zu spät. Behauptet wird, die Einsätze würden nicht nur die Rolle Deutschlands in der Weltpolitik, sondern vor allem die Wahrnehmung der Nation von sich selbst verändern. Zwanzig Autoren bemühen sich in 10 Aufsätzen und auf 337 Seiten um die Empathie (die Fähigkeit, andere zu verstehen) „für die Intervenierten und das Verständnis für diejenigen Intervenierenden, die nicht einfach blind einem Interventionsauftrag folgen“. (S. 10)


    Wichtig ist, welche Ursachen die Autoren für die Verschleierungs- und Legitimationspolitik der Bundesrepublik offenlegen. So wird auf Seite 309 unterstrichen, die Bundesrepublik befinde sich in einer Machtposition und sei „somit daran interessiert, diese Macht zu erhalten“. Das Dilemma zeigt sich in einem weiteren Satz, in dem festgestellt wird, dass die deutsche Bevölkerung Krieg grundsätzlich ablehnend gegenübersteht. Auf die Konstruktion einer permanenten Bedrohungssituation eingehend – die Gegenmaßnahmen erfordere - ,verweisen die Autoren auf den „Profit eines lukrativen Geschäftzweiges, den man Terrorismusindustrie nennen könne“. (S. 255) Weiter auf Seite 266 die folgende Äußerung: Eine nüchterne Evaluation (Analyse, Bewertung) „des Terrorismus, seiner Ursachen und seiner Akteure wäre deshalb ebenso vonnöten wie eine klare Vorstellung davon zu gewinnen, wo westliche Politik selbst Gewalt eskaliert“.


    Mit diesen kurzen Anmerkungen ist noch nicht der wahre Hintergrund des militärischen Einsatzes – sprich Krieg – in Afghanistan erhellt. Mögen dabei viele Momente der Begründung ins Spiel gebracht werden, so kommen wir den Ursachen durch ein Zitat von Jürgen Todenhöfer etwas näher: „Den Westen aber interessieren die Menschen (…) nicht wirklich. (…) Öl und das Machtspiel im mittleren Osten sind ihm wichtiger.“ (S. 238)


    Auf den Punkt bringt es Patrick Köbele in der „jungen welt“ vom 10.01.2013, indem er den bürgerlichen Staat als eine Form der Herrschaftsausübung des Kapitals, eine Form des Kapitalismus darstellt. Er stellt fest, was nicht neu ist, dass der bürgerliche Staat einen permanenten Widerspruch darstelle. „Einerseits hat er seinen Klassenauftrag, und andererseits versucht er zu vermitteln, daß er quasi »neutral« über diesem Auftrag steht. Und es gibt Institutionen und Personen, die für diesen Spagat stehen, manche meinen es sogar ehrlich und handeln entsprechend. Deshalb ist es gut und wichtig, an diesem Widerspruch anzusetzen.“


    Deshalb ist es gut, wenn die Autoren von „Heimatdiskurs“ den Mechanismus der Verschleierung von neuen Machtansprüchen offen und kritisch hinterfragen, den Spagat zwischen militaristischer Außenpolitik und dem Bemühen, das deutsche Volk glauben zu lassen, es gehe um die Freiheit und Sicherheit der Deutschen.


    Was steckt hinter dem Begriff Heimatdiskurs? Auf Seite 29 wird dazu eine Begriffsbestimmung gegeben: „Heimatdiskurs bezeichnet die Summe aller diskursiven Praktiken und Strategien, die sich mit der Legitimation, Anerkennung und Bewertung von Politik und Truppeneinsatz außerhalb des nationalen Territoriums befassen.“ (S. 29) „Heimatdiskurs“, das sei zunächst eine deutsche Angelegenheit „und er ist immer auch eine der intervenierten Gesellschaften, also besonders Afghanistans (…)“. (S. 65) Zum Begriff Interventionen wird auf Seite 34 festgehalten: Das Nichteinmischungsgebot werde ausgehebelt und Interventionen werden moralisch begründet und normativ legitimiert. Im Vordergrund stünden „Mechanismen globaler – und damit lokaler – Konfliktregulierung (…)“. (S. 35)


    Zur Legitimation der Kriegsführung gehört zunächst die Beschreibung des Feindbildes. So frage die Analyse, welche Bedeutung eine Verkürzung der Taliban „auf radikal-islamische Akteure“ habe. Man komme zu dem Schluss, „dass eine Darstellung der Taliban als Terroristen, als Tiere, die es zu jagen gilt, ihnen den Subjektstatus versagt“. Und mit Tieren verhandelt man nicht, schon gar nicht auf Augenhöhe. (S. 112) Auf den Seiten 96-97 finden wir folgende Methaphern zur Bezeichnung der „Feinde“: Taliban als Bazillus, als Gotteskrieger, als fundamentalistische Teufel, als Schattenreich, als Räuberbanden, um nur einige zu nennen. Hinzu kommt die kulturelle Abwertung der Afghanen als „Stamm“ - eine Bezeichnung aus der Kolonialzeit. Sie will besagen, die afghanische Gesellschaft habe sich nicht weiterentwickelt. (S. 101) Demgegenüber entstehe „das Bild vermeintlich überlegener westlicher Intervenierender, welche/r die AfghanInnen entweder beschützen, oder aus ihrer Unmündigkeit befreien müssen,“ so die Autoren. (S. 103) Auch internationales Völkerrecht gilt nicht für Tiere. (S. 109) Diese Dehumanisierung stehe im Zeichen bester Kriegs- und Mobilisierungsrhetorik. (S. 84)


    Auf den Seiten 244-262 begründen die Autoren, „warum Terrorismus keine existenzielle Bedrohung für westliche Staaten darstellt“. (S. 244) Ohne ihn zu verharmlosen, sei „das statistische Risiko, Opfer eines Anschlags zu werden, sehr niedrig.“ (S. 257). „Indem dem Terrorismus eine solche Bedeutung zugeschrieben wurde, wurde die politische Sache der Islamisten unglaublich aufgewertet“, so die Meinung der Autoren. Ein großes Risiko des Terrorismus: Er führe zur „Versuchung der Herrschenden, ihre Macht auf Kosten der Freiheit im Namen der Sicherheit auszubauen“. (S. 262) Schlußfolgernd für die Außenpolitik halten die Autoren fest: Es mache keinen Sinn, „die Welt nach eigenem Vorbild gestalten zu wollen (…). (S. 267)


    Schützenhilfe in der Berichterstattung über angebliche Bedrohungen durch den internationalen Terrorismus leisten zweifelsfrei die bürgerlichen Medien. Dazu die Autoren auf Seite 71: Ihnen wird oftmals „Neutralität und Objektivität zugeschrieben“. Dabei unterliege die mediale Berichterstattung einer „Eigenlogik, die selbstproduzierten Gesetzmäßigkeiten folgt und für die Verzerrung zwischen wahrgenommener Realität vor Ort und Berichterstattung in den deutschen Wohnzimmern (mit-)verantwortlich ist“. (S. 71) (Siehe hierzu Karl Marx: „Die erste Freiheit der Presse ist es, kein Gewerbe zu sein.) Auf Seite 75 ist folgender markanter Satz bezüglich der Medien zu lesen: Sie „werden zum Schlachtfeld um Legitimität und Anerkennung (…) und oft selbst zum politischen Akteur und Kämpfer in der Schlacht (…). (S. 76)


    Was die Bundeswehr betrifft, so stellen die Autoren fest, dass das sorgsam gehegte Bild eines „Staatsbürgers in Uniform“ mit dem militärischen Auslandseinsatz neu verhandelt würde. Die Bundeswehr solle mit der internen Umstrukturierung zu einer professionalen Interventionsarmee werden. Zugegeben wird die zunehmende Verlagerung weg vom zivilen Aufbauhelfer, hin zum Kämpfer. Er diene einer gerechten Sache, so wird den Soldaten suggeriert. Bilder von Soldaten im Friedenseinsatz als Krieger und als Helden? Wird der Nachkriegspazifismus scheinbar unterlaufen, fragen die Autoren. Deren Antwort: „Scheinbar, weil es nicht ausgemacht ist, dass einfach ´der Schoß noch fruchtbar ist, aus dem das kroch.´“


    Kritisch vermerkt wird auf Seite 226 die Frage nach den gesellschaftlichen Voraussetzungen, die über die militärische Einsatzfähigkeit hinausgehe, die wenig thematisiert werde. Wörtlich: „Interventionen als Bestandteil der Außen- und Sicherheitspolitik (…) verweist aber gerade auf viele Voraussetzungen. Jedenfalls dürften Interventionen dann keine Projekte politischer und militärischer Eliten sein, die dem Volk lediglich verkauft werden.“


    „Heimatdiskurs“ hellt dankenswerterweise die Mechanismen der Volksverführung auf, bleibt allerdings in der grundsätzlichen Gesellschaftskritik hinter den Erwartungen zurück. So bleibt es dabei: Die Zwickmühle der Herrschenden zwischen Legitimationsakrobatik der Auslandseinsätze und den wahren Ursachen für die zunehmende Militarisierung, für die Gewöhnung an Krieg, Blut und Opfer im Kampf um Ressourcen und Mitsprache in der Weltpolitik wird weiter zwicken. Ein Zweifrontenkrieg ohne Ende?


    Die Autoren fragen, wie sich durch die Auslandseinsätze der Bundeswehr Deutschland verändert. Ist es die Gewöhnung an einen weiteren Gewaltweg, an Interventionen, die zum Normalfall werden sollen? Kapieren die Mächtigen nicht, dass Krieg das ungeeignetste Mittel ist, Frieden zu schaffen? Zukunftsträchtiger wäre es, die Frage umzudrehen! Dafür darf es nicht zu spät sein.


    Möge der nicht mit leichter Hand geschriebene wissenschaftliche Text - eine etwas mehr populärere sprachliche Gestaltung hätte man sich gewünscht – dennoch seine Leser finden.


    Michael Daxner und Hannah Neumann (Hg.): „Heimatdiskurs“, Broschiert: 337 Seiten, Verlag: Transcript; Auflage: 1. Aufl. (November 2012), Sprache: Deutsch, ISBN-10: 3837622193, ISBN-13: 978-3837622195, Größe: 22,6 x 14,8 x 2,4 cm


    Erstveröffentlichung in der Neuen Rheinischen Zeitung


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    Hans-Dieter Mäde: Fragmente einer Motivation


    „Nachricht aus Troja“


    Buchtipp von Harry Popow


    Wer tief schürft, wird manches finden. Das betrifft bei Weitem nicht nur die damaligen Wismutleute im Erzgebirge, die nach der Befreiung 1945 im Interesse des Weltfriedens nach Uranerz (notwendig für den Bau von A-Bomben in der UdSSR) suchten und fündig wurden. Das geht wohl jedem Menschen so, der nach Erkenntis sucht, nach größerem Wissen forscht, sein Leben zurückblickend neue Nuancen seines Denkens, Fühlens und Tuns abzuklappern gedenkt. Wichtig dabei sei, so Thomas Mann, „daß man mit dem möglichst geringsten Aufwand von äußerem Leben das innere in die stärkste Bewegung bringe; denn das innere ist eigentlich der Gegenstand unseres Interesses.“


    Hans-Dieter Mäde hat das getan. Ein bekannter DDR-Regisseur, geboren 1930 in Krakow, aufgewachsen in Schwerin, als Generalindendant und Chefdramaturg an verschiedenen Theatern tätig in der DDR, zuletzt u.a. Regisseur am Maxim Gorki Theater Berlin und Generaldirektor des DEFA-Studios für Spielfilme Potsdam-Babelsberg. (Nach langer schwerer Krankheit 2009 verstorben.)


