Der Cellist von Sarajewo - Steven Galloway

  • Der Cellist von Sarajewo
    ISBN: 978-3-630-87279-7
    Luchterhand Literaturverlag München
    Verlagsgruppe Random House
    239 Seiten, 19,95 Euro
    Originaltitel: The Cellist of Sarajewo


    Der Autor: Steven Galloway wurde 1975 in Vancouver geboren und wuchs in Kamloops in British Columbia auf. Er besuchte das University College of the Cariboo und die University of British Columbia. Sein erster Roman “Ascension” (2003) wurde für den BC Bücher Preis “Ethel Wilson Fiction Prize” nominiert und in zahlreiche Sprachen übersetzt.


    Buchrückentext: Bosnien, Anfang der neunziger Jahre: Tag und Nacht wird das belagerte Sarajewo beschossen. Die Bürger der Stadt leben in permanenter Angst, die Lebensmittel werden knapp, und das Leben ist ein einziger Ausnahmezustand. Doch immer wieder gibt es Menschen, die dem Irrsinn trotzen. Allen voran ein couragierter Musiker, der sich zum Zeichen seines Protestes gegen das sinnlose Leid jeden Tag um vier Uhr nachmittags im Frack mit seinem Cello inmitten der Ruinen auf die Straße setzt und das Adagio von Albinoni spielt, zweiundzwanzig Tage lang. Jeden Tag setzt er damit der Menschlichkeit ein Denkmal, und jeden Tag schenkt er seinen Mitbürgern von neuem Hoffnung und Mut.


    Meine Rezension: Selten hat mich ein Buch so nachdenklich zurückgelassen, wie „ Der Cellist von Sarajewo“ und auch zwei Tage nach dem ich es beendet habe, sehe ich die Figuren, die Galloway stellvertretend für die Bürger der damals eingeschlossenen Stadt Sarajewo beschrieben hat, immer noch vor mir. Alles beginnt mit dem Einschlag einer Mörsergranate, die mitten auf einem Markt explodiert, auf dem zweiundzwanzig Menschen um Brot anstehen. Der Cellist, der sieht, wie sie zerfetzt werden, wird von nun an zweiundzwanzig Tage dort auf der Straße sitzen und das Adagio in g-moll spielen.
    Kein Wort verrät uns der Autor über die Motive des Cellisten, er beschreibt nur die Musik und die Wirkung, die sie auf die Menschen in dieser zerstörten Stadt hat. Damit gibt er uns die Freiheit, alles in diesen Musiker hinein zu interpretieren - genauso, wie man es bei dem Musikstück schon unzählige Male versucht hat - Protest gegen den Krieg, Auflehnung gegen das sinnlose Sterben, Trost für die Hinterbliebenen, Erinnerung an die Toten - all das kann dieses Adagio ausdrücken, all dass kann man als Grund für sein Handeln sehen, doch eigentlich sieht man durch diese fehlende Erklärung immer nur in sich selbst, sieht das, was man selber als Motiv sehen würde.


