Hallo zusammen.
Ich finde, es sollte auch die "Gegenseite" mal gehört werden.
Zu diesem Thema hat vor einigen Wochen ein Schulkollege meiner Tochter ein Referat gehalten. Es war ein Tag der offenen Tür, bei dem ich zugegen war.
(Gymnasium, 10. Klasse, Fach: Sozialwesen, Aufgabe: Diskussion zum Thema "Die Anderen, dass sind wir" anstoßen)
Die Anderen, dass sind wir
Stellt euch mal vor, ihr wäret alle streng katholisch erzogen worden. So mit keinem Sex vor der Ehe, einer recht strengen Hierarchie in der Familie und einem festen Glauben an Gott und die Werte, die euch die Bibel vermittelt.
Nun werdet ihr aber in einer Gesellschaft groß, die zum Einen nicht eure Muttersprache spricht, und zum Anderen alle Werte, die ihr sozusagen mit der Muttermilch aufsaugt, mit Füßen tritt.
Frauen packen ihre Titten am Strand aus und stecken sich Ohrringe in die Brustwarzen. Es gevögelt was das Zeug hält und in der Öffentlichkeit darüber schwadroniert, als gelte es, mangelnde Potenz durch möglichst intensive Sexgymnastik, und sei es nur verbal, wieder wett zu machen. Familie, ein Wert, der für euch enorm wichtig ist, wird in dieser Gesellschaft gleichbedeutend mit Abstieg gesehen, denn wer viele Kinder hat gehört entweder zur Unterschicht oder ist Hollywoodstar. Geld verdienen ist für viele in dieser Gesellschaft nicht mit Arbeit verbunden, denn es gibt ja Ämter und notfalls kann man seine Duschergüsse auch vors Mikro bringen, um ein wenig Ruhm und Kohle schnell im Vorbeigehen abzusahnen.
(Hier gab es erste betretene Gesichter bei den anwesenden Eltern. Ich konnte nur mit Mühe ein zustimmendes Nicken und ein Grinsen verstecken)
Wie würdet ihr euch fühlen?
Würdet ihr alle eure traditionellen Werte einfach so über den Haufen werfen, nur en vogue zu sein? Würdet ihr, in dem Alter, in dem ihr jetzt seid, (Blick zu den Erwachsenen in der Klasse) noch diese Sprache lernen wollen, in der es im Alltag vor Respektlosigkeiten nur so wimmelt?
So fühlten sich, laut meinem Großvater, neben der Isolation als Fremder in einem fremden Land auch die ersten Menschen, die uns geholfen haben aus unserem Land das zu machen, was es heute ist.
Den Müll wegfahren und Straßen fegen, unter Bedingungen arbeiten, dass Kinderarbeit dagegen wie eine Erholungskur wirkt und kein Wort von dem verstehen, was deine Kollegen zum Lachen bringt.
Das war die Welt der ersten Menschen, die damals noch Gastarbeiter hießen.
Arbeiten ja.
Leben?
Du atmest, das muss reichen.
(Unruhe unter den Anwesenden. Ein Kind, zudem noch ein Türke (!) nimmt solche Worte in den Mund???)
Und was macht der Mensch in einer fremden, ja beinahe feindlichen Umgebung?
Er schließt sich zu Gruppen zusammen, trauert der Heimat nach, wo aber auch alles den Bach runtergeht und so holt er seine Familie hinterher, sofern er kann. In der Hoffnung natürlich, dass er hier, in einem fremden Land, aber umgeben von Landsmännern, ein neues Leben beginnen kann.
Der Ausländer war geboren.
Irgendwann ist das Land aber einfach zu klein, oder die Industrie, die vorher noch billige Arbeitskräfte im eigenen Land suchte, schielt nun nach Standorten,wo Arbeitskraft noch billiger ist. Der Frust ist hoch, denn wofür hat man sich in der neuen Welt eingerichtet, wenn da doch langsam auch alles den Bach runtergeht? In was für einer Welt lebt man eigentlich, in der die Werte, mit denen man aufgewachsen ist, keinen Platz mehr haben, je schlechter es allen geht?