    Was er in seinem Buch (der Text, entstanden seit Mitte der 90er Jahre unter Mitarbeit seiner Frau Karin Lesch und seines Sohnes Michael Mäde, wurde aus dem Nachlaß herausgegeben) „Nachricht aus Troja“ ans Tageslicht förderte, wird all jene begeistern, die ebenso wie er nach 1945 nach neuen Wegen suchten, aus dem Dilemma der Kriegs- und Nachkriegswirren herauszukommen und sich dort einzubringen, wo endlich etwas Neues entstehen sollte: Und das war zweifellos im Osten Deutschlands der Fall.


    Bemerkenswert, wie Mäde bereits als Jugendlicher seine Lebensbahnen in die Richtung von Literatur und Theater gerichtet hat und – das ist nicht zu bestreiten – im neuen gesellschaftlichen Milieu den Nährboden und seine Chancen sah, an der großen Umwälzung teilzuhaben. Jedoch nicht nur als Nehmender, als inaktiver Mitarbeiter, sondern als stets Suchender. Eine Position, die ihm wohl Glück in der Arbeit als auch manche Unbequemlichkeiten mit den Staatenlenkern einbrachte. So schreibt Mäde auf Seite 169: „ Das von mir für zeitgemäß gehaltene Losungswort vom Ideal, für das ich Hamlet antreten ließ, ging von diesem Gorkischen Glaubenssatz aus“, der da lautete, der forschende, suchende Held sei für ihn unvergleichlich wertvoller als der, der bereits fest in seinem Glauben steht und sich dadurch „vereinfacht“ habe.


    Das Grundgefühl nach der endlichen Befreiung vom Faschismus, ausgehend von den Bedürfnissen der Zuschauer, charakterisiert der Autor so: „Das Ideal von einem vernunftgelenkten Zusammenleben hatte Chance durchzubrechen. Das hieß auch: Wir stehen erst am Anfang. Jetzt kann es beginnen.“ (S. 164) Mit seinen Nachrichten aus dem Vergangenen wolle er, Hans-Dieter Mäde, Wege rekonstruieren, die ihn ans Regiepult führten und Motiven nachspüren, die seine ersten selbständigen Theaterentscheidungen beeinflußten.


    Und das tut er so umfassend, dass es den Lesern eine reinste Freude sein kann, den alten Bekannten an Dichtern, Schriftstellern, Schauspielern und Theaterstücken in diesem Buch wiederzubegegnen, u.a. Goethe, Thomas Mann, Tschechow, Brecht, Puschkin, Winterstein, Gorki, Ostrowski, Felsenstein, Shakespeare, Pasternak, Belinski, nicht zu vergessen Ernst Bloch, von dem sich der Autor in philosophischen Fragen an „die Hand nehmen ließ zu einer Wanderung durch die ´menschliche Wunschlanschaft´.“


    Wer Ähnliches durchlebt hat, wird verstehen, welch ein Genuß es ist, sich mit Erkenntnissen – sowohl aus der umgebenden Realität als auch aus denen der gelesenen Literaturen jene Motivationen herauszusaugen, die einem Mut machten, immer nach vorne zu sehen, aber auch Kritisches in den Focus zu nehmen. So nennt Mäde Hamlets Ideale, die er in sein „Motivationsarsenal“ aufgenommen hatte, ebenso – um nur ein Beispiel zu nennen – sein persönliches Zusammentreffen mit Walter Felsenstein, dessen Vorstoß auf das Totale, nämlich das „gesamte Beziehungsgeflecht von Werk – Zeit – Wirklichkeit – Darstellung – Zuschauer“ neu zu befragen und Antworten vorzuschlagen. Und: Glück sei ohne Prüfung und Standhaftigkeit nicht zu gewinnen. Felsenstein habe uns mit unseren Halbheiten und unserem alltäglichen Opportunismus konfrontiert.


    Felsenstein zitierend schreibt der Autor auf Seite 88: „Ich bin ein Fanatiker der Wahrheit, weil Form ohne Wahrheit Dreck ist.“ Mäde gesteht, den Ensembles, in denen er arbeitete, oft auf die Nerven gefallen zu sein mit seinen „unermüdlichen Ermahnungen und Beispielen, wie man sich ideelle Bereicherung“ aus der Komischen Oper in der Behrenstraße holen könne. „…für das, was ich an der Sache für das Wesentliche hielt, war ich bereit, mich herumzuprügeln, es war für mich zu einer Gesinnungs- und Weltanschauungsfrage geworden“, so der Autor. Schließlich ging es, meint Mäde, um unglaubliche Überanstrengungen im Kalten Krieg, um keine andere Alternative als um „Wer – Wen?“. Doch mit Widerstand hatte es, so Mäde, in keiner seiner Lebensphasen zu tun. Er wolle das anmerken in einer Zeit,, „in der man sich von einer nie geahnten Schar von Regimekritikern und Reformpolitikern umgeben sieht“. Vermittelt durch Lehrer und Künstler der unmittelbaren Kriegsgeneration spricht er Klartext: „Die antifaschistische Position ging als erstes, grundlegendes Element in meine Motivation ein, sie war eine erworbene, durch Erlebnis und Anschauung gestützte, durch gedankliche Verarbeitungsanstrengung fundierte Konstante…“


    Im tiefen Schmerz den Untergang „Trojas“, der DDR, bedauernd, kreidet er die politischen Floskeln an, die „bei der Verdrängung mancher individueller Konflikte Hilfsdienste leisteten“ (S. 28), die Verdrängung der Generationsfrage als einer Abart der bürgerlichen Ideologie, die totale Ratlosigkeit der Macht vor den „Ansprüchen und Affekten der Generation, die den Krieg nicht mehr gesehen und den gewöhnlichen Kapitalismus nur aus primitiv-vereinfachendem Hörensagen … kennengelernt hatte“ (S. 110), das Festhalten an der liebgewordenen linearen Fortschrittsvorstellung (S.121), dass „die sozialistischen Gesellschaften den Platz nicht auszumachen wußten, den die Lüste, Freuden, Späße und Genüsse in der dynamisch-hierarchischen Struktur der Antriebe“ einnehmen (S. 275) und schließlich, dass die „Hypothesen über die Wechselwirkung von veränderten Lebensumständen und Erziehung“ nicht stand hielten. (S. 276)


    Der Autor Mäde resümiert: Heute regeln sich die Dinge wieder über die Brieftasche. Ihn erstaune, in welchem Tempo sich die Neue Ordnung – den Kommerz als einzigen Maßstab zu akzeptieren – durchgriff. (S. 221) Schlimmer noch: Das Ende der europäischen sozialistischen Staaten habe ein Ende der Gewalt nicht näher gebracht, „auch keine Zunahme von Güte und Toleranz.“ Die „neue Weltordnung“ ziehe eine frische, mörderische Spur von Blut und Gewalt aus dem vorigen ins gerade angebrochene Jahrhundert…“ (S. 121)



    Dem Autor Mäde stellt der Rezensent den Schauspieler Eberhard Esche (Deutsches Theater) zur Seite, der in seinem Buch „Der Hase im Rausch“ zu den neuen Mißständen u.a. formulierte: „Die Zeitläufe sind so geraten, daß kleinbürgerliche Seelchen die großstädtischen Theater Europas … beherrschen.“ Es lohne nicht einmal die Polemik gegen diese Vize-Lümpchen, die die Zerstörung der Theater und damit unserer Kultur betreiben. Er beklage sich nicht, denn er – Eberhard Esche - hatte das Glück, Maßstäbe zu lernen. So ergänzen sich ein Regisseur und ein Schauspieler, die beide – und mit ihnen viele Millionen DDR-Bürger – ihr behütetes Glück lebten. (S. 102)


    Gleich dem Autor Mäde nimmt wohl auch mancher Leser im tiefsten Inneren wahr: Was jetzt Wirklichkeit ist, hat ferngerückt, mit welchen Absichten wir angetreten sind. Immer noch liege Gorki dem Autor mit der Frage in den Ohren, die seine Gestalten mit stoischer Hartnäckigkeit wiederholen: „Und so wollt ihr also tatsächlich leben?“ (S. 239)


    „Nachricht aus Troja“ ist ein anstrengendes aber lohnenswertes Buch. Es steht dem Zeitgeist entgegen und ordnet sich gerade deshalb würdevoll in die Reihe der bereits aus über tausend Bänden bestehenden Erinnerungsliteratur zur DDR-Geschichte und ihren Erfolgen und Versäumnissen ein.


    Diesem Satz des Autors ist wohl erst recht zuzustimmen: „Die Gründlichkeit, mit der Troja geschleift wurde, konnte nicht verhindern, daß Nachrichten an die Späteren kamen von denen, die trotz allem ´Mut schöpften und gute Hoffnung´.


    Tief schürfen - das muß man also erst einmal wollen. Ohne das läuft gar nichts. Ohne dem bist du ein Anhängsel, ein nur Gläubiger, eine Marionette in den Händen anderer. Es sei denn, man gibt sich selbstzufrieden mit einem ewigen Taumel zwischen hoher Sinngebung und Barbarei…



    Hans-Dieter Mäde: „Nachricht aus Troja“, Fragmente einer Motivation, Taschenbuch: 292 Seiten, Verlag: Edition Schwarzdruck; Auflage: 1 (8. März 2012), Sprache: Deutsch, ISBN-10: 3935194498, ISBN-13: 978-3935194495, 24 Euro


    Erstveröffentlichung in der Neuen Rheinischen Zeitung


    Mehr über den Rezensenten: http://cleo-schreiber.blogspot.com

    Meldungen aus dem amerikanischen Klassenkampf


    „Auf Rehwildjagd mit Jesus“ / Joe Bageant


    Buchtipp von Harry Popow


    Das nenne ich Glück - das Erlebnis des Ensembles Cirque du Soleil (Im Zirkus der Sonne). Du fühltest dich wie in eine andere Welt versetzt, gleichsam auch emporgehoben. Wieviel menschliche Leistungsfähigkeit, Akrobatik, Schwung, anmutige Leichtigkeit, begleitet von einer Musik-Produktion, die sich laut Programmheft u.a. von den Beatles inspirieren ließ, von herrlichen Farben, von tollen Lichteffekten. Ein Kunstwerk, was wohl mehr Sehnsucht nach Menschlichkeit nicht ausstrahlen kann. Das Schöne, die Grösse des Menschen wirbelte den vor Beifall tobenden Zuschauern entgegen. Im Programmheft steht: „Der Cirque du Soleil macht sich Gedanken über die Welt von morgen und richtet sein Engagement vor allem auf den weltweiten Kampf gegen die Armut.“ Das trifft nicht nur die Amüsier- und Spassstrecke der Zuschauer, sondern gleichermaßen deren Hirn und Herz, stimmt nachdenklich. Fragt sich, wie weit ist der reale Weg vom Zirkus zur Welt der Sonne?


    Dazu hat der amerikanische Autor Joe Bageant (1946-2011) etwas zu sagen. In seinem Buch „Auf Rehwildjagd mit Jesus“ beschreibt er ebenfalls eine Welt – allerdings mit weniger Sonne, eine Welt, die uns in Europa nicht so fremd sein dürfte. Die Größe des Autors: Er besingt förmlich die Schönheit des Menschen, seine Sehnsucht nach Erfüllung und Frieden, abzulesen an den Schicksalen derjenigen, die der Autor in seinen acht Essays vorstellt, darunter eine Karaoke-Sängerin, eine Putzfrau, ein Vorarbeiter, eine Hühner-Schlacht-Gehilfin, ein Folter-Girl oder die verarmte Witwe eines Kurzstrecken-Truckers. Er webt deren Leben ein in die gesellschaftlichen Umstände, in die Widrigkeiten dieses so gelobten Landes, in die angeblich „klassenlose Gesellschaft“. Das alles beschreibt er mit einem gekonnten Schreibstil, mit Liebe, mit Wärme für die Benachteiligten dieser kapitalistischen Gesellschaft, Spannung inklusive.