    Es wird erzählt von Dragan und seinem auf einmal lebensgefährlich gewordenen Weg zu seiner Arbeitsstelle. Man liest von Kenan, der sich alle vier Tage mit leeren Plastikkanistern auf den Weg macht, um für seine Familie Wasser aus der Brauerei in den Bergen zu holen und von Strijela, der Studentin, die früher im Schützenverein der Universität war und nun als Heckenschützin Soldaten erschießt. Mehr Personen braucht es nicht, um zu zeigen, wie der Krieg eine ganz normale Stadt – ganz normale Menschen verändert hat. Die Feinde der Menschen in der Stadt sind die Männer in den Bergen, die auf alles schießen, was sie in ihren Zielfernrohren sehen. Nur Hunde interessieren sie nicht, die dürfen leben. Und so gleicht jeder Gang auf die Straßen der Stadt einem Spießrutenlauf. Überall sind zerschossene Autos, Straßenbahnen und Ruinen, die man als Deckung nutzen kann und manchmal entscheidet nur das Glück, ob man lebend auf die andere Straßenseite kommt. Es gibt kein fließendes Wasser, keinen Strom und die Lebensmittel, die als Spenden für die Stadtbewohner gedacht waren, werden zu hohen Preisen auf dem Schwarzmarkt verkauft.
    Das Buch zeigt mit erschreckender Deutlichkeit, wie schnell selbst die kleinen Dinge des alltäglichen Lebens, die uns so selbstverständlich vorkommen, plötzlich zum Luxus werden und wie zerbrechlich der Frieden sein kann. Es mahnt, dass man Zivilisation nicht geschenkt bekommt, sondern dass man immer wieder an ihr arbeiten muss und es zeigt, dass man, wie der Cellist von Sarajewo, trotz allem auf seine ganz persönliche Weise etwas gegen den Krieg unternehmen kann. 10 von 10 Punkten für dieses grandiose und bewegende Buch.


    Nachsatz: Der Cellist von Sarajewo hat tatsächlich gespielt und das Bild, auf dem er mit seinem Cello in den Trümmern der zerstörten National-Bibliothek sitzend abgebildet ist, geht mir beim Betrachten ziemlich unter die Haut: Link zu Wikipedia
    Das Adagio
    Über das Adagio

  • Der Cellist von Sarajevo – Stephen Galloway


    Meine Rezension:
    Dieser Roman beschreibt einen Zeitabschnitt aus der Belagerung der Stadt Sarajevo im Krieg, Viele Menschen kommen ums Leben, auch durch Heckenschützen. Aus Protest spielt ein Cellist für 22 Tage öffentlich ein Adagio.


    Etwas fehlt dem Roman die Authentizität, die ein Text von einem Zeitzeugen haben würde, aber er ist anscheinend gut recherchiert.


    Mehrere Personen werden ausführlich betrachtet, der Cellist als Symbolfigur ist nicht dabei.


    Mich hat die Figur der Scharfschützin Strijela interessiert. Der Text versucht zu ergründen, was eine Frau dazu treibt, im Krieg zur Mörderin zu werden. Teilweise gibt es gute Ansätze, wenn gezeigt wird, wie sie zwischen den Interessengruppen hin- und herschwankt, wie das Töten ihr als besondere Begabung zur Lust, zur Sucht wird. Eine aussagekräftige Erklärung in letzter Konsequenz fehlt dann doch. Der Roman fordert für meinen Geschmack zu viel Sympathie für diesen Charakter ein. Auch kommt mir der Sinneswandel, der mit dem Namenswechsel immerhin als Motiv geschickt gemacht ist, nicht ganz glaubwürdig vor.


    Dass der Cellist nur als Symbolfigur auftritt, kann ich verstehen, das trägt die Handlung des Romans. Aber eigentlich hätte ich mir auch mehr über ihn gewünscht, zumal die Erzählhaltung ihn durch seine Tränen beim letzten Konzert doch noch einen charakterlichen Wesenszug verleiht, die es auch erlaubt hätte, ihn als Figur auszubauen.


    Mit den anderen Personen des Romans habe ich auch meine Probleme. In diesen chaotischen, absurden Zuständen, bleiben sie fast zu normal und zu durchschnittlich. Hier hätte ich mir gewünscht, dass die Angst und auch die inneren, seelischen Verletzungen durch die schlimmen Zustände noch besser beschrieben worden wären.
    Doch immerhin sind viele gute Ansätze da und es gibt nicht viele Autoren, die den Versuch überhaupt unternehmen.

