Original von Nicole
OT: The First Verse
Kurzbeschreibung
(aus amazon.de zur deutschen Ausgabe "Die Poeten der Nacht" reinkopiert)
Lesensgefährlich: Barry McCrea hat einen fulminanten Roman über den geheimnisvollen Kosmos der Worte geschrieben. Sein Held wird Mitglied im rätselhaften Club der Literati und betritt eine nachtdunkle Welt der Erotik und der Weisheit - es wird ein Spiel auf Leben und Tod. Als Niall Lenihan sein Studium im altehrwürdigen Trinity College zu Dublin antritt, ändert sich sein Leben auf magische Weise. Er trifft Studenten, die des Nachts in alten Büchern lesen, als ginge es um ihre Seele. Es sind »Literati«, Angehörige eines verborgenen Ordens, die einem alten Kult frönen: Mit Hilfe von »Sortes«, schicksalsschweren Textstellen aus alten Büchern, sind sie der Zukunft und dem Mysterium des Lebens auf der Spur. Niall verfällt den Literati und den Sortes. Zu spät merkt er, dass sie sein Leben gefährden. Spannend und abenteuerlich, kunstvoll und verführerisch: Barry McCrea hat einen ungewöhnlichen Roman über das Lesen und die Literatur geschrieben. Mit diesem brillanten Buch reiht er sich in die Gilde der großen irischen Autoren ein.
Über den Autor
(aus der engl. Ausgabe von mir übersetzt)
Barry McCrea stammt aus Dublin, wo er Spanisch und Französisch am Trinity College studierte. Seit 2004 lehrt er Vergleichende Literaturwissenschaft an der Yale University. Dies ist sein erster Roman.
Meine Meinung
Beim Kauf und der Lektüre des Buches bin ich Opfer der amazon-Kurzbeschreibung, des englischen Klappentextes und v.a. des deutschen Titels geworden.
Bei "Die Poeten der Nacht" drängte sich mir sofort die Assoziation an die "School of Night" auf, einen legendären Kreis von Intellektuellen um Christopher Marlowe Ende des 16. Jahrhunderts in England. Und der Inhalt ließ mich eine Mischung aus "Der Club der toten Dichter" und Dan Brown vermuten.
Weit gefehlt.
Niall kommt aus einer Kleinstadt nach Dublin, um mit einem Stipendium sein Sprachenstudium am Trinity College zu beginnen. Die Großstadt und das Studentenleben sind eine Offenbarung für ihn: nicht nur, dass er in Dublin endlich seine bisher im Verborgenen gehaltene Homosexualität ausleben kann - er lernt durch Zufall auch John (zu dem er sich sofort hingezogen fühlt) und Sarah, dessen Freundin, kennen. Die beiden verbringen ihre Zeit fast ausschließlich damit, jede Entscheidung und Handlung davon abhängig zu machen, aus willkürlich aufgeschlagenen Büchern Zeilen herauszupicken und die Antworten auf ihre Fragen daraus herauszuinterpretieren. Auf der Stelle ist Niall davon fasziniert und läuft den beiden buchstäblich hinterher, bis sie ihn widerwillig ins Vertrauen ziehen. Sehr schnell verliert Niall den Bezug zur Realität, verstrickt sich in das obsessive Nachschlagen, in seltsamen séance-ähnlichen Sitzungen, in denen Buchpassagen so schnell reihum gelesen werden, bis er halluziniert. Er schläft nicht mehr, vernachlässigt sein Studium, seine Familie und "echte" Freunde wie seinen Schulfreund Patrick, seine Mit-Stipendiatin Fionnuala und vor allem Chris, seinen Liebhaber, der in Charakter, Herkunft und Interessen ein "reales" Gegengewicht zu der "irrealen" Welt von John und Sarah darstellt. Niall gelingt in einem Kraftakt der Ausstieg aus der Scheinwelt des Bücherorakels, doch nur kurze Zeit später erliegt er dieser Verlockung wieder und reist nach Paris, um John, der sich auf der Suche nach der verschwundenen Sarah dort aufhält, zu finden.
Ich bin ziemlich hin- und hergerissen, was dieses Buch betrifft.
McCrea schreibt brillant, und ich konnte das Buch kaum aus der Hand legen. Vielleicht, weil ich auf irgendeinen Knüller, ein Highlight gehofft habe. Doch beides habe ich bis zur letzten Seite vergeblich gesucht - lassen wir einmal die Séance von Niall, John und Sarah in Kapitel vier außer Acht, die wirklich großartig und packend geschrieben ist.
Ich fand den Roman nicht halb so dramatisch, wie es Klappentext und Kurzbeschreibung erwarten lassen. Die "Gefahr" für Niall besteht in seinem Realitätsverlust, der nicht nur sein Stipendium gefährdet, sondern auch seinen Gesundheitszustand. Dabei bleibt er als Charakter jedoch sehr blass. Dies ist für mich überhaupt die größte Schwäche des Buches: es ist sehr nüchtern, richtiggehend kühl geschrieben, die Charaktere bleiben oberflächlich, ihre Emotionen allenfalls angedeutet, kaum spürbar.
Möglicherweise ging es dem Autor genau darum - Charaktere zu schildern, die keine Tiefe haben, die sich aus ihrem langweiligen Dasein heraus in Obsessionen verstricken, die ihnen einen Halt bieten, den sie weder in ihrer Umwelt noch in sich selbst finden.
Bei mir hat diese Erzählweise jedoch bewirkt, dass ich wenig mit den Protagonisten anfangen konnte und noch weniger Empfindungen ihnen gegenüber hatte. Niall mit seinem unentschlossenen Schlingerkurs nervte mich irgendwann nur noch, und ich konnte zwar in gewisser Weise nachvollziehen, was ihn so an John und Sarah und dieser Orakelei fasziniert, aber wirklich glaubwürdig wirkte er dabei auf mich nicht. Irgendwann wirkten mir auch die Antworten per Buchzitat auf Nialls Fragen zu konstruiert, zu perfekt, und den Schluß fand ich gleich völlig franselig und unbefriedigend.
Ich bin voller Vorfreude und mit hohen Erwartungen an das Buch herangegangen, habe die Lektüre nicht bereut, war letztlich aber froh, es ausgelesen und vor allem nicht viel Geld dafür ausgegeben zu haben. Vor allem aber hat es keinen besonders tiefen Eindruck bei mir hinterlassen...