    Auf Seite 27 bekennt er: Ich möchte dem Leser „das Leben der amerikanischen Arbeiter näherbringen, näher, als dies unsere Medien jemals tun würden.“ Sarkastisch beantwortet er sich die Frage, was ihn berechtigt, sich derart gesellschaftskritisch zu äußern: „Eigentlich nichts, bis auf die Tatsache, dass ich der eingeborene Sohn eines Landes von Arbeitern bin, das auf den Hund gekommen ist.“


    Joe Bageant – einer, der das Schuften und Mühen Auge in Auge mit der Arroganz der links-liberalen Elite kennengelernt hatte: Als Marinesoldat, Arbeiter, Journalist, Pferdezüchter, Kneipenwirt, Redakteur, Mitwirkender in Sendungen des Radio und in Dokumentarfilmen und im Internet.


    Gerade deshalb wird der Autor bissig und wütend, wenn er ganz unbarmherzig die sozialen Zustände dieses großen Amerika anprangert, aufdeckt, entlarvt. Ja, er reißt förmlich die Maske herunter von dem angeblich so tollen auf hohem Pferd sitzenden Amerika. Der oft propagierte „Amerikanische Traum“ bekommt – nicht erst jetzt – einen gewaltigen Kratzer.


    Den Titel des Buches könnte man nach dem ersten Lesen bereits abwandeln: Mit der Waffe in der Hand und Jesus im Kopf verteidige ich mein arg geschütteltes Vaterland. In den acht Kapiteln berichtet der Autor u.a. von den Konsequenzen der Globalisierung für die Einwohner einer Stadt, von der Abzockerei beim Erwerb von mobilen Eigenheimen, vom Waffenkult, vom tiefen Glauben an Gott, von den Verwerfungen im Gesundheitswesen. Und, und und…


    Dem Autor geht es vor allem um das untere Drittel der amerikanischen Gesellschaft, Menschen, „die sich wie folgt beschreiben lassen: konservativ, politisch fehlinformiert oder passiv und patriotisch, auch wenn es zu ihrem eigenen Schaden ist.“ Viele glauben noch an den Amerikanischen Traum, der sich „ausschließlich über Geld definiert“. (S. 60) Dieser Traum besage auch, „unsere aus dem Bauch kommenden, uninformierten Meinungsäußerungen seien so etwas wie ungeschminkte und fundamentale politische Wahrheiten.“ (S. 231) Es fehle die „Befähigung zum kritischen Denken“, schreibt der Autor auf Seite 287.


    Als ein Mensch, der komplex denken gelernt hat, erwähnt er dabei zunächst auch die „Errungenschaften“ dieses Amerika, z.B.: Cineplex-Kinos, Outlet Stores, dreistöckige Straßen, extragroße Wegwerf-Bierdosen Hummers, Honda, Game Boys, Dale-Earnhardt-Gedenk-Dampfkochtöpfe … „die ganze dynamische, blinkende, digitale Phantasmagonie.“


    Arbeitslosigkeit? Die nationale Mythologie (S. 35) propagiere Amerikaner, die „schrecklich gesund, gebildet, reich und glücklich sind.“ Der Autor setzt dagegen: Mit mindestens 19 Millionen Arbeitslosen oder arbeitenden Armen unter den Weißen habe man es zu tun, wobei der gewiß höhere Prozentsatz bei den Schwarzen liege. Die Armen und die an der Armutsgrenze angesiedelten Arbeiter unter den Weißen bewegen sich, so der Autor, „analog zu den Schwarzen und Latinos, die in Ghettos ums Dasein kämpfen, innerhalb einer mit einer Sackgasse vergleichbaren sozialen Matrix, bei der ein Scheitern vorprogrammiert zu sein scheint.“ (S. 19) Den Blick auf die Arbeiterklasse richtend, stellt Joe Begeant resignierend fest: „Die Krise, in der die Arbeiterschaft steckt, ist ebenso schrecklich wie unspektakulär. Die Passivität der Arbeiterklasse, ihre Abneigung gegenüber allem, was sie für zu intellektuell halten, und ihre Aggressivität gegenüber der Welt“ würden sich bereits zu Hause und in der Grundschule bemerkbar machen. (S. 46)


    Die Folge: „Eine lausige Bildung und ein Leben in der Gladiatoren-Arena einer Marktwirtschaft, in der jeder gezwungenermaßen gegen jeden kämpft, sind ungeeignete Voraussetzungen, um Grundeinstellungen wie Optimismus oder Unvoreingenommenheit zu entwickeln, die den Liberalismus kennzeichnen.“ Ein solcher Hintergrund, meint der Autor, münde in einer Art von düsterer Grobheit und emotionaler Verrohung. Sie führe dazu, dass die betroffenen Arbeiter Kriege des amerikanischen Imperiums hinnehmen, „ohne auch nur mit der Wimper zu zucken.“ (S. 87) Was Wunder, wenn die mitunter sehr gottgläubigen Menschen darauf hören, was die radikale christliche Konservative predigen, „dass Frieden niemals zur ersehnten Wiederkunft Christi führen kann und dass jeder, der sich um Frieden bemüht, ein Werkzeug Satans ist.“ (S. 186)


    Unter dem Dach des peitschenschwingenden Großunternehmentums (S. 294) entpuppe sich die viel gepriesene amerikanische Freiheit größtenteils als Fiktion. (S. 295) Die Kultur basiere auf Fernsehen und Öl. (S. 294) Das Fernsehen entmündige den amerikanischen Durchschnittsbürger, indem es ihm „die politische und intellektuelle Sphäre aus den Händen nahm.“ (S. 296)


    Ohne Bildung, meint Joe Bageant, könne sich nichts ändern. Und dann haut er wieder einen sehr persönlichen Satz rein, der ihn ebenfallls sympathisch macht: „Was meine Leute wirklich brauchen, ist jemand, der einmal ordentlich auf den Tisch schlägt und laut und verständlich sagt: ´Hört mal zu, Ihr verdammten Büffelhörner! Wir sind blöder als ein beschissener Hackklotz und hätten dafür sorgen sollen, dass man uns was beibringt, damit wir wenigstens ein bisschen kapieren, was in dieser beschissenen Welt abläuft.´“


    Auswege? An die Linke gewandt mahnt er, echte Bewegungen sollten das Protestpotenzial, das unter unzufriedenen und enttäuschten Leuten vorhanden ist, für ihre Ziele im Interesse der Menschen nutzen. (S. 99) Sein persönliches Fazit drückt der Autor auf Seite 213 so aus: „Ich warte begierig darauf, dass mein Streben nach einer besseren Gesellschaft endlich Früchte trägt…“


    Alles in Allem: Das Buch ist eine politisch-soziale Fundgrube, auch wenn vieles bekannt ist. Aber nach dem Lesen dieser gesellschaftskritischen Arbeit ist einem die amerikanische Seele näher gekommen. Das liegt auch an der sehr gründlichen Recherche durch den Autor, seinen zahlreichen Konsultationen mit Freunden und Wissenschaftlern. Fremdwörter, spezifischen Vokabeln aus der amerikanischen Geschichte, findet man in den Anmerkungen wider.


    Amerika in diesem interessanten und aufschlußreichen Buch - welch ein Erkenntnisgewinn! Dass der bundesdeutsche Leser manches wiedererkennen wird beim Lesen an Zuständen in seinem eigenen Land mag durchaus kein Zufall sein. Solch einen Spiegel vor der Nase möchte man da rufen: „Ach wie gut, dass niemand ahnt, dass wir gar nicht soweit weg sind vom gelobten Land…“ Cirque du Soleil!! Was heißen soll „Im Zirkus der Sonne“. Der Weg ist noch weit von diesem herrlichen Zirkus zu einer Welt der Sonne…


    Joe Bageant: „Auf Rehwilsjagd mit Jesus“, gebundene Ausgabe: 350 Seiten, Verlag: VAT Verlag André Thiele; Auflage: 1 (9. Oktober 2012), Sprache: Deutsch, ISBN-10: 3940884928, ISBN-13: 978-3940884923, Originaltitel: Deer Hunting with Jesus. Dispatches from America's Class War , Größe und/oder Gewicht: 21,4 x 13,2 x 2,4 cm


    Erstveröffentlichung in der Neuen Rheinischen Zeitung


    Mehr über den Rezensenten: http://cleo-schreiber.blogspot.com


    Edit: Name des Autors und ISBN ergänzt. LG JaneDoe

    „Euroland wird abgebrannt“. Profiteure, Opfer, Alternativen / Lucas Zeise


    Buchtipp von Harry Popow


    Da kann man schon schockiert sein: Du sitzt im Schnellzug ohne zu wissen, wohin die Reise geht. Dir wurde zwar ein tolles einheitliches Europa vorgegaukelt, in dem du überall in gleicher Währung zahlen kannst - aber der Zug verlangsamt seine Fahrt, hält nicht mehr an jeder Station, gerät schließlich ins Stocken und ein jeder muß aussteigen und Brennholz (sprich erhöhte Steuern) für eine schwerfällige Weiterfahrt sammeln. Schöne Aussichten. Und kaum einer macht sich über den Preis Gedanken, der für diese Fahrt ins „Glück“ zu zahlen sein wird?


    Die bisher zurückgelegte fehlerhafte Strecke und die „Zukunftsaussichten“ dieser Narrenfahrt beschreibt Lucas Zeise in seinem neuesten Sachbuch „Euroland wird abgebrannt“. Der Autor, Finanzjournalist mit einem Studium der Volkswirtschaft und Philosophie, führt den Leser in acht Abschnitten anschaulich und in einer sauberen sprachlichen Diktion vor Augen, wie die EU im Jahre 1992 aus der Taufe gehoben wurde, welche Vorteile der einheitliche Binnenmarkt gehabt hätte und welchen unsinnigen und katastrophalen Zielen wegen seiner fehlerhaften Konstruktion der Eurozug entgegenfährt. Ohne extra auf den großen russischen Klassiker hinzuweisen, der in seinem Aufsatz „Über die Losung der Vereinigten Staaten von Europa“ davor warnte, dass „die Vereinigten Staaten von Europa unter kapitalistischen Verhältnissen entweder unmöglich oder reaktionär“ seien, entwirrt Zeise den Knäul des Warum und Wofür dieser Zusammenballung des europäischen Kapitals.


