Zitat
Original von Iris
(...) Wir hantieren mit Begriffen, die früher ganz andere Bedeutungen hatten -- nicht nur für die Menschen selbst, sondern auch als Bedeutungsinhalt eines Wortes.
Was wir heute Freiheit nennen, ist mitnichten dasselbe, nicht einmal das Gleiche wie das, was in der Antike diejenigen Begriffe bedeuteten, die wir heute mit "Freiheit" übersetzen. Von Liebe und dem Umgang mit dem Tod mal ganz zu schweigen!
Gerade diejenigen Storys, die so tun, als hätte es vor 2000, vor 1500, vor 1000 oder vor 500 Jahren mal jemanden gegeben, der aus heiterem Himmel heraus "modern" gedacht und das zu leben versucht hätte, sind nur dem Kopf des Autors entsprungen und haben mit der jeweiligen historischen Wirklichkeit nichts, aber auch rein gar nichts zu tun.
Hallo Iris,
Du hast Recht und doch wieder nicht ... Es gab zu allen Zeiten Menschen, die aus der Reihe tanzten, die in einer Art und Weise dachten, die "aus der Zeit herausfiel", und es ist - für mich als Autorin wie auch als Leserin - sehr interessant, mich mit diesen Menschen zu beschäftigen - sie sagen uns auch etwas über unsere Zeit. Zwei meiner Romane wurden zwar auch als "historisch" vermarktet, aber ich bin nicht so weit in der Zeit zurückgegangen, sondern schreibe über das 19./Anfang 20. Jh. Du hast Recht: Die Begriffe sind gleich geblieben, aber ihre Bedeutung wechselt - Freiheit zum Beispiel, klar, auch die Rolle der Frauen.
Aber so ist es doch auch in der Gegenwart: Hier ist die Verschiebung sozusagen horizontal, während sie in den historischen Epochen vertikal ist ... einmal auf die Region bezogen, einmal auf die Zeit. Was Freiheit bei uns ist, bedeutet(e) sie im Sozialismus noch lange nicht, oder man denke an die teilweise verqueren Abhandlungen der Terroristen in den 1960ern, oder, ganz aktuell, die "Begründungen" von islamistischen Terroristen für den "heiligen Krieg".
Nichtsdestotrotz glaube ich, dass es möglich ist, das Gefühl und eine "Ahnung" einer vergangenen Zeit heraufzubeschwören, und es gibt durchaus Möglichkeiten, sich dem Denken der "Damaligen" anzunähern: Man lese einfach Literatur aus dieser Zeit, man studiere Briefe, Tagebücher, Zeitungen (gut, das gab`s im Mittelalter noch nicht ), und sicher sind auch diese Quellen nicht immer der Weisheit letzter Schluss. Ein Problem, das aber auch auf die heutige Zeit übertragbar ist, da private Aufzeichnungen vor allem die Sicht desjenigen spiegeln, der sie verfasst - das muss nicht unbedingt die Mehrheitsmeinung oder gängige Meinung einer Zeit sein.
Bei meinen Recherchen bin ich auf sehr interessante und durchaus "unangepasste" Zeitgenossen gestoßen: Paul Ehrlich zum Beispiel, der sehr unkonventionell war und Frauen als Mitarbeiterinnen schätzte (was damals eher ungewöhnlich war), auf den heute berühmten und damals noch unbekannten Arzt Alzheimer, der unbeirrt seine Studien durchführte, oder den berühmten Heinrich Hoffmann, der als Arzt seiner Zeit weit, weit voraus war: Er war der Meinung, dass man "Irre" nicht einsperren sollte und Kinder nicht mit langweiligen Geschichten zutexten, und außerdem solle man als Arzt mit einem Lächeln auf den Lippen ins Krankenzimmer kommen. Kleinigkeiten, aus heutiger Sicht betrachtet, damals unkonventionell. Und das Vorbild für meine Heldin aus Roman 1 war eine Bürgerstochter, die nicht lesen durfte, was in der Bibliothek des Vaters stand und es heimlich tat, und im die "Heldin" im zweiten Roman war das Alter Ego der ersten Polizistin in Deutschland, die 1903 ihren Dienst antrat - eine SEHR unkonventionelle Frau.
Ich könnte das seitenweise fortführen, will damit aber nur deutlich machen, dass es sehr wohl möglich ist, "authentische" historische Figuren zu erschaffen und nicht nur ein authentisches historisches Setting. Ich bin sowieso der Meinung, dass das eine ohne das andere gar nicht wirken kann. Einschränkend muss ich aber sagen, dass ein "gewisser" Anpassungsprozess dennoch vonnöten ist, und das fängt schon bei der Sprache an. Zwar kann man versuchen, gewisse Ausdrücke zu übernehmen, aber man darf es nicht übertreiben, da sonst der Leser aus der Geschichte gerissen wird. Man hat einfach früher anders gesprochen - aber wenn man sich ein bisschen mit der Entwicklung von Sprache befasst, wird man feststellen, dass schon in der Sprachentwicklung zwischen der Nachkriegszeit und heute ein gewaltiger Sprung ist ... Und sogar zwischen den 1960er Jahren und heute ... Oder, noch enger an der Gegenwart: Ich weiß nicht, wer sich noch an den ersten "Schminanski-Krimi" erinnert? Damals war es DER Aufreger, dass ein deutscher Kommissar das Wort "Scheiße" in den Mund nahm, und das auch noch mehrfach, vom unmöglichen Outfit ganz zu schweigen. Heute sagt das jedes Kind im Kindergarten und noch mehr dazu. Schon diese Zeit herbeizurufen, ist fast unmöglich.
Wenn man also über Vergangenes schreibt, ist das immer ein Kompromiss. Man muss Dinge erklären, auf eine Art, dass es der gegenwärtige Konsument/Leser verstehen und in sein Wertesystem einpassen kann. Das heißt aber für mich nicht, dass ich historische Figuren verbiege. Ich sehe es eher als Akt der "behutsamen Interpretation".
Wieder ein Beispiel aus meinem (zweiten) Roman: Es geht um Kinderhandel, um Adoptionsbetrügerei - schlimme Dinge, die damals zum einen "fast offen" in der Zeitung standen, die aber auch genauso kritisiert wurden wie man sie heute kritisieren würde. Und Frauen, die sich "durchgebissen" haben, gab es zu allen Zeiten, allerdings damals sehr, sehr viel weniger als heute. Und mit für sie schlimmeren sozialen Folgen. Es ist wohl eher die "Masse an Heldinnen" und ihr zu modernes Vokabular, das viele Leser von HR abtörnt. Aber so MUSS man es ja nicht schreiben
Viele Grüße
Nikola