Beiträge von Arno Abendschön

    Für mich ist dieses argentinische Zweistundenepos aus dem Jahr 2000 eines der eindrucksvollsten Werke jüngerer Filmproduktion. Zugrunde liegt ihm der Roman „Plata Quemada“ von Ricardo Piglia (1997). Buch wie Film wandeln auf den Pfaden spektakulärer Gewaltverbrechen, die 1965 Buenos Aires und Montevideo erschütterten. Damals planten Hintermänner einen Raubüberfall auf einen großen Geldtransport und engagierten dafür vier erprobte Räuber und Mörder.


    Im Film heißen Malito, Mereles, Brignone und Dorda jetzt Fontana (Ricardo Bartis), Cuervo (Pablo Echarri), Nene (Leonardo Sbaraglia) und Angel (Eduardo Noriega). Fontana ist das Gehirn und lässt die drei blutjungen Männer den Transporter überfallen. Cuervo, ihr Fahrer, ist vital-aggressiv, amoralisch und von Beruhigungsmitteln abhängig. Im Kontrast zu diesem Womanizer sind Nene und Angel ein schwules Paar, genannt „die Zwillinge“. Hier ist Nene der wendig-sensible Kopf und Angel sein schweigsamer, abergläubischer und psychisch gestörter Bruder. Angel hört seit langem permanent Stimmen. Die beiden konsumieren Kokain und Amphetamine.


    Der Überfall gelingt, doch unter den Wachmännern und Polizisten gibt es mehrere Tote. Der Verfolgungsdruck lässt das Täterquartett mit der Millionenbeute über den La Plata nach Uruguay flüchten. Die Polizei wie die um ihren Anteil geprellten Hintermänner versuchen ihr Versteck aufzuspüren. Abrupter Wechsel der Tempi charakterisiert von nun an noch stärker den Rhythmus des Films. Szenen kontemplativer Isolation, oft mit Todesfurcht, wechseln mit anderen, in denen die Lebenslust der jungen Männer durchbricht. Sie ahnen, dass sie schon in der Falle sitzen und unternehmen Ausflüge in die Welt draußen, so lange es noch möglich ist. Die Schauplätze sind dann: ein Vergnügungspark, ein Badestrand, wo Twist getanzt wird, ein Sexkino, ein Kirchenschiff. Die Zwillinge lernen Englisch, sie wollen nach New York.


    Die Beziehungen der Gangster untereinander wandeln sich. Der Hetero Cuervo entwickelt solidarische Gefühle, wird zum Kumpel. Angel, besessen von der Vorstellung, Sperma sei heilig, hält sich von Nene fern – und der freundet sich mit einer Prostituierten an. Der Film wird zu einem Exkurs über Bisexualität. Giselle (Leticia Bretrice) identifiziert Nene bald als Schwulen und will ihn dennoch an sich binden. Vergeblich versucht sie, sich für ihn in einen Ersatz-Mann zu verwandeln. Nenes Einstellung und Handlungen nehmen schizoide Züge an. Untrennbar mit Angel verbunden, strebt er zugleich über dieses Schicksal hinaus.


    Fontana trennt sich von den Übrigen. Das Trio fällt in Montevideo der Polizei auf, als es an einem gestohlenen Wagen die Nummernschilder austauscht. Beim Schusswechsel gibt es die nächsten Opfer. Die Argentinier flüchten mit großen Mengen an Waffen und Drogen in Giselles Wohnung. Die junge Frau will mit Nene allein nach Brasilien entkommen. Nene entscheidet sich für Angel und den Untergang. Von Giselle informiert, umstellen bald die ersten Hundertschaften das Haus. Die Wohnung ist eine schwer einnehmbare Festung, Tränengas bleibt ohne Wirkung. Der Kampf wird über viele Stunden im Fernsehen live übertragen. Die toten Polizisten werden noch nicht gezählt, die Mörder im Drogenrausch triumphieren zunächst.