    Dies in diesem Beitrag außen vor lassend räumt der Autor gewisse Vorteile des einheitlichen Binnenmarktes ein. Die Pluspunkte wären zum Beispiel: ein großer Währungsraum ermögliche es den beteiligten Volkswirtschaften, „sich weitgehend den irrationalen Bewegungen der Finanzmärkte, speziell des Devisenmarktes entziehen“ zu können. Weiter: „Die Kapitalisten und ihr Staat können sich einfacher und billiger selbst finanzieren.“ So sei die Finanzierung von Unternehmen und Staat weniger abhängig von den Launen der Finanzmärkte. Ein großer Währungsraum könne sich notfalls auch vom internationalen Kapitalmarkt abkoppeln. Nicht zu vergessen: Nach dem II. Weltkrieg ergab sich zum ersten Mal „die Chance, mit den USA hinsichtlich der Vorteile einer Anlage- und Leitwährung gleichzuziehen“. (S. 61)



    Nicht ohne Ironie widmet sich Zeise auch den „Vorteilen“ von Spekulationen. So schreibt er: „In spekulativen Hochphasen wird also die Tendenz des neoliberalen Wirtschaftsmodells zu Stagnation und Unterkonsumtion überspielt. Die Spekulation suggeriert steigende Gewinne in der Zukunft. Die Investitionen steigen. Sie schaffen zusätzliche Nachfrage und fördern damit den Aufschwung. Der bei steigenden Vermögenspreisen explodierende Reichtum in den Händen der an der Spekulation Beteiligten, färbt außerdem auf die übrige Gesellschaft ab. Die immer reicher werdenden Spekulanten fragen mehr Luxusgüter nach, sie bauen sich Häuser und Paläste und richten sie ein. Die zahlungskräftige Nachfrage nach Porsches, nach Immobilien, nach Reisen in der Busineß- oder der ersten Klasse steigt. Auch dadurch wird die Realwirtschaft angeregt. Wenn die Spekulationsblase geplatzt ist, schrumpft umgekehrt diese Nachfrage drastisch.“ (S. 27)


    Doch zum Kern des Schlamassels: Bereits einleitend stellt Zeise fest, man müsse die Krise der europäischen Währungsunion als Bestandteil der den ganzen Globus umfassenden aktuellen Weltfinanz- und Weltwirtschaftskrise begreifen. (S. 8) Auf den Seiten 16/17 legt er vor allem die Finger auf die unüberwindbaren Wunden auf das neoliberale kapitalistische Wirtschaftsmodell: Es gehe radikaler und direkter um die Erhöhung der Kapitalrendite. Folglich: Druck auf die Gewerkschaften, auf die Löhne, denn mit allen Mittel muß die Mehrwertrate gesteigert werden. Kapitalverkehr über alles. Dazu werden auch die nationalen Schutzschranken für den Warenhandel und den Kapitalverkehr systematisch abgebaut. So werden stärkere Kapitale bevorzugt und die Monopolisierung vorangetrieben. „Um die Kosten für das Kapital niedrig zu halten, wird der Staat kurz gehalten und geplündert. Die Privatisierung von Staatsvermögen, die Vernachlässigung der Infrastruktur, von Bildung und Erziehung und Gesundheit der breiten Bevölkerung gehören zum Kern des neoliberalen Credos.“


    Dass der Kapitalismus an seinen inneren Widersprüchen krankt, sei allgemein bekannt, aber das helfe nicht weiter, so der Autor. (S. 44) In polemischer Auseinandersetzung mit der Auffassung, das Finanzkapital spiele keine eigenständige Rolle, weist der Autor nach, dass die Banken und das Finanzkapital durchaus fähig sind, „Geld aus dem Nichts zu schaffen“. (S. 48)


    Warum ist die auf einer Konferenz am 7. Februar 1992 im niederländischen Maastricht beschlossene europäische Währungsunion eine verfehlte Konstruktion, wie Lucas Zeise analysiert? (S. 57) Wichtig dabei ist die Feststellung des Autors, daß dieEuropäische Währungsunion „nicht nur den politischen Interessen der deutschen Regierung entsprach, sondern vor allem den wirtschaftlichen Interessen der deutschen Unternehmen.“ (S. 60) Deshalb dürfen sogenannte heilige Kühe einfach nicht geschlachtet werden. Dazu gehört, so der Autor, nicht nur schlechthin das Privateigentum, sondern auch der Wettbewerb (Konkurrenzkampf) untereinander, also auch zwischen den Ländern der Europäischen Union. Von Vorteil für alle (S. 64) wäre eine gewisse Spezialisierung gewesen. Allerdings wurden die Standortvorteile, die ja „höchst ungleich verteilt waren“, „durch die Fehlkonstruktion des Euro und die Wirtschaftspolitik der Kernländer sogar noch verstärkt“. Das Entscheidende dabei: Statt mit Transferleistungen für den Fluß von Überschuss- zu den Defizitregionen zu sorgen, fehlen staatliche Institutionen. Seite 69: „An die Stelle von staatlicher Regulierung tritt dabei der ´Wettbewerb´. Und um die Konkurrenz zu befördern, gilt als oberstes und nachgerade heiliges Prinzip die Freiheit des Kapitalverkehrs.“


    Welche Lösungswege bietet der Autor an? Will man die Währungsunion erhalten, so Zeise, sollten die grundsätzlichen Mängel der Euro-Konstruktion beseitigt werden. Sie könne nur durch „einen höheren Grad der staatlichen Integration (…) überleben.“ (S. 130) Dazu müsse jedoch „das Prinzip des Wettbewerbs der Staaten (um die Gunst des Kapitals)“ aufgegeben und „durch staatliche Institutionen“ ersetzt werden. Er plädiert für eine Angleichung der Steuersysteme, der sozialen Systeme und für den Aufbau einer zentralen EU-Regierung.(S. 130) Auch müssten die „neoliberale Umverteilung von unten nach oben gestoppt und umgekehrt werden; zweitens muss der Finanzsektor massiv geschrumpft und damit die Macht des Finanzkapitals beschnitten werden.“ (S. 132)


    Auf den Punkt gebracht: „Der Euro scheitert nicht deshalb, (…) weil die an der Währungsunion beteiligten Länder kulturell und ökonomisch so unterschiedlich sind. Er scheitert vielmehr daran, daß er ein Produkt des Neoliberalismus ist.“(S. 142) Fakt ist: „Das Scheitern des Euro-Projektes bedeutet eine schwere Niederlage des europäischen und deutschen Kapitals.“ (S. 141)


    Was steht schon jetzt fest? Die im Zug Sitzenden werden zum Narren gehalten. Sie werden das angestrebte Ziel nicht erreichen. Rechnen müssen sie mit Gehälterkürzungen, Entlassungen, reduzierten Renten, Sozialleistungen und Ausgaben für Forschung und Bildung, mit weniger Investitionen in Straßenbau, Eisenbahn, Wasser- und Stromversorgung. So verschärft auch der Fiskalpakt die Krise, schreibt Lucas Zeise. (S. 126) Trotzdem meinen 73 Prozent der Deutschen laut einer Umfrage (siehe „nd“ vom 29.09.2012): Uns geht es ja gut. Man hat ja seine einheitliche Währung, man hat ja in Deutschland sein Auskommen, nicht wahr?


    Mag manch einer sagen, das alles seien olle Kamellen. Man lasse uns in Ruhe, sollen die da oben nur ihr Zeug machen. Außerdem: Die das Euroland kritisch gegenüberstehenden Schriften nehmen zu, häufen sich. Der große Vorzug Zeises ist es, in sachlicher und gründlicher Weise die eigentlichen Ursachen des gewollten Eurolandes als rein kapitalistisches Streben nach Maximalprofit in den Vordergrund gerückt zu haben. Im Klartext: Euroland kann nicht funktionieren, da die inneren Widersprüche des Kapitalismus eine einvernehmliche Zusammenarbeit zwischen den sehr unterschiedlichen Ländern im europäischen Raum auf der nur Wettbewerbsebene einfach nicht zulassen.


    Es ist ein meines Erachtens sehr gut und verständlich verfasster Text besonders dann, wenn er, wie auf Seite 62, die konkrete Situation eines Vorstandschefs als Beispiel anführt. Auch die grau unterlegten Begriffserklärungen wie über Rating-Agenturen und Eurobonds dienen dem leichteren Verständnis.


    Der Narrenzug schaukelt weiter ins Land, in ein Land der Märchen und Illusionen. Die Zuginsassen fühlen sich genarrt, und die da oben halten fest an ihren nebelhaften Illusionen, einer von Fehlkonstruktionen und Pleiten bestückten Strategie. Wir leben in einer Gesellschaft der Blendungen und Verblendungen. Disneyland läßt grüßen. Der Preis, der für die Fehlplanungen zu leisten sein wird, ist schon jetzt nicht mehr kalkulierbar. Und die Bundeskanzlerin, an die Adresse der Jugendlichen gerichtet, ruft: „Das Europa der Zukunft liegt in euren Händen!“ (siehe Märkischer Sonntag, 23.09.2012)


    Na dann – weiter eine gute Fahrt ins Glück!!


    („Euroland wird abgebrannt.“ Profiteure, Opfer, Alternativen, Autor: Lucas Zeise, Papyrossa Verlagsges.; Auflage: 1 (September 2012), ISBN-13: 978-3-89438-483-8, 19,6 x 13 x 1,4 cm, Deutsch, Broschiert: 142 Seiten.)


    http://cleo-schreiber.blogspot.com


    Edit: Autor, Titel und ISBN ergänzt. LG JaneDoe

    „Unter Piraten“ / Erkundungen in einer neuen politischen Arena / Christoph Bieber, Claus Leggewie (Hg.)


    Buchtipp von Harry Popow


    Ins Reich der Märchen fällt das „vernetzte Froschgequake“, mit dem diese empört die Trockenlegung ihres Heimattümpels durch Immobilienhaie verhindern wollen. Ins Reich der unsterblichen Illusionen fällt der versöhnlerische „vernetzte Menschenprotest“, mit dem endlich menschliche Verhältnisse gegenüber der Macht des Kapitals erkämpft werden sollten.


    Versprüht die im Aufschwung befindliche Piratenpartei Hoffnung und „Erlösung“? Immerhin: Sie wolle im Kleinformat und im kommunalen Bereich jedwege Bürgerinitiative – je nach Projekt – zum Durchbruch verhelfen - stramm vernetzt, Massen mobilisierend und in Minutenschnelle in unserer so sehr schnelllebigen Zeit.


    Indessen sind auch mögliche Zweifel der mitunter im politischen Halbschlaf befindlichen Wähler für die Piratenpartei wie weggewischt: die jungen und forschen Leute können unbefleckt von Häme und Nerds-Vorwürfen auch weiterhin in die Parlamente einziehen. Dank der ersten wissenschaftlichen Erkundung in dem Sachbuch „Unter Piraten“ ist nun nachgewiesen – nein, die Piraten sind keine Biertrinker, keine einseitig bekloppten, sondern einfach andersartig. Ernst zu nehmende Internetmacher. Zunehmend politisch engagiert. Nicht säbelrasselnd, sondern eben leise bewaffnet mit Laptops. Ja, sie wollen Breschen schlagen in des politischen Stumpfsinns Mauern. Für mehr Bürgerrechte und mehr persönliche Freiheit. Scheint die Freude verfrüht? Denn nur 10% habe die Partei auf Grund der Inhalte gewählt, 80% geben als Wahlmotiv die „Unzufriedenheit“ mit den anderen Parteien“ an (S. 218).


    „Unter Piraten“ weist nach – akribisch belegt mit Fakten und Tabellen und auf der Grundlage von Umfragen – die Piratenpartei ist in der Welt keine Einzelerscheinung. Sie kommt nicht aus dem Nichts. Schweden hatte sie zuerst im Parteienspektrum, anfängliche Bewegungen gab es in den 80er Jahren in den USA.
    Schon im Vorfeld war sichtbar: Einerseits wirft man den Piraten vor, die politische Landschaft entpolitisieren zu wollen, andererseits schwören jene, eindeutig antikapitalistische Positionen zu vertreten. Was stimmt? Liegt die Wahrheit genau in der Mitte? Wer Neues wagt, dem sollten keine Steine in den den Weg gelegt werden.


