Für mich ist dieses argentinische Zweistundenepos aus dem Jahr 2000 eines der eindrucksvollsten Werke jüngerer Filmproduktion. Zugrunde liegt ihm der Roman „Plata Quemada“ von Ricardo Piglia (1997). Buch wie Film wandeln auf den Pfaden spektakulärer Gewaltverbrechen, die 1965 Buenos Aires und Montevideo erschütterten. Damals planten Hintermänner einen Raubüberfall auf einen großen Geldtransport und engagierten dafür vier erprobte Räuber und Mörder.
Im Film heißen Malito, Mereles, Brignone und Dorda jetzt Fontana (Ricardo Bartis), Cuervo (Pablo Echarri), Nene (Leonardo Sbaraglia) und Angel (Eduardo Noriega). Fontana ist das Gehirn und lässt die drei blutjungen Männer den Transporter überfallen. Cuervo, ihr Fahrer, ist vital-aggressiv, amoralisch und von Beruhigungsmitteln abhängig. Im Kontrast zu diesem Womanizer sind Nene und Angel ein schwules Paar, genannt „die Zwillinge“. Hier ist Nene der wendig-sensible Kopf und Angel sein schweigsamer, abergläubischer und psychisch gestörter Bruder. Angel hört seit langem permanent Stimmen. Die beiden konsumieren Kokain und Amphetamine.
Der Überfall gelingt, doch unter den Wachmännern und Polizisten gibt es mehrere Tote. Der Verfolgungsdruck lässt das Täterquartett mit der Millionenbeute über den La Plata nach Uruguay flüchten. Die Polizei wie die um ihren Anteil geprellten Hintermänner versuchen ihr Versteck aufzuspüren. Abrupter Wechsel der Tempi charakterisiert von nun an noch stärker den Rhythmus des Films. Szenen kontemplativer Isolation, oft mit Todesfurcht, wechseln mit anderen, in denen die Lebenslust der jungen Männer durchbricht. Sie ahnen, dass sie schon in der Falle sitzen und unternehmen Ausflüge in die Welt draußen, so lange es noch möglich ist. Die Schauplätze sind dann: ein Vergnügungspark, ein Badestrand, wo Twist getanzt wird, ein Sexkino, ein Kirchenschiff. Die Zwillinge lernen Englisch, sie wollen nach New York.
Die Beziehungen der Gangster untereinander wandeln sich. Der Hetero Cuervo entwickelt solidarische Gefühle, wird zum Kumpel. Angel, besessen von der Vorstellung, Sperma sei heilig, hält sich von Nene fern – und der freundet sich mit einer Prostituierten an. Der Film wird zu einem Exkurs über Bisexualität. Giselle (Leticia Bretrice) identifiziert Nene bald als Schwulen und will ihn dennoch an sich binden. Vergeblich versucht sie, sich für ihn in einen Ersatz-Mann zu verwandeln. Nenes Einstellung und Handlungen nehmen schizoide Züge an. Untrennbar mit Angel verbunden, strebt er zugleich über dieses Schicksal hinaus.
Fontana trennt sich von den Übrigen. Das Trio fällt in Montevideo der Polizei auf, als es an einem gestohlenen Wagen die Nummernschilder austauscht. Beim Schusswechsel gibt es die nächsten Opfer. Die Argentinier flüchten mit großen Mengen an Waffen und Drogen in Giselles Wohnung. Die junge Frau will mit Nene allein nach Brasilien entkommen. Nene entscheidet sich für Angel und den Untergang. Von Giselle informiert, umstellen bald die ersten Hundertschaften das Haus. Die Wohnung ist eine schwer einnehmbare Festung, Tränengas bleibt ohne Wirkung. Der Kampf wird über viele Stunden im Fernsehen live übertragen. Die toten Polizisten werden noch nicht gezählt, die Mörder im Drogenrausch triumphieren zunächst.
Dann werden Wände und Decken aufgestemmt, Brandbomben geworfen. Cuervo fällt als Erster. Nene und Angel verbrennen jubelnd alle geraubten Banknoten. Geld war das Einzige, das sie mit der Gesellschaft verbunden hatte. Angesichts des Todes ist es nur noch „Müll“. Hier wird der Subtext des Werkes deutlich, die filmische Umsetzung von Wertezerfall. Das hat viele Aspekte. Kriminalität und Staatsgewalt vermischen sich. Verwaltungsbeamte und Polizisten sind korrupt, Foltern ist selbstverständlich. Unter den Kriminellen sind viele Peronisten. Ihr emanzipatorischer Anspruch ist jedoch längst zu bluttriefender Selbstbereicherung verkommen. Die Raubmörder und die Gesellschaft, sie sind einander wert. In Piglias Roman erreicht gerade infolge der Geldverbrennung die Wut unter Polizisten und Gaffern ihren höchsten Grad. Die, die das Geld vernichten, das alle Werte ersetzt hat, sind für sie „Nihilisten“. Vorher galten sie eine Zeitlang als terroristische Untergrundarmee. Darüber haben die Täter gelacht. Geschmeichelt hat ihnen, was eine Zeitung in fetten Lettern druckte: CHAOS – ZERSTÖRUNG - TOD.
Es lohnt sich, diesen Motivstrang noch etwas zu verfolgen. Bei Angel sind Restbestände von religiösen Überzeugungen mit Aberglauben eine krude Verbindung eingegangen. Nene, aus gut bürgerlichem Haus, gebildet, projiziert seinen Selbsthass auf einen Fremden, der sich ihm in einer Bedürfnisanstalt nähert. Er schmäht und verwünscht ihn, versetzt ihn in Todesfurcht, kreuzigt ihn so symbolisch, um ihn dann kniend oral zu befriedigen. Passend zu dieser Profanation der Passion Christi werden Angel bei einem Kirchenbesuch und ein großes Kruzifix eingeblendet.
Das Filmende wird zum melodramatischen Stakkato, in dem noch weitere Inhalte abendländischer Hochkultur in Rauch aufgehen. Das Paar wird wieder eines, glücklich vereint wie nie. Nene wird angeschossen und liegt im Sterben. Angel hält ihn, er, der bisher Sprachlose, hört keine Stimmen mehr, sagt ein Ave Maria auf und wird zum hymnischen Tröster, verhilft zu einem guten Tod, es ist ein Liebesfeuertod à la Tristan und Isolde. Als die Staatsgewalt den Mauerdurchbruch geschafft hat, findet sie eine sonderbare Pietà vor. Oder Achill über der Leiche des Patroklos, ein Bild absoluter Verzweiflung. Nur dass hier Troja bereits in Trümmern liegt.