    Dann werden Wände und Decken aufgestemmt, Brandbomben geworfen. Cuervo fällt als Erster. Nene und Angel verbrennen jubelnd alle geraubten Banknoten. Geld war das Einzige, das sie mit der Gesellschaft verbunden hatte. Angesichts des Todes ist es nur noch „Müll“. Hier wird der Subtext des Werkes deutlich, die filmische Umsetzung von Wertezerfall. Das hat viele Aspekte. Kriminalität und Staatsgewalt vermischen sich. Verwaltungsbeamte und Polizisten sind korrupt, Foltern ist selbstverständlich. Unter den Kriminellen sind viele Peronisten. Ihr emanzipatorischer Anspruch ist jedoch längst zu bluttriefender Selbstbereicherung verkommen. Die Raubmörder und die Gesellschaft, sie sind einander wert. In Piglias Roman erreicht gerade infolge der Geldverbrennung die Wut unter Polizisten und Gaffern ihren höchsten Grad. Die, die das Geld vernichten, das alle Werte ersetzt hat, sind für sie „Nihilisten“. Vorher galten sie eine Zeitlang als terroristische Untergrundarmee. Darüber haben die Täter gelacht. Geschmeichelt hat ihnen, was eine Zeitung in fetten Lettern druckte: CHAOS – ZERSTÖRUNG - TOD.


    Es lohnt sich, diesen Motivstrang noch etwas zu verfolgen. Bei Angel sind Restbestände von religiösen Überzeugungen mit Aberglauben eine krude Verbindung eingegangen. Nene, aus gut bürgerlichem Haus, gebildet, projiziert seinen Selbsthass auf einen Fremden, der sich ihm in einer Bedürfnisanstalt nähert. Er schmäht und verwünscht ihn, versetzt ihn in Todesfurcht, kreuzigt ihn so symbolisch, um ihn dann kniend oral zu befriedigen. Passend zu dieser Profanation der Passion Christi werden Angel bei einem Kirchenbesuch und ein großes Kruzifix eingeblendet.


    Das Filmende wird zum melodramatischen Stakkato, in dem noch weitere Inhalte abendländischer Hochkultur in Rauch aufgehen. Das Paar wird wieder eines, glücklich vereint wie nie. Nene wird angeschossen und liegt im Sterben. Angel hält ihn, er, der bisher Sprachlose, hört keine Stimmen mehr, sagt ein Ave Maria auf und wird zum hymnischen Tröster, verhilft zu einem guten Tod, es ist ein Liebesfeuertod à la Tristan und Isolde. Als die Staatsgewalt den Mauerdurchbruch geschafft hat, findet sie eine sonderbare Pietà vor. Oder Achill über der Leiche des Patroklos, ein Bild absoluter Verzweiflung. Nur dass hier Troja bereits in Trümmern liegt.

    Der Verlag Klaus Wagenbach nennt Ricardo Piglia den wichtigsten Repräsentanten der argentinischen Gegenwartsliteratur. Der Autor selbst beginnt 1997 sein Nachwort zu „Plata Quemada“ so: „Dieser Roman erzählt eine wahre Geschichte. Es handelt sich um einen nicht sehr bedeutenden und längst vergessenen Fall aus der Polizeichronik …“ Das dürfte eine ironische Untertreibung sein, denn der „Fall“ hat seinerzeit etwa zwanzig Menschen das Leben gekostet, sogar dem Polizeichef von Uruguay. Er wirft ein grelles Schlaglicht auf die Querverbindungen zwischen Gewaltverbrechen, Politik und Staatsorganen im damaligen Argentinien. Und er ist ein frühes Beispiel, wie eine Blutorgie, eine wahre Schlacht zwischen Killern und Polizei unmittelbar zum medialen Großereignis wird.


    Buenos Aires 1965. Peron ist im Exil. Argentinien versucht es wieder einmal mit bürgerlicher repräsentativer Demokratie. Es gärt im Land, die sozialen Gegensätze sind groß. Ein Raubüberfall auf einen Geldtransport wird vorbereitet. Die Drahtzieher: ein städtischer Beamter und ein ruinierter Tangosänger, dann ein Mittelsmann zwischen Schwerkriminellen und Staatsorganen, ferner Angehörige der Polizei. Es geht um umgerechnet 600.000 Dollar, nach heutigem Wert einige Millionen Euro.


    Zur Ausführung werden angeworben: als Anführer ein routinierter Räuber und Mörder namens Malito sowie drei weitere junge Männer, alle intelligent und mit Knasterfahrung. Mereles, der Fahrer des Fluchtautos, ist von Beruhigungsmitteln abhängig. Die beiden anderen, Brignone und Dorda, ein schwules Paar, nehmen Kokain und Amphetamine. Der Überfall gelingt, es gibt mehrere Tote, darunter ein Kind am Straßenrand. Der Verfolgungsdruck wird bald so groß, dass das Quartett über den La Plata nach Uruguay flüchtet und sich dort versteckt. Sie nehmen die Beute mit und wollen sie nicht mehr mit den Hintermännern teilen. Damit wird ihre Lage noch prekärer. Zur Blutspur kommt der Geruch des Geldes. Die Polizei von Montevideo ermittelt intensiv und kommt ihnen näher.