    Lesen wir, was die 24 Autorinnen und Autoren zu dem Phänomen der Piratenpartei für den Leser entdeckt haben. In 18 Beiträgen – unterteilt in die Abschnitte Entern, Ändern und Neustart – erkunden sie u.a. das Milieu, die geschichtliche Einordnung, das politische Denken sowie den demokratischen Veränderungswillen der Piratenpartei.


    Nicht nur Politverdrossenheit…


    Der Häme ist einer Bewunderung gewichen: Innerhalb von sechs Jahren (formale Gründung am 10. September 2006) habe die Piratenpartei Land gewinnen können und sitzen bereits in Länderparlamenten, so der Herausgeber Christoph Bieber bereits in seiner Einleitung (S. 9). Erstaunlicher als die Erfolge an der Urne erscheine jedoch die Organisationsentwicklung sowie die immer hitziger werdende öffentliche Debatte. Es sei eine Bewegung von der Zuschauer- zur Beteiligungsdemokratie zu verzeichnen (S. 10). Weder neue Themen noch neue Inhalte wären die Ursache des Aufstiegs gewesen, sondern möglicherweise hätte die Internetsperrung zur Politisierung geführt sowie das „Versprechen auf eine neue Form der Teilhabe am politischen Prozess“ (S. 13). Und weiter: „Nicht so sehr die inhaltliche Auseinandersetzung (…) konturieren den Markenkern der Partei, sondern eher Arrangement und Stil der innerparteilichen Meinungs- und Willensbildung.“ (S. 15) Kurz: Nicht nur Politikerverdrossenheit sei im Spiel gewesen, sondern die Andersartigkeit: Das Alter der Mitglieder, deren Sozialisation hätte besonders Jung- und Nichtwähler angezogen. Vor allem auch die Offenheit, das Sichtbar-Machen -Wollen politischer Prozesse, die Infragestellung gängiger Routinen des politischen Systems… (S.17) Die Piratenpartei verstehe sich als Bürgerrechtspartei. Es gehe „nicht um Computer und Internet an sich, sondern um uneingeschränkten Zugang zu Sozialstrukturen.“ Politische Forderungen im Bereich Bildung, kostenloser Nahverkehr, Versammlungsrecht, Freigabe von Drogen etc. – das ist von starkem Interesse für Jungwähler, auch wenn kein konkretes Programm existiert, wie solche Forderungen gegen den Widerstand von Staat und Kapital durchgesetzt werden könnten. Und genau dies ist es, was genauer unter die Lupe zu nehmen ist.
    Ziele im Klartext


    Was die Autoren ausgegraben haben, liest sich in Auszügen so: (S.176-177): Es gehe u.a. um „… Protest gegen das politische Establihment, das als ´nicht-(mehr)-responsiv´ gegenüber den Bedürfnissen und Wünschen der Bevölkerung wahrgenommen wird.“ Piraten seien Teil der weltweiten „Facebook-Revolutionen“, deren gemeinsames Merkmal es ist, mit Hilfe digitaler Kommunikation und Vernetzung in kürzester Zeit , ohne zentrale Steuerung und ohne hierarchische Koordination, große Empörungs- und Mobilisierungswellen hervorzurufen und zu bündeln.“ (Nur Feuerwehr- und Löscheinsätze? H.P.) Politik habe ihre Funktion als „Schrittmacher“ sozialer Entwicklungen längst eingebüßt, (…) Verdienst derPiratenpartei - sie stelle ein „Instrument zur experimentellen Lösung oder Überwindung der demokratischen Dynamisierungskrise in Aussicht….“ (S. 178)


    Piraten seien allerdings „eine politische Sammlungsbewegung, deren programmatische und organisatorische Strukturbildung noch weitgehend offen ist.“ (S. 180-185) „Sie erinnern daran und sensibilisieren dafür, dass jenseits von Staat und Markt, die mit den Mitteln der Autorität und des Geldes operieren, noch andere Formate sozialer Ordnungsbildung existieren, (…)“ Die Mittelposition der Piraten: sie beteiligen sich an staatlicher Rechtsetzung „wenn auch als Opposition , die sich zunächst darauf konzentriert, die Lösungsansätze der Regierungen als einseitige Parteinahme für Wirtschaftsinteressen oder als autoritären und intransparenten Missbrauch der neuen Medien für Überwachungszwecke öffentlich zu kritisieren…“

    Transparenz und Illusionen


    „Zeitarmut ist das Kennzeichen einer digital beschleunigten Demokratie…“, schreibt Karl-Rudolf Korte auf den Seiten 200-205. „Regieren im Minutentakt“, der Piraten Querschnittsthema sei Transparenz. Sie sei „die erste Partei, die historisch aus Kommunikationstechnologie und der zugehörigen Nutzerkultur hervorgegangen ist.“ Nicht die Nutzung des Internets sei dabei von Bedeutung, sondern die Haltung der Nutzer gegenüber einem gesellschaftlichen Grundkonflikt zwischen Freiheit und Sicherheit.“ Die Teilhabe am politischen Dskurs sei oft wichtiger als die Übereinstimmung mit dem Ergebnis der politischen Entscheidung.“ „Piraten spiegeln Bürgerinitiativen-Klientelismus wider.“ … „Mehr ernsthafte Beteiligung, mehr sichtbaren Nutzen (…), mehr Bewegung und Netzbarkeit als hierarchische Großorganisation.“ „So könnte politische Repräsentation in Deutschland modernisiert werden.“ (S. 206/207)


    (S.76/77): Technik habe uns passiver gemacht, Technologie habe den Amateur zurück in die politische Arena gebracht. Siehe Open-Source-Politik. (S.78/79): „Wir leben im Zeitalter des Open-Source-Prinzips: bei der Technologie, in der Kultur und nun auch in der Politik. Es zeichnet die gesellschaftlichen Bewegungen aus, ,,die mit Hilfe vernetzter Technologien möglich machen, dass wir Gemeinschaft anders (er)leben. Dies sei der ´Reichtum von Netzwerken´, die Yochai Benkler vor fünf Jahren beschrieb (vgl. Benkler 2007). Er wächst und gedeiht überall, und so ist es endlich an der Zeit, dass die Menschen ihn als das erkennen, was er ist: die Macht von heute.“ Ergänzend heißt es auf der Seite 94 hierzu: „Das Internet hat die Zugangsmöglichkeiten zu Wissen schlagartig erweitert… Aber eben nicht auf einer gesicherten Eigentumsbasis, sondern als gewährten Zugang.“ Der werde also „die zentrale politische Forderung der Zukunft werden.“ Der Autor Michael Seemann bezieht sich dabei auf Jeremy Rifkin, der dies bereits zur Jahrtausendwende in seinem Buch „Access“ formuliert und hellsichtig darauf hingewiesen habe, „dass der Zugang zu Ressourcen aller Art immer weniger über Eigentum (…) organisiert wird, sondern über Modelle des Zugangs.“


    (Randbemerkung von H.P.: Wer hat Zugang, wer kann sich das leisten, welche Mitwirkung ist dadurch gegeben? Denn, so lesen wir es auf Seite 98: „Die gleichen technischen Möglichkeiten bedingen noch nicht den gleichen Zugang.“)


    Falltüren


    Auf Gefahren bei der Nutzung des Internet für die Piraten verweist Alexander Hensel auf Seite 47: Es seien die Unverbindlichkeiten und die Flüchtigkeit, die bewältigt werden müssen, denn die Piraten würden „kaum über Mechanismen der Steuerung oder gar Disziplinierung ihres Milieus verfügen.“ Der Druck werde wachsen, sich an Bedürfnisse neuer Wählerschichten anzupassen.


    Weiter lesen wir auf den Seiten 108-110 u.a.: Die Piraten wollen eine Partei sein, die „nicht einfach Elemente direkter Demokratie stärker in die gegenwärtige Politik einbringt, sondern die für die Demokratie konstitutiv grundlose Spaltung in Regierende und Regierte auf neue Weise in den Bürger_innen verankert und dynamisiert.“ Mal herrschen, mal beherrscht werden. So würde die innere Spaltung der Bürger in Regierende und Regierte individualisiert und zugleich dynamisiert. Eine Demokratie, „deren Herrschaftausübung zu jeder Zeit mit dem zählbaren Volkswillen übereinstimmt: eine totale Identität der Gesellschaft mit ihren Herrschaft ausübenden Institutionen.“ In der totalen Sichtbarkeit bleibe kein Raum für Subjektivierung des Volkes, es kann in der Falle der Transparenz nicht mehr entkommen. Alles ziele „auf eine entpolitisierte Verwaltung im Namen der öffentlichen Meinung.“ Die Piraten würden sich in der Rolle der Vermittlerin sehen, die „Bedingungen der restlosen Versöhnung der Bürger_innen mit ihrer Herrschaft produziert.“


    Gefahren und Visionen

    (S. 235): „Und hier bleiben Fragen, ob die Piraten mit dem politischen Produktionsmittel Internet dieses als Distributionsmittel nicht falsch einschätzen und so einen Hauptgegner unterschätzen, nämlich die Produzenten und Eigentümer der Netzmedien.“ (S.237): Keiner dürfe die Zensur- und Kontrollmacht der Medienkonzerne übersehen, das wäre fahrlässig und fatal, „bei ihnen konzentrieren sich schon ökonomisch alle Mittel, die öffentliche Meinung zu formatieren.“ Klar erkennbar hier der wesentliche Punkt: „Die Machtfrage wird nicht gestellt.“


    Zur nahen Zukunft der Piratenpartei wird festgestellt: (S. 132): „Zunächst wird es darum gehen,, bundesweit in sämtliche Parlamente … einzuziehen.“ Sie muß Farbe bekennen, muss eine Koevolution anstoßen, „die Schritt hält mit dem Wandel, dem sie, nicht zuletzt durch sich selbst, fortlaufend ausgesetzt ist.“


    Hier sei folgender Einschub gestattet: Joachim Paul, Medienpädagoge und promovierter Biophysiker in einem Interview mit dem „neuen deutschland“ am 16. Mai 2012: Der Kapitalismus sei tot - juhuu!! Aber er denke, es dauert noch ein bischen, bevor er seine letzten Zuckungen mache. Er würde sich wünschen, dass die Linken und die Piraten in naher Zukunft zusammenarbeiten und so eine starke Front für eine neue Gesellschaft schaffen könnten. Er stelle sich vor, dass die Menschheit bei diesem System nicht sehenbleibe, „so dumm kann der Mensch nicht sein oder?"


    Kritisch sei angemerkt: Im Umschlagtext ist zu lesen: Auch die Wissenschaft sei gefordert, „ihren Beitrag zu einer anspruchsvollen Zeitdiagnose zu leisten.“ Es ist nachzuhaken, ob durch Umschreibungen (wie z. B. Protestkulturen statt Klassenkampf) wahre Sachverhalte wieder einmal in Nebelschwaden verschwinden und dem Versöhnlertum mit den Herrschenden Tor und Tür weiter geöffnet werden. Das wahre Konfliktpotential bleibt im Verborgenen. Transparenz? Was würden die Piraten selbst dazu sagen?


    Auf Seite 110 gesteht Frieder Vogelmann: Offen bleibe, „ob wir diese Gegenwart tatsächlich zu unserer Zukunft machen wollen.“ Der Rezensent würde das so formulieren: Alles ist offen… alles befindet sich in der Schwebe zwischen Froschgesang und echter und wirksamer Revolte. Quo vadis Deutschland? Dies könnte eine Antwort sein: „Die Piraten positionieren sich (…) mit den Parteien des linken Spektrums.“ (S. 229)


    Frösche haben es gut – sie wissen nichts von ihrem sinnlosen empörten Gequake.

