Der letzten Meinung kann ich uneingeschränkt zustimmen. Ich habe mir das Buch hocherfreut vom Remittendenstapel gezogen und im Urlaub gelesen, weil ich zufällig Wilkie Collins sehr schätze.
Die immer wieder geäußerte Überzeugung des Erzählers Collins, wahrscheinlich sei in ferner Zukunft (also unserer Zeit) Dickens noch hochaktuell und Collins selbst vergessen, nimmt sich schon etwas merkwürdig aus. Es ist bekannt, dass beide befreundet waren und Collins immer etwas eifersüchtig auf Dickens' Erfolge war, aber in dem Buch betrachtet er Dickens' Werke äußerst ambivalent. Manchmal verreißt er Romane von Dickens schonungslos, zb "Bleak House". Dann wieder stellt er demütig fest, dass Dickens eindeutig der bessere Stilist sei.
Darüber hinaus ist die Charakterisierung von Collins als Erzähler von einem durchgehenden "moralischen Abstieg" gekennzeichnet - ich will nicht zuviel verraten; es wurde ja erwähnt, dass er opiumsüchtig ist (war Collins auch tatsächlich); einiges von dem, was er im Lauf des Romans tut und denkt, mag darauf zurückzuführen sein. (Ich wusste oft auch nicht so recht, was er tatsächlich tut und was er sich einbildet zu tun ...)
Angeblich hat Simmons sehr sorgfältig recherchiert. Ich hatte noch keine Gelegenheit, dem nachzugehen, aber zumindest der grobe Rahmen (beide Romanciers lebten unverheiratet mit ihren jeweiligen Geliebten zusammen; Dickens war verheiratet, hat sich aber von seiner Frau getrennt, als er sich einer jungen Schauspielerin zuwandte) ist authentisch.
Wenn man sich generell für das Leben und Wirken der beiden Hauptpersonen interessiert, lohnt sich der Roman. Allerdings hat er, wie schon mehrfach angemerkt, gewaltige Längen, und Simmons' Gewohnheit, viele Kapitel auf dem Höhepunkt abzubrechen und den Ausgang des Abenteuers recht trocken irgendwann später nachzutragen, nervt ein wenig.
Grüße von Zefira
/edit: noch ein Nachtrag, falls sich jemand für die Hintergründe des tatsächlichen "Mystery of Edwin Drood" interessiert: Dass das Buch unvollendet geblieben ist, es offenbar auch keine Materialien gibt, aus denen man den von Dickens geplanten Ausgang schließen könnte, hat schon mehrmals die Phantasie von Autoren angeregt. So gab es eine junge Frau, ich glaube eine Engländerin, die behauptete, Dickens' Geist habe sich bei ihr gemeldet und sei gewillt, ihr den Rest des Romans zu diktieren. Sie schrieb tatsächlich das Buch fertig und es wurde auch gedruckt. Ich habe in einem populär-parapsychologischen Buch, wie sie in den Achtzigern modern waren, darüber gelesen. Angeblich fanden Dickens-Spezialisten an der Fassung der jungen Engländerin nichts auszusetzen.
Von dem italienischen Autorenpaar Fruttero - Lucentini gibt es ein Buch mit dem Titel "Die Wahrheit über den Fall D." Es bettet das Drood-Fragment in eine Rahmenhandlung ein und wartet auch mit einer Lösung auf, aber an Einzelheiten kann ich mich nicht erinnern, nur dass es eine vergnügliche Lektüre war. Ich werde es mir jetzt noch einmal heraussuchen - und danach "Bleak House" wiederlesen