    Malito verschwindet auf ungeklärte Weise. Die drei anderen Pistoleros wechseln den Unterschlupf und verbarrikadieren sich mit dem Geld und großen Mengen an Munition und Drogen in einer Etagenwohnung. Ihre Lage ist aussichtslos. Es gibt keine Fluchtmöglichkeit, doch sie ergeben sich nicht und verwickeln mehr als dreihundert Polizisten in einen fünfzehnstündigen Kampf, der noch viele Tote fordert. Tränengas bleibt wirkungslos. Mühsam bohrt die Polizei Löcher in Wände und Decken, wirft Brandbomben. Drinnen haben sie schon alle geraubten Banknoten verbrannt und die Asche auf die Belagerer hinabregnen lassen. Nur Dorda wird bei Piglia lebend gefasst. Ein Jahr später soll er in Buenos Aires bei einer Gefängnisrevolte von einem Polizisten erschossen worden sein. (Folgt man allerdings Wikipedia, kamen Brignone und Dorda im Kampf um und Mereles starb kurz darauf im Krankenhaus.)


    Piglia stützt sich auf viele Dokumente. Er gibt den Verlauf des Geschehens im Ganzen recht getreu wieder. Die Täter sind bei ihm menschliche Individuen, glaubwürdig, unverwechselbar. Er glorifiziert sie nicht. Es bleiben brutale Killer, die scheußliche Verbrechen begehen. Und doch kommen wir ihnen nahe - in ihrem Leid, ihrem Scheitern sind sie uns sehr nahe … Dorda wird am intensivsten dargestellt. Er ist abergläubisch, hört Stimmen, hat die ganze Karriere von Erziehungsheim, Knast und Psychiatrie schon hinter sich. Im Roman kommen er und Brignone oft unmittelbar und authentisch zu Wort. Die letzte Fluchtwohnung war verwanzt und ihre Gespräche dort wurden vom Polizeifunk direkt abgehört und aufgezeichnet.


    Wir schreiben 1965! Die Belagerung und Erstürmung der Wohnung in Montevideo ist einer der ersten Fälle, in denen der gesamte Polizeieinsatz in voller Länge im Fernsehen live übertragen wird. In der Wohnung läuft ein Fernsehgerät, auf dessen Schirm die Pistoleros sich selbst unmittelbar als Killer im Drogenrausch erleben – die Echtzeit frisst ihre Kinder.

    Ein Zufall bewirkte, dass Piglia auf diesen Stoff stieß. Er traf 1966 in einem Zug die letzte Geliebte von Mereles. Sie hatte wegen Mitwisserschaft gerade sechs Monate abgesessen, war auf dem Weg nach Bolivien und erzählte ihm viele Stunden lang von der Bande. Piglia: „ … und ich hörte ihr zu, als hätte ich es mit der argentinischen Version einer griechischen Tragödie zu tun.“ Beim Lesen seines großartigen Romans hatte auch ich diesen Eindruck.

    Habe dieses Buch vor langen Jahren mit Interesse und Gewinn gelesen. Es ist gewiss sorgfältig, klug und sehr inspiriert geschrieben. Allerdings überzeugt es mich nicht, wie Sie hier die frühere Literatur über Mann gegen die jetzige stellen. Thomas Mann ist seit Stresau als Person wie als Schreibender viel deutlicher ins öffentliche Bewusstsein geraten, z.B. durch die Tagebücher. Das kann und soll sich auch in der Sekundärliteratur widerspiegeln. Die von Ihnen propagierte "unbelastete Objektivität" ist eine freundliche Umschreibung für etwas, das nach meinem Dafürhalten weder im Sinne Th. Manns noch der Rezeption seiner Werke ist. Denken wir auch an die Breloersche Filmbiographie. Auch sie wäre ohne das neuere Schrifttum nicht möglich gewesen. Im Ergebnis ist der Autor heute populärer als vor vierzig Jahren, eine erfreuliche Entwicklung. - Arno Abendschön

    Nur schade, dass sich hier so wenige einführen lassen wollen ...