    („Unter Piraten“ Erkundungen in einer neuen politischen Arena, Herausgeber: Christoph Bieber, Claus Leggewie, transcript Verlag, Bielefeld, 248 Seiten, ISBN 978-3-8376-2071-9, Preis: 19,80 Euro, broschiert)


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    Edit: Titel und Herausgeber im Threadtitel ergänzt. LG JaneDoe

    „No way out?“ fragen sich vierzehn Autoren


    Buchtipp von Harry Popow


    Auf der Bühne des Welttheaters ist der Teufel los. Während sich hinter den Kulissen die Finanzmächtigen und ihre politischen Handlanger eine regelrechte Schlacht um Macht und Vorherrschaft liefern, gaukelt man dem Publikum heilbringende Visionen zur Ruhigstellung vor: Mit Rettungsschirmen, Finanzhilfen, Schuldenabbau. Nur die Verkünder dieser Volksverdummung glauben wohl an echte Lösungen.


    Wer blickt da noch durch? Schlimmer: Wen interessiert das? Gemeint ist also die Finanz- und Wirtschaftskrise. Wen ficht es an, wenn er oder sie nicht selbst betroffen ist?


    Ein neues Buch versucht sich in Antworten. „No way out?“ vom Verlag „konkret Texte 56“. Also auf Deutsch „Gibt es keinen Ausweg?“ Vierzehn Autoren bemühen sich, die Krise besser zu verstehen, sie für den Leser näher zu durchleuchten, nach Lösungen zu forschen. Und sie räumen ein, dass das makabre und gefährliche Weltschauspiel nicht einfach zu durchschauen ist. Immerhin: „Die Brötchen sind nicht teurer als ohne Krise, die Auslagen der Läden sind voll wie zuvor, und auch die Arbeitslosigkeit…“ halte sich trotz hohem Niveau in Grenzen. Kurz: „Die Krise hinterläßt im Alltag kaum Spuren.“ (S. 63)


    Nichtsdestotrotz stellt Sahra Wagenknecht, eine der Autoren, fest, nach einer Allensbach-Umfrage sei die Hälfte der Bevölkerung der Ansicht, dass sich der Kapitalismus überholt habe. Nur 18 Prozent würden dieser Meinung widersprechen (S. 99). In ihrem Buch „Freiheit statt Kapitalismus“ hat sie den heutigen Zustand sogar zugespitzt: „Europa ist zu einem Schlachtfeld geworden. Es ist ein Krieg, in dem keine Soldaten marschieren, keine Bomben fallen, keine nächtlichen Explosionen die Städte erschüttern. Es ist ein Krieg, der still zerstört und leise tötet, ein Krieg, dessen Verheerungen erst allmählich sichtbar werden, der aber deshalb nicht weniger brutal und gewaltsam ist.“


    In das gleiche Horn bläst u.a. Rainer Rupp (siehe „junge welt“ vom 26.05.2012): „Für den weiteren Verlauf der Euro-Krise zeichnen sich laut Deutschlandausgabe der International Business Times (IBT) vom Donnerstag »nur noch zwei mögliche Szenarien« ab – und beide seien »für die Menschen in der Euro-Zone katastrophal«. (…) Im ersten Szenario wird darauf verwiesen, daß nach Angaben der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich Kreditinstitute aus Deutschland, Frankreich und Großbritannien Ende 2011 insgesamt mehr als eine Billion Euro in Griechenland, Spanien, Portugal und Italien angelegt hatten. Daher würden die Auswirkungen eines Zusammenbruchs der Euro-Zone weit über den Finanzsektor hinaus gehen. Ähnlich wie im Krisenjahr 2008 wären starke Einbrüche in der realen Wirtschaft und rapide steigende Arbeitslosigkeit vorprogrammiert.


    Warnend meint einer der Autoren auf Seite 30: „Wenn alles so weitergeht wie bisher, wird es in zehn Jahren in Deutschland eine nie gekannte Altersarmut geben.“


    Na und? Geht ein Aufschrei des Protestes durch die Reihen der Zuschauer in diesem Welttheater? Es ist wie es ist: Kritisches Nachdenken, zahlreiche Zweifel bleiben hängen im Gestrüpp der bürgerlichen Meinungsbildung. „No way out?“, fragen also die vierzehn Autoren mit Recht. Um es vorweg zu sagen: Da begegnen einem zahlreiche politökonomische Fachwörter. Es ist angebracht, entweder aus dem einst angeeigneten Wissen zu schöpfen oder ein Wörterbuch der Politökonomie zur Hand zu nehmen. Nicht zumutbar sei für den Normalverbraucher, so die Autoren, nochmals das marxsche „Kapital“ zu durchstöbern.


    Gleichsam eine Ouvertüre dieser Lektüre bildet der erste Beitrag. Da streiten fünf Publizisten, Politikwissenschaftler, Journalisten und Autoren darum, wie die Krise zu begreifen ist und welche Auswege es gibt. Da gibt es keine vorgekaute Lehrmeinung, keine auf absoluter Wahrheit bestehende Äußerung. Im Für und Wider stehen u.a. der Markt, die Kapitalakkumulation, die Verwertungsbedingungen, der Sinn des Euro, der Fiskalpakt, die Ausnutzung der Naturressourcen, die Wertschöpfung, Leistungsbilanzdefizite, Staatsanleihen, die Vergesellschaftung, die Bedürfnisbefriedigung.


    Im Kern geht es in allen Beiträgen dieses anspruchsvollen Buches um die Frage, ob das Gesundbeten am Krankenbett des Kapitalismus überhaupt Sinn macht oder diese Gesellschaft uns alle zerstört? Um an dieser Stelle nur einige Stichworte zu nennen: Es sei, so die Autoren, ein aufgeblähtes Finanzsystem entstanden, das in seinen Ausmaßen nicht mehr zur sogenannten realen Ökonomie paßt (S. 12). Die Mehrwertschöpfung sei verpfändet worden. Die Konkurrenz zwinge die Akteure der Konzerne und der Politik, die vorausgesetzte Verwertung zu exekutieren (S. 16). Durch den Euro sei in Europa ein Defizitkreislauf in Gang gekommen. Die deutsche Exportmaschine hätte die Industrien der Anrainerstaaten sukzessive „plattgemacht“. Die Folge: Die Akkumulation von Verschuldung (S. 17). Das Motiv jeglichen Handelns: Man setze Menschen und Dinge nur ein, um „aus einem Euro zwei zu machen“. Wenn nicht, würde stillgelegt. Geht es um eine bessere Regulierung des Kapitalismus oder um die Abschaffung desselben? (S. 37)


    Die Autoren kommen zu dem Schluß, daß die Krise, die inneren Widersprüche, nicht zu einem Ende dieses Systems führen. Kapitalismuskritik sei zuzuspitzen auf die Formulierung: Die auf dem Wert beruhende Produktionsweise sei zu verändern. (…) Das sei nur möglich, „wenn man auch die Überwindung von Ware und Geld auf die Fahnen schreibt.“ (S. 39) Also eine andere ökonomische Form als Markt. Der Kapitalismus bleibe insgesamt ein „Zumutungsverhältnis“ (S. 47).


    Prognosen, Rezepte? Damit halten sich alle Autoren zurück. Sie plädieren für kleine Schritte, für neue Bewegungen und neue Parteien, für eine Vermögensabgabe der Reichen, für Enteignungen plus Lösungen auf anderen Feldern. So für eine neue Steuerpolitik, für die Entprivatisierung der Systeme der sozialen Sicherung u.a.m. (S. 57). Europa könne in einen Teufelskreis geraten, so schreibt Sahra Wagenknecht, in dem „Ausgabekürzungen zu einer Schrumpfung der Wirtschaft führen…“ Das erhöhe die Arbeitslosigkeit und die Schuldenquote, „was dann wiederum noch schärfere Kürzungen erforderlich macht usw.“ Deshalb gehöre es zur Aufgabe linker Kräfte, „ die aktuelle Krisensituation für die Kritik am Kapitalismus zu nutzen und die Menschen von der prinzipiellen Möglichkeit (…) einer Systemalternative zu überzeugen.“ Es gehe aber nicht um eine abstrakte Systemkritik allein, sondern auch um mittelfristig durchsetzbare Alternativen (S. 107).


    Bedenklich für meine Begriffe ist die Feststellung auf Seite 37, dass es seit dem Wegbruch der Zielvorstellung Sozialismus/Kommunismus keine Antwort mehr gäbe. Ergeben sich Lehren und Alternativen nicht auch aus der jüngsten Geschichte? Weshalb muß nach Fehlversuchen gleich die ganze Idee sterben?


    Vielleicht ist diese politökonomische Lektüre nicht leicht zu verdauen - aber für die noch Nachdenklichen, ganz gewiß aber für solche Leute, die mutig für eine bessere Welt streiten, ist sie unbabdingbar. Für die Linke, für die Partei der Piraten, für die Occupy-Bewegung und für viele andere mehr. Zweifel am Unumstößlichen ist angebracht. „Nothing is more“ – „Nichts geht mehr“ gilt nicht.


    Allerdings müßte das Publikum im Welttheater nicht nur stöhnen und alles hinnehmen, sondern singen – im Chor und mit einer Stimme!!!


    Thomas Kuczynski kleidet seinen Optimismus in den folgenden sehr schönen Satz: „Nichts ist ausweglos und alles spannend.“ (S. 162) (PK)


    („No way out?“ 14 Versuche, die gegenwärtige Finanz- und Wirtschaftskrise zu verstehen, Herausgeber Herrmann L. Gremliza, KVV Konkret GmbH & Co. KG, 190 Seiten, ISBN 978-3-930786-63-3, 19.80 Euro, Autorinnen: Dietmar Dath, Thomas Ebermann, Georg Fülberth, Sam Gindin, Werner Heine, Michael Heinrich, Thomas Kuczynski, Robert Kurz, Justin Monday, Leo Panitch, Moishe Postone, Rainer Trampert, Joseph Vogl, Sahra Wagenknecht)


    (Erstveröffentlichung des Buchtipps am 06.06.2012 in „Neue Rheinische Zeitung“)


    http://cleo-schreiber.blogspot.com


    Edit: Autor, Titel und ISBN ergänzt. LG JaneDoe

    „Das elfte Gebot: Israel darf alles“ (Evelyn Hecht-Galinski) / Buchtipp von Harry Popow


    Wer wagt es, eine „HEILIGE KUH“ zu kritisieren, auch wenn sie furchterregend um sich beißt? Nein, das wagt kaum einer. Erst recht nicht eine gewisse „Anstalt“, deren Auftrag es ja ist, ihre „geistigen“ Abfälle in die Ätherwelt zu schleudern. So am Abend des 30. März. (Gemeint ist die Meldung über den „Marsch auf Jerusalem“, an dem sich Zehntausende beteiligten.) Da wenden sich die von der „KUH“ Geschädigten, die jahrelang Drangsalierten, Entrechteten und Entmündigten in einer Demonstration gegen diese Knechtschaft, auch mit Steinwürfen… Was aber holt die „Medien-Anstalt“ vor die Kamera? Lediglich die Klamotten werfenden „Randalierer“. Sie macht aber keine Anstalten, den eigentlichen Urheber zu benennen. Die „HEILIGE KUH“ bleibt ungeschoren. Sie darf alles…!


    Auch Israel darf alles? Reden wir doch Klartext. So, wie es Evelyn Hecht-Galinski immer gekonnt und mutig macht. In ihren Texten, Schriften, Büchern. Letztens auch in ihrem neuesten mit dem Titel „Das elfte Gebot: Israel darf alles. Klartexte über Antisemitismus und Israel-Kritik.“


    (Palmyra Verlag 69117 Heidelberg 2012, ISBN 978-3-930378-86-9, 224 Seiten.)


