Ich habe dieses Buch jetzt auch gelesen und habe ein schwieriges Verhältnis dazu entwickelt. Es ist das erste Buch, dass ich von Judith Hermann gelesen habe.
„Vom Schweigen und Verschweigen im Schreiben" lautet der Untertitel der Vorlesungsreihe, und damit weist sie auf ein Strukturprinzip ihres Schreibens und auch dieser Vorlesungsreihe hin. Sie verschweigt ihren Zuhörern ihre tatsächliche Biografie und versteckt sich hinter einem Erzähler-Ich, aber „Diese Erzählerin ist Ich. Und sie ist ein Traumbild. Ich träume sie, und sie träumt mich.“ Damit versperrt sie ihren Zuhörern bzw. Lesern den Einblick in ihr Privates, obwohl sie genau das vorgibt zu tun.
Die Autorin schreibt von Begegnungen mit Menschen in ihren Leben/dem Leben der Ich-Erzählerin. Sie trifft Menschen, beschreibt, dass sie einige Stunden mit ihnen zusammen ist, aber es gibt so gut wie keine beschriebene Unterhaltung mit diesen Menschen. Die erste Hälfte des Buches kann ich mich eines Edward-Hopper-Eindrucks nicht erwehren. Menschen sitzen zusammen an einer Bar und sie reden nicht miteinander. Die Szenen sind sprachlich hervorragend geschrieben und man merkt, dass die Autorin sehr geübt im Umgang mit Sprache ist, so wie auch Edward Hopper hervorragende Bilder gemalt hat. Das Gefühl der Einsamkeit oder Melancholie macht sich bei mir breit. Ich fange an, die Autorin zu analysieren, nicht die Ich-Erzählerin, und frage mich, was sie dem Leser mitteilen möchte.
Will sie dem Leser ihre Gedankenwelt näherbringen? Das klappt vielleicht im hinteren Teil des Buches.
Ist sie noch im Prozess der Psychoanalyse steckengeblieben? Dafür spricht, dass die Details der Treffen mit Menschen sachlich dargestellt werden.
Will sie den Leser mitnehmen in einen Teil ihres Lebens? Sicher nicht, siehe auch das Zitat von dracoma.
Ich komme zu der Erkenntnis, dass es in diesem Buch an Gefühl fehlt. Ich fühle nicht mit der Ich-Erzählerin. Es gibt einfach keinen Anhaltspunkt für Gefühle.
Die Autorin beschreibt, dass sie von jeder Geschichte (Episode) mehrere Versionen schreibt und dann alles in einer Version zusammenfasst. Ich garantiere, dass ein Grund für dieses Vorgehen die präzise Entfernung aller möglichen Gefühle ist, die sich vielleicht eingeschlichen hatten.
Als sie von der Begegnung mit Jon schreibt, ändert sich das Buch. Jon redet vom 'Aufmachen'.
"Ich sage, weisst du, wie man aufmacht. Weisst du, wie das geht?
Er sagt entschlossen, ich weiss das, ja.
Ich sage, gut. Ich weiss es nämlich nicht."
Zwei Seiten später kommt die Ich-Erzählering zu der Erkenntnis: "Aufmachen ist absolut gefährlich."
Liebe Judith Hermann, man nennt das das Zulassen von Gefühlen, kurz LEBEN. Ja, es ist gefährlich, denn man kann enttäuscht werden, aber es kann auch jede Menge Spass machen. No risk, no fun.
Danach werden mehrere philosophische Gedankengänge ausgebreitet und weniger Episoden erzählt. Immerhin erfährt man ein klein wenig von einer Unterhaltung mit ihren Eltern. Das ist doch schon mal ein Anfang.
Für mich persönlich komme ich zu dem Entschluss, dass ich, nur für mich, kein weiteres Buch von Judith Hermann brauche, denn ich komme mit ihrer Art zu schreiben nicht zurecht.