  • Meine Rezension:


    Die Rahmenhandlung an sich berührte mich sehr: da spielt ein Cellist, der mit ansehen musste, wie 22 Menschen getötet wurden, als sie nach Brot anstanden, 22 Tage lang immer wieder ein Adagio.
    Dieses Adagio wurde von einem Italiener nach Noten, die er 1945 aus dem zerstörten Dresden rettete, komponiert (ob das so stimmt, ist inzwischen umstritten). Für mich hat das eine unglaubliche Symbolkraft, von Hoffnung und Auferstehung.


    Innerhalb dieser Rahmenhandlung erzählt der Autor abwechselnd von 3 Menschen in der nahezu zerstörten und täglich unter Beschuss stehenden Stadt Sarajevo. Es ist unvorstellbar, wie der Krieg das Leben dieser Menschen ändert. Da ist zum einen die Studentin Strijela, die vom Sportschützenverein in die Armee rekrutiert wird und nun statt auf runde Zielscheiben auf lebende Menschen schießt. Natürlich ist sie besser als die Soldaten auf den Bergen, die auf Frauen und Kinder schießen. Sie nimmt nur die Monster auf den Bergen ins Visier…
    Dann ist da Dragan, der zumindest seine Familie noch aus der Stadt schaffen konnte, als das noch ging. Er schlägt sich jeden Tag durch die Stadt, um bei der Bäckerei etwas Brot zu bekommen. Dabei wird er täglich das Ziel von Heckenschützen und erlebt mit, wie andere Menschen vor seinen Augen erschossen werden.
    Ebenfalls zur menschlichen Zielscheibe wird Kenan, der alle paar Tage mit Plastikflaschen zur alten Brauerei am anderen Ende der Stadt zieht, weil es dort unverseuchtes Brunnenwasser gibt. Er zweifelt oft an sich: kann er seine Angst überwinden und wird er den Weg auch diesmal schaffen?
    Das Buch erzählt von Angst, Wut und Abgestumpftheit – aber auch von großem Mut und Menschlichkeit. Oft habe ich überlegt, wie ich in der Situation wohl handeln würde und war froh, dass ich die Antwort darauf nicht erfahren muss.


    Der Autor schreibt schnörkellos, von einer nahezu entfernten Perspektive, ohne zu werten oder Schlussfolgerungen zu ziehen, die mag der Leser selbst finden. Wie gesagt, mich hat das Buch stark bewegt und für mich ist es definitiv ein Lesemuss und bekommt volle 10 Punkte von mir und hat große Chancen, mein Buch des Jahres zu werden!


    Lesen!

  • Ich habe von diesem Mann schon gehört und als ich das Buch gestern in der Buchhandlung gesehen haben, musste es ganz einfach mitkommen.


    Albinonis Adagio in G-Moll ist eines der ergreifensten Musikstücke, die ich kenne. Es ist so zerbrechlich und so fein - es ist unglaublich, dass diese Musik von einem Menschen komponiert wurde. So empfinde ich es.


    Ich denke mal, dass dieses Buch nicht etwas für zwischendurch ist. Da muss man sich Zeit lassen und wahrscheinlich auch in der richtigen Stimmung.

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  • :wave Ja, ich denke, man sollte sich Zeit für dieses Buch nehmen. Manche Stellen haben es wirklich in sich. Es sind so viele kleine Dinge, die einem bewusst machen, was der Krieg für die Menschen dort bedeutet hat und sei es auch nur, dass keine Geschäfte mehr geöffnet hatten und die Bedürfnisse der Menschen plötzlich nur noch auf das Weseltliche reduziert waren: Essen, Trinken, Überleben...