    Wenn die Autorin den Staat Israel in den Fokus nimmt, dann bestreitet sie nicht dessen längst anerkannte Existenz. Vor allem geschichtlich bedingt, wer wüßte das nicht. Nein, sie empört sich über das Unrecht, das von ihm ausgeht. Doch kommen wir zur Sache: Auf 224 Seiten und in vierundvierzig kurzweiligen Texten – Artikel, Reden, online-Beiträge – prasseln dem Leser Fakten, Fakten und nochmals Fakten sowie Namen und Orte entgegen. Sie entlarvt das völkerrechtswidrige Tun Israels gegenüber den Palästinensern. Sie sticht zu, wenn es nötig ist, sie analysiert genau, sie betrachtet die Konflikte komplex, sie schlägt einen Bogen zur Mitverantwortung der nur zuschauenden Welt, besonders der Deutschen. Sie wehrt sich entschieden gegen den Vorwurf des Antisemitismus, sie attackiert sogenannte kleinkarierte Wadenbeißer, die unter der vorgegebenen „Staatsräson“ sich den Israelis anbiedern. Und sie wirft dies schmähliche Gebaren nahezu allen etablierten deutschen Parteien vor. Lob und Dank, begleitet von Herzenswärme, findet sie für Gleichgesinnte, die im Namen des Völkerrechts und der Humanität an der Seite Palästinas stehen, die mit Recht Widerstand leisten, ohne auch deren Fehler zu übersehen und kleinzureden.


    Sie, eine Deutsche mit jüdischer Herkunft. Sie, die Tochter des einstigen Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland, Heinz Galinski (1912-1992). Ihr Motiv: „Ich habe mir das Lebensmotiv meines Vaters zu eigen gemacht: ´Ich habe Auschwitz nicht überlebt, um zu neuem Unrecht zu schweigen.´“


    Leuchten wir näher in den Text hinein. Mit welcher Herzenswärme, mit wieviel verinnerlichter Menschlichkeit die unabhängige parteilose Bürgerin das Leid der Palästinenser beschreibt -, das geht einem sehr nahe. Es gehe um einen Konflikt, schreibt sie, „der eigentlich gar keiner zu sein bräuchte, da Israel ganz relaxt in den anerkannten Grenzen von 1967 völkerrechtskonform in Frieden mit seinen Nachbarn existieren könnte.“ (S.36) Sie schreit es heraus: Zwischen 1967 und 1994 wurden etwa 140 000 Palästinser vertrieben, indem ihnen das Aufenthaltsrecht entzogen wurde. 14 000 Einwohnern Ostjerusalems ging es ebenso. Die Siedler – über 300 000 - kontrollieren bereits 42 Prozent des Palästinensergebietes. 2700 neue Wohneinheiten seien geplant. (S. 51) Man spreche von einem „größten Freiluftgefängnis der Welt“. (S. 96) Nicht zu vergessen die „über 10 000 palästinensischen Gefangenen in israelischen Gefängnissen – unter ihnen auch Frauen, Kinder und alte Menschen.“ (S. 132) Seit 1967 wurden 700 000 Menschen verhaftet, die zum Teil bis heute auf ihre Gerichtsverfahren warten. Warentransporte würden nur nach „Lust und Laune“ nach Gaza reingelassen. Gewährleistet seien weder Strom noch Wasser, noch medizinische Versorgung. 40 000 Kinder seien nicht eingeschult worden, da Schulen wegen fehlenden Baumaterials nicht gebaut werden konnten. (S. 97) „1,5 Millionen eingeschlossene Palästinser im Gaza-Streifen und 1400 Tote bei der ´Operation Gegossenes Blut´klagen uns an“, schreibt die Autorin (S. 28) Die Unterschiede zwischen palästinensischen Dörfern und den jüdischen Siedlungen: Wellblechhütten, Zelte, Geröllstraßen und Schlamm. Daneben: Geteerte Straßen, Blumenbeete und Palmenhaine. (S. 212)


    Israel, so charakterisiert die deutsch-jüdische Querdenkerin den Staat, sei heute keinesfalls das arme kleine, von Feinden umzingelte Land. Im Gegenteil, es gehöre zu den hochgerüsteten Militärmächten, die sich nicht scheuen, anderen Staaten mit einem Präventivschlag – auch atomar – zu drohen. (S. 18) Israel existiere seit 63 Jahren auf ehemaligem palästinensischem und seit 44 Jahren auf unrechtmäßig dazugeraubtem Land. (S. 137) Es hält dies Land widerrechtlich besetzt und den Palästinensern entzieht es seine grundlegenden Rechte, seine Freiheit und Unabhängigkeit. Das gehöre vor das Haager Kriegstribunal, so Evelyn Hecht-Galinski. (S. 22) Israel schaffe Tatsachen mit der „Abrissbirne“, aber man siedelt und baut weiter, die „ethnische Säuberung“ halte an. (S. 35) Über 50 000 neue Wohnungen – natürlich nur für jüdische Käufer und Mieter. Palästinenser brauchen keine Wohnungen. Für sie wurden seit 1967 nur circa 600 Apartements gebaut, obwohl mindestens 40 000 gebraucht werden. Eine weitere Enthüllung: Israel sei ein Meister im Tarnen und Verschleiern, wenn es zum Beispiel um das Atomprogramm in Dimona geht, meint die Autorin. Israel findet Unterstützung von AIPAC, der größten Israel-Lobby in den USA. Jahresbudget: 70 Millionen US-Dollar. (S. 116) Auf Seite 210 warnt die Autorin vor einem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen den Iran. Und sie läßt daran keinen Zweifel: Dieser Angriffskrieg wäre nur möglich auch durch die Waffenlieferungen der Schutzmacht USA. (S. 210) Sie nimmt kein Blatt vor den Mund besonders gegenüber den Deutschen. Dem Verteigungsminister hält sie vor, folgende Aussage von Kanzlerin Merkel als unzutreffend ungenügend entkräftet zu haben: Sie habe geäußert, die Sicherheit Israels als deutsche Staatsräson zu betrachten, und das Deutschland im Ernstfall bereit sei, Israel, wenn es den Iran angreifen sollte, zu unterstützen. Und wer klagt die Hamas einseitig als schuldig an? Frage an die Kanzlerin: Verwechseln sie da nicht Ursache und Wirkung? Die vollständige Blockade sei die Ursache, die Wirkung sind die Kassam-Raketen. (S. 19) Das Grundgesetz bezeichnet die Deutsch-Jüdin als Makulatur, mit der proklamierten Staatsräson nicht vereinbar. Weiter: Die würdigste Form der Holocaust-Erinnerung: Sich das Recht nehmen als Deutsche, aktuelle Verbrechen anzuprangern. (S. 43) Die scharfsichtige Autorin polemisiert, es gehe nicht darum, einseitig und parteiisch zu sein, sondern um Recht und Unrecht. Mit der angeblichen „Selbstverteidigung“ Israels, verhöhne es die Völker. Wenn Politiker Verbrechen gegen die Menschlichkeit rechtfertigen, dann geißelt sie deren „vorauseilenden Gehorsam“. (S. 93) Jede Israel-Kritik sei als Antisemitismus zu bewerten? Wörtlich dazu Evelyn Hecht-Galinski: „Ich bemerke auch immer mehr, daß diese schleichende Politik der Verdummung in Deutschland ihre Wirkung zeigt. Die Bevölkerung weiß immer weniger über die wirklichen Zusammenhänge dieser politischen Intrigen Bescheid.“ (S.129)


    Und sie, die enorm treffend komplex denkt, scheut sich auch nicht, die tieferen Ursachen ohne Wenn und Aber beim Namen zu nennen: Sie kreide die Verlogenheit der gesamten westlichen Politik in dieser Region an, die „primär von Wirtschaftinteressen bestimmt ist“. (S. 112) Sie warnt, durch die Menschen- und Völkerrechtsverletzungen sowie die Kriegsdrohungen und Angriffe, die man dem jüdischen Staat durchgehen läßt, „wird die internationale Politik massiv in Gefahr gebracht“. (S. 195) Wer wundert sich da, wenn sich die deutsch-jüdische Aktivistin und scharf politische Seherin für diesen Staat Israel schämt, der nicht in ihrem Namen spricht und handelt.


    Ihre Sprache: Locker, sehr persönlich, sehr emotional, überaus engagiert, teilweise mit Wut im Bauch – warum nicht? Es überwiegen kurze Sätze mit hoher Anschaulichkeit. Dafür sorgen u.a. die immer wiederkehrenden bohrenden Fragen – an die Politik, an die Bürger, an sich selbst.


    Im Nachwort stellt Gilad Atzmon fest, die Humanistin Evelyn Hecht-Galinski erhebe ihre unschätzbare Stimme nicht als Einzelperson, sondern „gesellt sich zu der wachsenden Zahl von Juden, die sich von ´Stammesdenken´, Chauvinisnus, Überlegenheitsdünkel und Auserwählten verabschiedet haben“. (S. 217) Nicht zuletzt empört sich die Autorin auch mit Stephané Hessel gegen gegebene gesellschaftliche Zustände. (S. 121)


    Wer ihr Buch gelesen hat, wird es bereichert zunächst zur Seite legen – erkenntnismäßig, gefühlsmäßig. Und wiederholt hineinsehen müssen, wenn „Anstalten“ wieder einmal die Wahrheit auf den Kopf stellen. Ganz gewiß wird diese Lektüre der mutigen und politisch hellwachen Kassandra ebenso für Anbeter der „HEILIGEN KÜHE“, für Politiker mit „vorauseilendem Gehorsam“, wie die Autorin schreibt, ein wahrer Genuß sein. Mögen diese dabei die Gardinen an ihren Fenstern zuziehen…Noch!!


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    Buchtipp von Harry Popow


    Lebensläufe sind immer interessant. Dazu die Lebensumstände, die Motive, die Erkenntnisse, die Illusionen. „Gedächtnislücken“ heißt das Buch, das ich soeben mit Spannung gelesen habe. Zwei Deutsche im Dialog. Der Politiker Egon Bahr und der einstige Kabarettautor der DDR Peter Ensikat. Keine Unbekannten, weder in Ost noch in West. Was sie über die jüngere deutsche Geschichte sagen, woran sie sich erinnern, worauf sie persönlich stolz sind, was sie als schändlich empfinden, welche Zweifel oder Illusionen sie auch heute noch haben – das ist mehr als aufschlußreich. Geschichtsdaten werden wieder lebendig vor Augen geführt, Unbekanntes, ja bisher geheim gehaltenes, ausgeplaudert, aber auch Kritik geübt an unhaltbaren gesellschaftlichen Zuständen.


    Egon Bahr, 1922 in Thüringen geboren, berichtet als einstiger Leiter des Planungsstabes im Auswärtigen Amt und engster Berater von Bundeskanzler Willy Brandt von Politik der „Wandlung durch Annäherung“ (sprich neue Ostpolitik), auf welche Widerstände er dabei besonders bei der CDU stieß, welche komplizierten Wege er gehen mußte, um vor allem mit Moskau und mit der DDR-Führung ins Gespräch zu kommen. Immer wieder betont er, man wollte durch die neue Ostpolitik etwas für die „kleinen Leute“ tun, sowohl die in der DDR als auch für die Westdeutschen. Die DDR nannte das „Aggression auf Filzlatschen“, unwidersprochen von BRD-Seite.