    Ich will noch dreierlei zur Abrundung sagen:


    1. Der Roman hat in weiten Abschnitten auch große satirische Qualitäten, besonders bei der Darstellung der Parallelaktion und ihres Personals. Man denke z.B. an den Dichter Feuermaul, für den der junge Werfel Modell gestanden hat.


    2. Bekanntlich haben manche Figuren Vorbilder im damaligen öffentlichen Leben. Arnheim geht so z.T. auf Walther Rathenau zurück, Meingast auf den Philosophen Ludwig Klages.


    3. Man muss Musil seine extrem schlechte Situation im Schweizer Exil zugute halten. Unter diesen Bedingungen musste der Riesenroman zwangsläufig Fragment bleiben.


    Arno Abendschön

    Freue mich immer, wenn Tschechow auch in den jüngeren Jahrgängen Bewunderer findet. Es ist merkwürdig: Obwohl seine Stücke sich unmittelbar auf Vorgänge in seiner Zeit beziehen, erkennen sich auch spätere Zeiten in der Problematik wieder. Er hat also im Aktuellen das Überzeitliche dargestellt.


    Den "Kirschgarten"fand ich beim Ansehen wie beim Lesen wunderbar, besonders die sehr bedrückende Schlussszene. Noch wunderbarer finde ich allerdings "Drei Schwestern". (Und nicht zu vergessen - seine Prosa!)


    Arno Abendschön

    Tja, Traumnovelle - habe ich erstmals vor drei Jahren gelesen. Von Schnitzler hatte ich von früher "Fräulein Else" und "Leutnant Gustl" in guter Erinnerung. Dieses Spätwerk allerdings gefiel mir weniger. Zwar ist der Stoff reizvoll, das Thema mutig - aber der Stil! Ich greife mal wahllos hinein und finde das da: "... bemerkte Fridolin mit einem verächtlichen Zucken der Mundwinkel und mit einem bitteren Geschmack auf der Zunge." Das soll gute Literatur sein? Das sind Stereotypen à la Courths-Mahler und davon wimmelt es im Text.


    Gewiss, Schnitzler war nie der große Sprachkünstler, da ist immer schon etwas Kunstseidenes gewesen, doch dieser Altersstil scheint mir vor allem von Altersabbau zu zeugen. Das ändert natürlich nichts an seinem Rang als analytischer Autor, selbst beim alten Goethe kann man in Wilhelm Meisters Wanderjahren gegen das Ende hin dieses Phänomen bemerken. Nur finde ich, wir sollten in der Lage sein, derartige Schwächen zu erkennen und zu benennen.


    Arno Abendschön

    Danke, Herr Palomar. Das mit "faul und wehmütig" hat mich seinerzeit auch beeindruckt, wie ich mich jetzt erinnere. Es hilft mit, jene Stimmung jugendlicher Melancholie zu erzeugen, die über dem gesamten Text liegt. In diesem Atmosphärischen liegt vielleicht der bleibende Wert der Novelle. - Arno Abendschön

    Habe "Mrs. Dalloway" im Lauf der Zeit wiederholt gelesen und jedes Mal mit großem Vergnügen. (Nur aus reinem Pflichtbewusstsein sollte man es allerdings nicht zu lesen beginnen, dazu ist es zu strukturiert.) Von den Sachen, die ich von V. Woolf kenne, hat es mich bei weitem am meisten überzeugt. Es scheint mir die dichteste Struktur zu haben, sprachlich und inhaltlich. Von "Die Jahre" war ich danach ein wenig enttäuscht. "Die Jahre" dehnen sich und vermitteln, vielleicht gewollt, einen Eindruck von Monotonie. Dagegen sind in "Mrs. Dalloway" die Schicksale der Protagonisten in 24 Stunden hineingepresst, das ergibt einen Eindruck von Dynamik und gedrängter Lebensfülle.


    Ich muss oft, wenn morgens das Wetter schön ist, an diese Stelle am Anfang denken: " ... was für ein Morgen ... so frisch, wie Kindern auf einem Strand beschert." Da verbindet sich der innere Bewusstseinsstrom mit konkreter äußerer Wahrnehmung. - Arno Abendschön

    Gott, ist das lange her, dass ich die Novelle gelesen habe ... Vierzig Jahre ungefähr. Vom Inhalt ist mir vor allem eine Dialogstelle im Gedächtnis geblieben. Sie lautet ungefähr so, wenn ich mich recht erinnere: "Man isst zu schwer oben ..." - "Tonio Kröger" ist fast das einzige bedeutendere Werk von Th. Mann, das ich mir später nicht angeschafft habe. Daher kann ich jetzt nicht nachschlagen.