    Ein kleiner Nebensatz ist mir irgendwie im Gedächtnis geblieben, da ging es darum, dass es auf einmal auffällig viele grauhaarige Frauen gab, da niemand mehr Haarfärbemittel verkaufte. Komisch, dass ausgerechnet das mir so aufgezeigt hat, was es bedeutet, nichts mehr kaufen zu können. :gruebel

  • 3 Hauptfiguren, 3 Geschichten, 1 Stadt, 1 Cellist und immer die gleiche Aussage: Krieg ist Sch.... einfach nur übel.
    Kenan, der sich alle 4 Tage aufmachen muss, um Wasser zu holen. Der nicht weiss, ob er unverletzt wieder nach Hause kommt.
    Dragan, ein Bäcker, der Glück hat und noch arbeiten kann/darf.
    Strijela, eine Studentin, die vor dem Krieg im Sportschützenverein war und sich deshalb "berufen" fühlte in diesem Kireg Heckenschützin zu "werden" um gegen die Männer auf den Bergen zu kämpfen.
    Der Cellist, der nur am Rande erwähnt wird, weil er an 22 Tagen das Adagio in G-Moll von Albinoni spielt. Alle 3 hören ihm zu, treffen sich nie und wünschen sich Frieden und dass alles wieder wie vor dem Krieg sein möge. Jedoch wissen sie, dass es nie wieder so sein wird.


    Allein die Vorstellung einen Krieg zu erleben, bringt mich fast um den Verstand. Alltäglich Dinge werden schwer, Hunger und Durst können nicht mehr einfach so gestillt werden.
    Ein Buch, das mich nachdenklich gestimmt hat. Keine leichte Kost, aber sehr empfehlenswert.


    8 von 10 Punkten

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  • Ich kann mich der Rezi von Eskalina nur anschliessen. Ein Buch, dass einen sehr nachdenklich zurücklässt. Das den "Alltag" im Krieg beschreibt, sehr eindringlich und bedrückend.
    Beim lesen dieses Buches habe ich mir immer das Adagio von Albinoni angehört und es hat mich sehr berührt.

  • Dieser Roman beruht auf einer wahren Begebenheit: Während der Belagerung der Stadt Sarajevo im Bosnienkrieg Anfang der Neunziger Jahre beobachtet ein renommierter Cellist von seinem Fenster aus, wie auf der Straße eine Menschenmenge, die nach Brot ansteht, von einer Mörsergranate angegriffen wird. 22 Menschen sterben, viele werden verletzt.


    Der Cellist beschließt, an den folgenden 22 Tagen jeweils nachmittags um 16 Uhr, zur Zeit, als der Angriff erfolgte, sich auf die gleiche Straße zu setzen und sein Cello zu spielen. 22 mal das Adagio in g-moll von Tomasi Albinoni, jenes Stück für Cello, das dem Cellisten seit Monaten hilft, den täglichen Wahnsinn im besetzten Sarajevo zu ertragen und die Welt um sich herum für einen Moment zu vergessen.


    Diser Entschluß steht fest. Und er setzt ihn um. Doch nachdem dem Leser die Beweggründe des Cellisten erklärt wurden, taucht er nur noch als Figur in den Geschichten dreier anderer Menschen in Sarajevo auf: Da ist Strijela, die Scharfschützin, die von der Armee dazu gebracht wird, gegnerische Heckenschützen zu töten. Strijela bedeutet Pfeil, so nennt sie sich, seit sie im Dienste der Armee ist, weil sie befürchtet, sonst ihre wirkliche Identität, die Identität vor dem Krieg, zu verlieren, wenn sie unter ihrem richtigen Namen mordet.


    Dann lernen wir Kenan kennen, den Ehemann und Vater dreier Kinder, der sich alle vier bis fünf Tage aufmacht, um Wasser für die Familie zu besorgen, denn in Sarajevo funktioniert keine Versorgung mehr, es gibt kein Wasser, keinen Strom. Kenan geht von seiner Wohnung aus ins Tal hinab und auf der anderen Flußseite wieder hinan, zur Brauerei, die als einzige Quelle für sauberes Wasser bekannt ist. Der Weg dorthin ist lang und gefährlich, aber aus Sorge um seine Familie will Kenan niemanden dabei haben.


