Sie erreichten das Zimmer, in dem der Patient Weiß seit bald zwanzig Jahren lebte. Nein, eigentlich nicht seit zwanzig Jahren, korrigierte sich der Stationsarzt im Geiste. Erst seit zwölf Jahren, seit dieser Trakt renoviert worden war.
Doktor Weiß saß an einem Tisch vor dem Fenster. Das Pflegepersonal achtete darauf, den alten Arzt stets ordentlich zu kleiden und zu frisieren, sodass er mit seinem gepflegten weißen Vollbart und der Brille wie Sigmund Freud persönlich wirkte. Allerdings passte seine Tätigkeit nicht zu seinem würdevollen Aussehen, denn er war damit beschäftigt, ein Bild mit Buntstiften zu malen. Bei flüchtigem Hinsehen erinnerte es an eine Kinderzeichnung, aber auf den zweiten Blick erkannte man die zwanghafte Akribie des Erwachsenen. Es war faszinierend, wie genau er die kleinen Figuren zeichnete. Ein letztes Relikt der geistigen Fähigkeiten, die er einst besessen hatte, denn seit dem Unfall konnte er nicht einmal mehr lesen oder gar schreiben.
„Ein sehr schönes Zimmer“, bemerkte der Sturmbannführer. „Sogar mit Vorhängen am Fenster. Haben Sie keine Angst, dass die Kranken sich daran strangulieren könnten?“
„Doktor Weiß war nie selbstmordgefährdet“, entgegnete der Stationsarzt.
Bei der Nennung seines Namens blickte Doktor Weiß von seinen Zeichnungen auf. Er hatte wieder einmal einen Bauernhof gemalt, mit vielen kleinen Menschen und Tieren. In der Mitte stand ein schwarzes Pferd.
„Sind Sie Soldat?“, fragte der Patient den Sturmbannführer gerade heraus und musterte dessen Uniform mit kindlich anmutender Neugier.
„So ist es“, bestätigte der SS-Mann und musterte Doktor Weiß mindestens ebenso interessiert. „Wissen Sie, welches Datum wir heute haben?“
„Dienstag“, lautete die Antwort.
„Und welchen Monat?“
„Dienstag“, wiederholte Doktor Weiß. Dann wandte er sich wieder seiner Zeichnung zu.
Der Stationsarzt sah den Sturmbannführer entschuldigend an. „Er verliert schnell das Interesse an Fremden. Er lebt in seiner eigenen Welt.“
„Seine eigene Welt?“, wiederholte der Sturmbannführer. „Ist es das, was er dort malt?“
„Er spricht nicht über seine Bilder. Ich habe es anfangs versucht, aber es ist unmöglich, mit ihm über sein Seelenleben in Kontakt zu kommen, um zu erkennen, wie viel seines Verstandes noch erhalten ist. Er sitzt den ganzen Tag hier und malt.“
„Und was tun Sie mit diesen Bildern?“
„Anfangs haben wir sie gesammelt. In den späten Zwanzigern gab es viel Interesse an der Kunst Geisteskranker. Man denke nur an die berühmte Prinzhorn-Sammlung. Inzwischen geben wir sie ins Altpapier, sobald er mit einem Bild fertig ist.“
Der Sturmbannführer ließ den Blick über die kahlen Wände des Patientenzimmers schweifen.
„Sie hätten sie auch an die Wand hängen und diesen Schmutz überdecken können.“ Er wies auf dunkle Abdrücke, die wohl von ungewaschenen Händen stammten.
„Das haben wir früher bei anderen Patienten zugelassen. Aber es gab oft Ärger, wenn die Bilder entfernt werden mussten, weil eine Zimmerverlegung anstand. Viele Patienten haben eine besondere Bindung zu ihren Werken. Es ist einfacher, sie gleich nach der Fertigstellung gegen ein neues leeres Blatt Papier auszutauschen.“
„So wird also kostbares Papier in diesen Zeiten verschwendet?“
Der Stationsarzt überlegte, was er darauf sagen sollte, doch der Sturmbannführer hatte sich bereits hinter Doktor Weiß gestellt und sah ihm über die Schulter. Der alte Arzt war gerade dabei, eine Frau in einem blauen Kostüm neben dem Pferd zu malen.
„Wer ist diese Frau?“
Doktor Weiß schwieg.
„Und das schwarze Pferd?“, fragte der Sturmbannführer unbeeindruckt weiter. „Ist das der berühmte Wotan?“
Der Stationsarzt wunderte sich, woher der SS-Mann den Namen des Pferdes kannte, das Weiß so schwer verletzt hatte. Aber noch viel auffälliger war die Reaktion des Patienten, der bei der Nennung dieses Namens unwillkürlich zusammenzuckte.
„Er ist es also“, sagte der Sturmbannführer. „Ich gehe davon aus, das hier ist Gut Mohlenberg?“
Doktor Weiß antwortete nicht, aber dem Stationsarzt fiel auf, dass Weiß‘ Hand kaum merklich zitterte, denn die nächsten Striche wurden unsauberer, passten nicht zu der Perfektion, die der Kranke sonst in seinen Bildern anstrebte.
„Sie haben längere Zeit auf Gut Mohlenberg als Arzt gearbeitet, Herr Doktor Weiß“, fuhr der Sturmbannführer fort. „Ich möchte gern mit Ihnen über Gut Mohlenberg sprechen.“
Weiß fuhr herum und starrte den Sturmbannführer mit weit aufgerissenen Augen an.
Der Stationsarzt fragte sich, warum der SS-Mann den Kranken ausgerechnet nach Gut Mohlenberg fragte. Die Einrichtung hatte ihre Zulassung als private Nervenklinik bereits 1934 zurückgegeben und war seither nur noch ein Gestüt, das für seine edlen Pferde landesweit bekannt war.
„Haben Sie mich nicht verstanden, Herr Doktor Weiß?“, wiederholte der Sturmbannführer streng. „Ich möchte mit Ihnen über Gut Mohlenberg und Ihre Zeit dort als Arzt sprechen.“
Im nächsten Moment schrie Doktor Weiß völlig unerwartet laut los, durchdringender und gellender als jede Sirene.
Hastig wich der Sturmbannführer zurück.
„Dem Mann ist wirklich nicht mehr zu helfen“, rief er verärgert. „Lassen Sie uns gehen.“
Der Stationsarzt räusperte sich verlegen, dann öffnete er dem Sturmbannführer die Tür und sie verließen das Patientenzimmer. Kaum hatten sie die Tür hinter sich geschlossen, verstummte Weiß‘ Geschrei, als wäre es durch das Klappen der Tür einfach ausgeschaltet worden.
„Es tut mir leid, dass Sie hier keine Antworten bekommen haben.“ Der Stationsarzt schob seine Brille mit dem Zeigefinger fester auf die Nase. „Aber wie ich Ihnen schon sagte, Doktor Weiß redet weder über seine Bilder noch über seine Vergangenheit.“
„Keine Sorge, das, was ich soeben erlebt habe, genügt mir. Sehen Sie zu, dass er morgen auf den Transport geschickt wird. Es ist wirklich schade um einen so klugen Kopf, aber wenn wir ehrlich sind, ist er bereits seit zwanzig Jahren eine geistig tote Ballastexistenz. Und es wird höchste Zeit, unser Land von all diesen lebensunwerten Kreaturen zu säubern, ganz gleich, wo sie sich vor unserem Zugriff verstecken.“
Dem Stationsarzt lief ein kalter Schauer über den Rücken …