    Als Einstieg geeignet? Ich weiß nicht, ich weiß nicht ... Er hat doch Besseres, Gewichtigeres und Artifizielleres geschrieben. Ich würde mit "Felix Krull" beginnen. Es sei denn, man sucht geradezu einen Text, der zur Identifikation mit einem unfertigen, doch schon vielfach gebrochenen jungen Mann einlädt.


    Arno Abendschön

    Tipp für buzzaldrin: Man bekommt die älteren Sachen von Gore Vidal leicht antiquarisch für wenig Geld, z.B. im amazon marketplace. Habe mir gerade so von diesem Autor "Geschlossener Kreis" und "Palimpsest" kommen lassen. Beide Bände waren faktisch neuwertig, vergleichbar Büchern, die längere Zeit in einer Buchhandlung im Regal gestanden haben. - Arno Abendschön

    Die Geschichte spielt in den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts. Wie der Autor selbst ist Herr Aghios kränklich, und auch ihn hat die emsige Fürsorge der Familie zu einem etwas unselbständigen Wesen gemacht. Nun geht Herr Aghios noch einmal allein auf große Fahrt – groß für seine jetzigen Verhältnisse. Er soll persönlich einen hohen Geldbetrag von Mailand nach Triest bringen. Es wird auch ein Test sein, ob er noch zum selbständigen Leben fähig ist.


    Die Reise beginnt am Mailänder Hauptbahnhof. Herr Aghios hat es eilig, die Gattin im Gedränge des Bahnsteigs entschwinden zu sehen – so groß ist sein Bedürfnis nach Autonomie. Als er ihrer noch einmal ansichtig wird, presst sie gerade die Hand auf ihr Herz und winkt ihm zu. Er denkt erst: Was für eine übertriebene Geste, bevor er begreift: Sie meint ja die Brieftasche. Bald darauf stellt er für sich fest: „Je mehr ich mich von ihr entferne, desto mehr liebe ich sie.“


    Herr Aghios und die Frauen: Freude und Hoffnung! Lassen wir ihn durch Svevo zu Wort kommen: „Diese Freude und Hoffnung war so umfassend, dass die Frau – die Frau als Vorstellung, die Frau ohne Beine und Mund sozusagen – darin nicht fehlen konnte. Schattenhaft war sie noch mit vielen anderen Phantomen verwoben und nahm unter ihnen einen wichtigen Platz ein. Aber man begehrt ja eine Frau nicht immer in der gleichen Weise. Gewiss dient sie vor allem der Liebe, manchmal aber auch begehrt man sie, um sie zu beschützen und zu retten. Sie ist ein schönes, aber auch ein schwaches Lebewesen, das man liebkost, wenn man kann, und auch dann noch liebkost, wenn man es nicht kann.“ Hier, bei dieser treffenden Charakterisierung von Alterserotik, bemerken wir bereits die Methode: Svevo und Herr Aghios ironisieren sich gegenseitig in einem langen inneren Monolog.


    Herr Aghios lamentiert darüber, dass man die schönen jungen Frauen schon mit einem gut geölten Schnurrbart für sich gewinnen kann – wenn man jung ist. Dabei sei es doch wissenschaftlich erwiesen, dass die alten Männer dieser Frauen viel mehr bedürften als die jungen: eine Frage der Gesundheit. Apropos Schnurrbart: „Der Schnurrbart zeichnet jene Tiere aus, die sich in Löchern vergraben (hatte diese Kanaille von seinem Sohn erklärt); er dient dazu, sie darauf aufmerksam zu machen, wenn das Loch sich verengt, und soll sie davor schützen, zu ersticken.“


    Der alte Herr reflektiert seine Umgebung, vor allem seine Mitreisenden. Mit einigen kommt er in nähere Berührung. Ein in Geschäften reisender Kaufmann, Inspektor einer Versicherungsgesellschaft, wird ihm bald verhasst. Sie geraten beide in ihrem leicht absurden Alltagsgespräch auf eine abschüssige Bahn, torkeln, schlagen verbal um sich. Herr Aghios denkt mit Svevos Kopf, der zugleich sich selbst im Blick hat: „Wenn er Streit wollte, wäre es nicht nötig gewesen, der eigenen Familie zu entfliehen.“


    Viel erfreulicher gestaltet sich der Kontakt zu dem jungen Bacis. Freilich ist Bacis in großen Nöten, die Herrn Aghios erst nach und nach offenbart werden und dem Leser hier einmal gar nicht. Die beiden müssen in Venedig umsteigen und vertreiben sich die Zeit mit einer sehr komischen touristischen Erkundung der Lagunenstadt. Bacis stürzt schon beim Einsteigen in die Gondel. Herr Aghios besucht einen Juwelier, der ihn früher einmal übers Ohr gehauen hat, und der Gondoliere weiß auch, wie er den alten Mann rupfen kann.