    Peter Ensikat, geboren 1941 in Finsterwalde, gehörte zunächst zum Autorenkreis der „Distel“ und war ab 1999 bis 2004 deren Künstlerischer Leiter. Er gesteht unumwunden ein, stets auf den Westen fixiert gewesen zu sein, wie viele andere auch. Nur die Umstände hätten ihn veranlaßt, sich in der DDR „anzupassen“. Ihn hielt u.a., dass die DDR ein besseres Theaterleben vorweisen konnte, dass es hier mittlerweile einen gewissen Wohlstand und mehr und mehr Freiräume für die Kultur gab.


    Beide Dialogpartner sind sich einig in ihrer Antikriegshaltung, in der Verurteilung der schlimmen Verunglimpfung der DDR, indem man sie mit der Hitlerdiktatur vergleicht, in der Kritik an der Allmacht des Geldes, in der Verurteilung von oberflächlichen Geschichtseinschätzungen, in der Ansicht, daß Erich Honecker 1979 großen Mut gezeigt habe, die Stationierung der Pershing II in der BRD und der SS 20 in der DDR als Teufelszeug zu verurteilen. Dagegen habe dann Bundeskanzler Kohl, sagte Egon Bahr, diesen Mut nicht aufgebracht. Und so wurden die Mittelstreckenraketen in Westdeutschland stationiert, was ihn, Egon Bahr, mit großer Sorge erfüllt hatte.


    Interessant auch die Offenbarungen durch den Politiker: Natürlich habe man auf beiden Seiten den Kalten Krieg geschürt, selbstverständlich sei der RIAS daran aktiv beteiligt gewesen, klar habe man in der BRD über die Verhältnisse gelebt und wahr sei auch, daß der Osten den Westen gezwungen habe, soziale Fragen stärker zu beachten. Anerkennung auch für DDR-Produkte, die nach der BRD ausgeführt wurden, sie seien erstklassig gewesen. Was die Eigentumsverhältnisse betrifft: Er sei gegen den Beschluß Rückgabe vor Entschädigung gewesen. Deckungsgleich die Meinungen, man hätte die Vorteile beider Systeme nutzen sollen, was aber nicht geschah.


    Beide Gesprächspartner sind der Illusion verhaftet, die europäische Einigung wäre ein Glück für die Völker, für die kleinen Leute, bemerken aber mit Bedauern, dass die innere Einheit in Deutschland nicht erreicht wurde. Diese habe man im Westen unterschätzt, die mentalen Unterschiede. Angesichts der Übermacht des Geldes beklage Egon Bahr auch die zunehmende Perspektivlosigkeit.


    Wenn er allerdings auf Seite 101/102 mitteilt, der Mensch ändere sich nicht in seiner „Grundsubstanz Liebe, Macht, Reichtum, Einfluß“… und der Kommunismus sei damit zum Untergang verurteilt, dann darf er sich über seinen Pessimismus nicht wundern. Hat er nicht aktiv dazu beigesteuert, jenes System aus der Welt zu schaffen, dass trotz der Widersprüche gerade den „kleinen Leuten“ ein sozial sicheres und friedliches Zuhause gegeben hatte? Gedächtnislücken? Der Kapitalismus auf Samtpfoten, das zielte erfolgreich auf Verdummung der kleinen Leute. Zielte…


    Sollten jene ein anderes System einst einfordern wollen und müssen, die Herrschenden stürmten nicht auf leisen Sohlen daher…


    Insgesamt ein sehr lesenswertes Buch, besonders für Leute mit wachem politischen Interesse.


    (Egon Bahr, Peter Ensikat, Gedächtnislücken. Zwei Deutsche erinnern sich, Aufbau Verlag, Berlin 2012, 204 Seiten, 16,99 Euro, ISBN 978-3-351-02745-2)


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    Edit: Autoren, Titel und ISBN ergänzt. LG JaneDoe

    Was bringt uns die Zukunft? Kürzlich war ich auf einer Montagsdemo in Friedrichshagen. Gegen Fluglärm und Profitmaximierung. 3000 Leute auf dem Marktplatz. Die Ursachen für "demokratische" Verarschung? Die liegen auf der Hand. Immer dasselbe... Und vor jeder tieferen gesellschaftlichen Ursache - das kann man sehr genau verfolgen - steht ein Umgehungsschild. "Empört Euch!", fordert der Franzose Stéphane Hessel. Ein Bestseller. Verlegt bei "Ullstein".
    Ich befürchte: Diejenigen, die die aus der Presse gelieferten Totschlagwörter bedenkenlos nachplappern, passen sich wieder einmal an. Das ist ja so schön bequem. Wofür stehen denn die Kritikaster? Haben die eine verändernde Idee?
    Harry

    Nachhilfe für Ewiggestrige


    Wie nicht anders zu erwarten: Das Buch mit dem Titel "Ohne die Mauer hätte es Krieg gegeben" von Armeegeneral a.D. Heinz Keßler und Generaloberst a.D. Fritz Streletz (edition ost, 220 Seiten), wirft gehörig Staub auf. Zerrt es doch ans Licht, was allzu gerne totgeschwiegen wird: Die Schuld des Westens am Kalten Krieg, der ein heißer zu damaliger Zeit zu werden drohte. Und nach der sogenannten Wende fürchten die Kapitaloberen und ihre Marionetten in der Politik nichts so sehr wie ein Dacapo einer echten Alternative zum jetzigen Herrschaftssystem. Das sind sie - die echten Ewiggestrigen, die von einer dringend notwendigen Veränderung des Gesellschaftssystems nicht nur nichts halten, sondern jede Idee zum Besseren für das Wohl der Menschheit mit Füßen treten und jede Idee dahin im Keime ersticken wollen.


    Das ist in der krisengeschüttelten Gegenwart nicht verwunderlich, ruft doch selbst so ein gestandener Mann wie der Franzose Stéphane Hessel dazu auf, sich gegen das weltweit agierende Finanzkapital zu erheben, sich zu empören. Ist es doch eine Frage des Überlebens geworden, den nationalen und internationalen Profitjägern, Verdummern, Lügnern, Geschichtsfälschern mit knallharten Tatsachen ins Handwerk zu pfuschen. Deshalb auch dieser Stich ins Wespennest: Die beiden NVA-Militärs schreiben Klartext. Faktenreicher gehts wirklich nicht - endlich ist es da, das sehr gründlich recherchierte, für die Geschichte so wichtige Buch.


    Wie viele andere hatte auch ich kürzlich die Freude, es anläßlich der ersten Mitgliederversanmmlung des Traditionsverbandes der NVA e.V. nicht nur schlechthin zu kaufen, sondern es von den Autoren signieren zu lassen: Die 220 Seiten habe ich in nur wenigen Stunden regelrecht "verschlungen". Natürlich liest man Bekanntes, Ablauf und Gründe für den Bau der "Mauer". Richtig interessant und bisher weitgehend unbekannt sind die in die Tiefe gehenden Passagen, die - weiter ausholend - die Fakten im Zusammenhang betrachten, so zum Beispiel, als bereits im Frühjahr 1945 in der Schweiz mit der Geheimoperation "Sunrise" der eigentliche Anstoß für den Kalten Krieg gegeben wurde. Ganz zu schweigen vom Verlauf der internen und offenen Kriegsvorbereitungen nach 1945 gegen die Sowjetunion und die anderen sozialistischen Länder. Ich erspare mir hier die zahlreichen und unwiderlegbaren Details der Kausalkette des knallharten Kampfes gegen den Osten anzuführen. Nicht unerwähnt soll sein: Auch dadurch wird der "Nur-Rührseligkeits-Welle" mit Tränen der Opfer die Einseitigkeit genommen. Die Reduzierung großer politischer Zusammenhänge aufs Detail, aufs Pars pro toto (Teil fürs Ganze), wie es im Stilistischen heißt - das ist Methode!! (Geht es den Hassern des Fortschritts etwa um die Menschen, um deren Schicksale? Sie werden nur benutzt, denn da spielen ganz andere Dinge eine Rolle und die Heuchelei feiert ihre Triumphe!!)


    Es ist nicht nur unverschämt und zeugt von einer Nicht-Gewollten-Wahrheitsfindung, wenn die jetzigen Machthaber samt ihrer Medien zum Beispiel vom Verhöhnen der "Opfer" des Mauerbaus faseln. (Jedes Opfer ist immer eins zuviel, aber ohne zusammenhängendes Denken und Analysieren gelangt man nicht zur Wahrheit.) Vergessen sind also die insgesamt etwa 80 Millionen Toten des II. Weltkrieges? Und die 17 Millionen des I.Weltkrieges? Und wenn man die 70 Millionen Opfer dazurechnet, die es bei einer bewaffneten Auseinandersetzung allein in den USA gegeben hätte? (Siehe im Klappentext Kennedys Aussage!!) Ich wage gar nicht die tödliche Leere und Stille im europäischen Raum nach einem großen Knall zu beziffern! Und wer verhöhnt vor allem diese Opfer? Nicht diejenigen, die dem Kriege und deren kapitalherrschaftliche Ursachen endgültig den Garaus machen wollten, sondern jene, die um die Ursachen von weltweiten Konflikten große Bogen machen und alle Schuld auf "Terroristen", auf "Linksradikale", auf jene lenken wollen, die nicht müde werden - dankenswerterweise - der Welt eine andere, friedvollere Perspektive zu geben. Nicht, weil sie es möchten, sondern weil es längst nach zwölf Uhr ist, den Ewiggestrigen mit Worten und Argumenten, mit Demonstrationen und mit der gesamten breiten Palette der Kunst und Kultur in den Arm zu fallen. Dafür stand auch die DDR ein. Dafür und darum stand die "Mauer", von der Kennedy einst sagte, sie sei nicht schön, aber tausendmal besser als Krieg. Möge die neuerliche Mauer zwischen Ost und West, zwischen oben und unten, zwischen Arm und Reich, zwischen Dummköpfen und Sehenden Stück für Stück durchlöchert werden - so wie das die hochbetagten und verdienstvollen beiden NVA-Generäle ihr Leben lang und mit diesem wunderbaren Buch getan haben. Wer heutige gesellschaftliche Widersprüche mißachtet, sie nicht sehen will, macht sich wieder einmal mitschuldig - wie 1933 und danach... Deshalb die nachdrückliche Nachhilfe für Ewiggestrige.
    Oberstleutnant a.D. Harry Popow


    Edit: Autorennamen im Threadtitel ergänzt. LG JaneDoe

    Habe verpaßt, mich anzumelden. Hole es hier nach:


    Geboren 1936 in Berlin Tegel, erlebte ich, Henry Orlow (siehe Buchtipp „In die Stille gerettet“), alias Harry Popow, noch die letzten Kriegsjahre und Tage. Ab 1953 war ich Berglehrling im Zwickauer Steinkohlenrevier. Eigentlich wollte ich Geologe werden, und so begann ich ab September 1954 eine Arbeit als Kollektor in der Außenstelle der Staatlichen Geologischen Kommission der DDR in Schwerin. Unter dem Versprechen, Militärgeologie studieren zu können, warb man mich für eine Offizierslaufbahn in der KVP/NVA. Doch mit Geologie hatte das alles nur bedingt zu tun… In den bewaffneten Kräften diente ich zunächst als Ausbilder und später als Militärjournalist. Das Zeugnis Diplomjournalist erwarb ich im fünfjährigen Fernstudium. Nach Beendigung der fast 32jährigen Dienstzeit arbeitete ich bis zur Wende als Journalist und Berater im Fernsehen der DDR. Von 1996 bis 2005 lebte ich mit meiner Frau in Schweden und kehrte 2005 nach Deutschland zurück. Ich bin glücklich verheiratet und habe drei Kinder und zwei Enkel.