Am Ende eines Lebens kann es für jeden von uns von großer Wichtigkeit sein, ein persönliches Resümee zu ziehen, Erinnerungen ins Gedächtnis zu rufen, Vergangenes aufzuarbeiten und eventuell offene Fragen noch rechtzeitig zu beantworten.
So auch für Elsa, der 70-jährigen Protagonistin aus dem Roman "Wahr" von Riikka Pulkkinen, Elsa ist unheilbar an Krebs erkrankt. Da sie in Würde zuhause im Kreise ihrer Familie sterben möchte, bereiten sich ihr Mann, ihre Tochter und ihre zwei Enkelinnen auf das für alle Betroffenen schmerzhafte Abschiednehmen vor und begleiten Elsa auf ihrem letzten Weg. Neben Angst und Ungewissheit beschäftigt Elsa eines besonders, nämlich ein einschneidendes Ereignis aus lang zurückliegender Zeit, das nicht nur sie, sondern die ganze Familie auf eine harte Probe gestellt hat, deren Folgen bis heute zu spüren sind, über das jedoch nie gesprochen wurde. Elsa bricht das Schweigen und löst damit die notwendige Auseinandersetzung mit der Vergangenheit aus.
Riikka Pulkkinen hat eine bewegende, berührende Geschichte geschrieben, die sich nicht erstrangig mit Sterben und Tod beschäftigt, sondern vielmehr mit der Liebe und ihren zahlreichen Facetten. Obwohl das Geheimnis in Elsa's Familie schon recht früh gelüftet wird, verliert das Geschehen im Weiteren nicht an Format und Aussagekraft und vermag durchaus zu fesseln.
Die junge finnische Autorin versteht es perfekt, ihre Figuren und deren Empfindungen detailliert und glaubwürdig zu schildern. Sie benutzt anschauliche Vergleiche und wendet Zeiten- und Perspektivwechsel an, die die volle Aufmerksamkeit des Lesers fordern. Eingebettet in eine bildhafte Darstellung von Landschaft, bedeutenden Situationen und gesellschaftlichen Begebenheiten, gelingt es ihr, geschickt Parallelen zwischen Vergangenheit und Gegenwart zu ziehen und den Kreis am Ende zu schließen.
Der Roman besticht nicht durch eine temporeiche Handlung, sondern durch seinen bemerkenswerten Sprachstil, der poetisch, beinahe philosophisch Gefühle, menschliche Stärken und Schwächen, Glück und Unglück, Schuld und Unschuld und immer wieder die Höhen und Tiefen der Liebe zum Ausdruck bringt.
Wenngleich meiner Meinung nach Elsa im Verlauf zu sehr in den Hintergrund tritt und am Schluss klärende Gespräche nur lückenhaft stattfinden, hat mich die Erzählung hauptsächlich durch ihre Wortgewalt gefangen genommen. Dennoch konnte ich das Buch nicht "in einem Rutsch" lesen und musste des Öfteren pausieren, um das Gelesene sacken zu lassen. "Wahr" hat mich traurig und nachdenklich gestimmt, weil die Geschichte von Elsa und ihrer Familie in treffender Weise Realität widergespiegelt, ohne künstlich zu wirken. "Wahr" gibt aber auch Hoffnung, denn: "Liebe ist der einzige Weg, die Welt Wirklichkeit werden zu lassen." (Zit.)