    Herr Aghios und Bacis nehmen den Nachtzug nach Nordosten. Herr Aghios hat einen Traum, in dem er zum Mars fliegt und in dem die „Aufrichtigkeit des Fleisches“ eine wesentliche Rolle spielt. Und am anderen Morgen ist Bacis weg und die Brieftasche – nein, sie ist noch da, nur wesentlich erleichtert. Auch Bacis war eine Kanaille. „Adieu, Freiheitsgefühl des Reisens, adieu, Bereitschaft zur Güte. Er glich einer jener Gestalten, zu denen sich die schwarzen und drohenden Rauchwolken so eindrucksvoll verdichten …“


    Die Lokomotive läuft keuchend im Triester Bahnhof ein, und mitten im Wort Triest bricht der Text ab. Er wurde zu Svevos Lebzeiten nie veröffentlicht, ist Fragment geblieben. So erklärt sich auch, warum in ihm die Sonne an einem Abend zweimal untergeht. Svevo, der drei Jahre nach der Niederschrift durch einen Autounfall umkam, war bei der Korrektur nur bis zur Mitte gekommen. Wie eben die meisten von uns in ihren Angelegenheiten.


    Italo Svevo, geb. 1861 in Triest als Ettore Schmitz. Vorfahren väterlicherseits deutsch-jüdisch. Muttersprache italienisch. Lebte bis auf einen Internatsaufenthalt bei Würzburg und geschäftliche Aufenthalte in London stets in Triest. War zunächst Bankangestellter und Handelsschullehrer, später leitende Tätigkeit im Unternehmen des Schwiegervaters (Produktion von Schiffsanstrichen). Schrieb jahrzehntelang nach Feierabend Romane, Erzählungen, Dramen, Essays. Veröffentlichungen lange ohne große Resonanz, bis er ab 1924 in England und Frankreich entdeckt und gefördert wurde (u.a. von James Joyce). Danach rasch zunehmender internationaler Ruhm. Gilt als Hauptvertreter des analytischen Romans in Italien. Gestorben 1928 nach einem Autounfall. Hauptwerke: Ein Leben, Ein Mann wird älter, Zeno Cosini (Romane).


    "Kurze sentimentale Reise" ist ein hervorragender Einstieg in das umfangreiche Prosawerk des Autors. Es besticht durch tiefgründige Psychologie wie durch geistreiche Ironie. Seine Hauptthemen - Alter, Reisen und menschliche Kommunikation - sind zeitlos. Der Stil wirkt elegant und differenziert. Vielleicht muss einer zum Svevo-Leser geboren sein - in diesem Fall hat er, wenn er ihn noch nicht kennt, eine große Entdeckung vor sich.

    Habe diesen Roman gerade in den letzten Tagen erstmals gelesen und bin stark beeindruckt. Die Einschätzung in der vorliegenden Besprechung teile ich im Wesentlichen, mit einer Ausnahme: Das Werk ist nicht durchgehend im personalen Erzählstil geschrieben. Der Text bietet dem Leser gelegentlich Einblicke in die Vorgeschichte oder seelische Struktur von Figuren, die die Hauptfigur Jim Willard sich selbst nicht verschafft haben kann. In Kapitel 8 werden außerdem Episoden geschildert, bei denen Jim nicht anwesend ist. Diesen etwas laxen Umgang mit dem Erzählstil habe ich jedoch nicht als Mangel empfunden. - Arno Abendschön

    Mit Interesse zur Kenntnis genommen, da ich mich seit einiger Zeit durch das Werk Gore Vidals hindurchlese. "Julian" kenne ich noch nicht. Es sollte mich allerdings wundern, wenn der Autor hier eigene "Trauer und Bitterkeit" über Kennedys Untergang verarbeitet haben sollte. Er hat doch sich über den toten Präsidenten wiederholt sehr negativ geäußert. - Arno Abendschön