Schlecht geht es aber auch den Eingeborenen, die plötzlich ihre Felle davonschwimmen sehen! Und wer ist schuld? Wer ist hierher gekommen, sollte eigentlich nach getaner Arbeit wieder gehen und hat sich jetzt ins vermeintlich gemachte Nest gesetzt?
Der perspektivlose Mitbürger Migrationshintergrund.
(Dezentes Räuspern der Lehrerin, erste rote Köpfe. Ich amüsiere mich köstlich über diesen Jungen, der mit meiner Tochter Biologie und Physik in der Experstenstufe büffelt)
Jetzt mal ehrlich ... würdet ihr euch gerne als Bürger eines solchen Landes bezeichnen? Erst hofiert, dann ausgenutzt und letztendlich zum Sündenbock abgestempelt? Hättet ihr, ganz tief in eurem Inneren, noch den Wunsch, diesem Land und seinen Eingeborenen einen gewissen Respekt entgegenzubringen, wenn er euch versagt bliebe?
Zum Respekt wie ich ihn verstehe gehört auch die Landessprache möglichst fehlerfrei zu sprechen. Und selbst wenn die "Ausländer" das können und gehobene Positionen erreichen, werde sie mit Argusaugen beobachtet.
Also ich würde mir da auch kein Bein ausreissen die Landessprache zu lernen, zumal es viele meiner Landsleute bereits getan haben und alles was ich zum Leben benötige auch in meiner Muttersprache kaufen kann.
Und dennoch tue ich all das.
Ich kämpfe jeden Tag um Wissen, wachse mit zwei Sprachen auf, lerne drei weitere in der Schule ... und weiß trotzdem nicht, wo meine Heimat ist.
Ich tue alles um respektiert zu werden, ich respektiere die Eigenheiten dieses Landes, in dem ich geboren wurde ... aber warum akzeptiert keiner meine Wurzeln, meine Abscheu gegen viele Dinge in diesem ansonsten wunderbaren Land und die Werte, mit denen ich erzogen werde? Warum darf ich mit meinen Großeltern oder meinen Freunden nicht die Sprache meiner Vorfahren sprechen?
(In diesem Moment hätte im Klassenzimmer eine fallende Stecknadel die delikate Lautstäke eines atomaren Erstschlags erreicht. Rote Telefone wurden durch hochrote Köpfe ersetzt. Ich biss mir auf das Wangenfutter und war stolz auf den Kleinen, obwohl ich dich nur der Vater seiner besten Freundin bin.)
Ja, es gibt Landsleute, die sich gegen jede Norm und jedes Gesetz benehmen.
Aber gibt es die nicht auch unter den Eingeborenen?
Und gibt es nicht auch diejenigen Mitbürger mit Migrationshintergrund, die den gleichen Glauben haben wie die Eingeborenen dieses Landes?
Wie haben sich Jahrhunderte vor Sprachkursen und Internet, DSDS und Telekom die Menschen unterhalten, wenn sie weit über die Grenzen ihres Landes hinaus zogen?
Man zog entweder das Messer gegen den Fremden, oder begenete ihm mit Respekt und Neugier.
Gesten und Mimik ersetzten eine direkte verbale Kommunikation, die durch die Jahre, die man in gegenseiteigem Respekt verbrachte aber allmählich möglich wurde.
Wir leben in aufgeklärten Zeiten?
Ich glaube eher, wir leben in einem technisierten Mittelalter.
Mimik, Gesten und Respekt sind durch verbale Klingen ersetzt worden, deren Wunden schlechter heilen, als ein Schnitt in dem ein fiebriger Wundbrand wütet.
(Mit freundlicher Genehmigung von Kemal Yldirim, 16 Jahre)
LG
Dirk67