    Und wir treffen Dragan, dessen Frau und Sohn noch aus Sarajevo fliehen konnten, bevor sich der Angreiferring um die Stadt schloß. Seine Wohnung ist zerstört, er wohnt bei seiner Schwester und arbeitet in einer Bäckerei, in der er täglich ein kleines Brot bekommt. Und so ist auch er auf dem Weg durch diese zerstörte Stadt, die ihren Bewohnern durch ihre Lage keine Ausweg gelassen hat, in einem Krieg, den sicherlich niemand gewollt hat, der aber viel Leid und Trauer über Sarajevo gebracht hat…


    Mit klarem, beinahe schon kühlem Stil erzählt Galloway hier diese Geschichte, verdichtet sie, läßt den Leser teilhaben am Innenleben der Menschen in einer verzweifelten Lage, einer hoffnungslosen Stadt, und doch kann man es ahnen, daß sich die Menschen gegen ihr Schicksal auflehnen und für eine bessere Welt kämpfen wollen. Jeder für sich, jeder auf seine Art, jeder für Sarajevo.

    :lesend Anthony Ryan - Das Heer des weißen Drachen; Navid Kermani - Ungläubiges Staunen
    :zuhoer Tad Williams - Der Abschiedsstein

  • Im Bosnienkrieg wurde die Stadt Sarajevo von April 1992 bis Februar 1996 belagert. Strom, Wasser und Lebensmittel waren knapp, von anderen Gütern ganz abgesehen. In der Stadt wimmelte es von Heckenschützen, die auf alles schossen, was sich bewegte. Am 27. Mai 1992 schlug eine Mörsergranate beim Markt in der Vase Miskina-Straße ein. Dabei kamen 22 Menschen ums Leben, rund 60 weitere wurden schwer verletzt. Der Angriff wurde als „Breadline Massacre“ bekannt, da ausschließlich Zivilisten betroffen waren, die auf die Verteilung von Brot warteten. An den folgenden 22 Tagen spielte ein Cellist an dieser Stelle das Adagio in G-Dur von Albinoni. Soweit die Tatsachen.


    In Steven Galloways Roman ist der Cellist, der von seinem Fenster aus das Massaker mitansehen muss, das Bindeglied für die Bewohner der Stadt. Zuverlässig jeden Nachmittag um 16 Uhr setzt sich der 1. Cellist der Philharmonie von Sarajevo im Frack mit seinem Cello auf einen Hocker inmitten des Gerölls und spielt, 10 bis 15 Minuten lang, ungeachtet der Gefahr, in die er sich begibt, 22 Tage lang, für jeden Toten ein Tag. Er spielt zum Gedenken an die Toten, er trotzt damit dem Krieg, er lässt die Menschen ein paar Minuten verschnaufen und träumen, er bringt kurzzeitig Hoffnung.


    Stellvertretend für alle Bewohner Sarajevos begleitet der Leser drei weitere Menschen durch diese 22 Tage.


    Strijela war Studentin und Mitglied der Schützenmannschaft der Universität. Sie wurde von den Verteidigern der Stadt als Scharfschützin rekrutiert. Sie wollte nie einen Menschen töten, hatte auch vorher nie auf einen geschossen, ließ sich aber einreden, dass noch viel mehr Menschen ums Leben kommen würden, wenn sie nicht die Heckenschützen in den Bergen und in der Stadt erledigen würde. Sie kämpft einen schweren inneren Kampf.


    Kenan, ein Familienvater, geht alle paar Tage den weiten Weg zur Brauerei, wo es Trinkwasser gibt und schleppt die schweren Kanister nach Hause. Der Weg ist gefährlich, überall lauern Heckenschützen. Die Menschen versuchen, sich nur im Schutz von Häusern oder Containern, die extra zu diesem Zweck aufgestellt wurden, zu bewegen. Doch führt der Weg auch immer wieder über eine offene Straße, Kreuzung oder Brücke, wo die Heckenschützen leichtes Spiel haben. