Ich habe über Bernhard nachgedacht: Ich könnte mit ihm vermutlich nicht das Bett teilen. Es ist ja kaum noch was von dem Ehemann übrig und ich würde mich wohl wie seine Mutter fühlen. Das könnte ich nicht verkraften.
Darüber habe ich sogar selbst sehr lange nachgedacht. Als ich das Buch geschrieben habe, stellte ich die Frage etlichen Autorenkollegen - ist Sexualität in dem Fall angemessen? Die Meinungen waren kontrovers. Aber letztlich entschied ich mich dafür aus folgendem Grund: Bernhard ist ein erwachsener Mann, er ist kein Kind, auch wenn er von manchen (fälschlich) wegen seiner kognitiven Defizite so gesehen wird. Erwachsene Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen haben ja nach wie vor sexuelle Bedürfnisse. Bernhard hat zum Glück kein Frontalhirnsyndrom (jemand, dem so etwas passiert ist, kommt später noch vor). Die Leute mit Frontalhirnsyndrom werden oft sexuell übergriffig, weil sie durch den Hirnschaden die Distanz verlieren, die angemessen ist und sich gar nicht mehr in die Bedürfnisse anderer hineinversetzen können. Bernhard hat eine komplexere Schädigung, die eigentlich mehr die kognitiven Verbindungen im Hirn ausmacht - er ist eben sehr konkretistisch, kann nicht mehr abstrahieren und das Zentrum des Gehirns, wo Lesen und Schreiben angesiedelt sind, ist auch verloren. Über Bernhard können wir in den späteren Abschnitten auf jeden Fall noch ausführlicher diskutieren. Auch über die Entwicklung, die Menschen durchmachen, wenn man ihnen einfach anders entgegentritt.
Walter mag ich, ich bin mir gar nicht sicher, ob er was zu verbergen hat, obwohl er schon zwielichtig dargestellt wird. Zumindest teilweise. Ich finde es großartig wie er mit den Patienten umgeht. Das würde ich auch gern können.
Was Walter umtreibt und wie er zu dem wurde, der er ist, wird in den folgenden Abschnitten langsam entblättert, dann können wir da über ihn noch mal diskutieren.
ich finde es so schlimm, dass der Kommissar sich nicht in ihn rein versetzen konnte, als sie ihm das Messer weg genommen haben. Mir kam das Verhalten total logisch vor.
Ja, das ist eben das Problem - es gibt keine unberechenbaren Irren. Menschen mit psychischen Erkrankungen handeln meistens aus ihrem Erfahrungshorizont heraus logisch. Man muss nur bereit sei, sich in ihre Denkweise hineinzuversetzen, dann kann man mit ihnen auch diskutieren. Ich hatte selbst mal einen interessanten Fall. Das war ein Schizophrener, der zu mir zum Sozialpsychiatrischen Dienst kam und sich beklagte, dass seine Nachbarn und die Polizei ihn beobachten und abhören. Er hatte ganz klassische Wahnvorstellungen. Das wird aber bei Schizophrenen dadurch ausgelöst, das bestimmte Areale ihres Gehirns durch einen Dopaminüberschuss mit falschen Informationen versorgt werden. Also dass z.B. das Hörzentrum durch chemische Kurzschlüsse aktiviert ist. Diese Menschen hören wirklich was, bilden sich das nicht ein. Also hören sie auch nicht darauf, wenn man sagt, sie würden es sich einbilden. Ich habe dem Mann zugehört, gesagt, dass ich ihm seine Wahrnehmungen glaube, aber es gäbe auch eine andere Erklärung. Und dann habe ich ihm das Krankheitsmodell erklärt. Er hat das nicht so ganz verstanden, er hat das dann für sich so interpretiert, dass die Polizei wolle, dass er Medikamente nehme und dann die Überwachung einstellen würde. Ich habe ihn zu einer sehr guten Kollegin vermittelt, die gut mit solchen Patienten umgehen kann. Zu der hatte er Vertrauen, akzeptierte die Medikamente (um der Polizei gefällig zu sein, damit die ihn nicht mehr beobachtet), und als die Medikamente nach ein paar Wochen gut wirkten, begriff er, dass das alles nur Wahnvorstellungen waren. Das war so ein richtiger Aha-Moment für ihn. Hätte ich dem erzählt, er hat Wahnvorstellungen und bilde sich alles ein, hätte er nie die Medikamente versucht und wäre immer kränker geworden. Es gibt eben nicht die eine Geisteskrankheit, sondern ganz viele verschiedene Formen - die einen brauchen Psychotherapie, die anderen Medikamente. Aber alle brauchen empathische Gespräche, um ein Krankheitsverständnis zu entwickeln. Aber dazu muss man eben selbst erst einmal versuchen, sein Gegenüber und seine Denkweise zu verstehen. Bei Kuno hat Kommissar Lechner das gar nicht gewollt - und deshalb eskalierte es.
Ich glaube auch an etwas wie Vergewaltigung oder jahrelangen Missbrauch bei Juliane. Gibt es so ein Verhalten wirklich?
Ja, gerade bei Traumatisierungen gibt es alle möglichen Variationen von seltsam anmutendem Verhalten. Ich will jetzt nicht spoilern - über Juliane sollten wir in den späteren Abschnitten noch mal diskutieren.
Liegt die Abneigung der Menschen gegenüber den Bewohnern des Guts daran, dass sie Angst vor dem Unbekannten haben? Es macht sich ja auch niemand wirklich die Mühe mal zu gucken, wie diese Menschen drauf sind. Statt dessen wird hinter vorgehaltener Hand über jeden einzelnen geurteilt.
Ja, es liegt in der Angst vor dem Unbekannten und den Vorurteilen. Es ist ja auch schwierig, mit Menschen umzugehen, bei denen unsere normalen Kommunikationsstrategien nicht sofort funktionieren. Das macht Angst. Im Grunde ist der Umgang mit vielen psychisch Kranken so, als würde man Leute aus einer anderen Kultur treffen, auch wenn sie aus unserer eigenen stammen. Aber ihre Verhaltensweisen sind eben durch die Krankheit bedingt bizarr für die Gesunden, auch wenn sie für den Kranken selbst völlig normal und logisch sind.
Habe ich richtig verstanden, dass es vier Teile geben wird? Teil 2 ist ja erst erschienen, der Rest noch nicht?
Ursprünglich gab es nur dieses Buch. Dann gewann das ja die DELIA 2020. Daraufhin beschlossen wir noch zwei weitere Bände zu machen. Band 2, der gerade erschienen ist und 1923 spielt und dann wollte ich noch einen Band 1957. Als ich den gerade schrieb, las meine Lektorin mit und meinte, sie finde es schade, dass so eine lange Lücke dazwischen ist und ob ich nicht noch einen Band zwischen schieben könnte. Also schreibe ich jetzt Band 3, der 1941 spielt. Der Band 4, der ursprünglich mal Band 3 war, ist schon fertig. Aber sie werden dann, wenn der Band 1941 fertig ist, gemeinsam lektoriert und erscheinen dann in der zeitlich richtigen Reihenfolge. Jeder Band ist für sich allein abgeschlossen, aber sie bauen aufeinander auf.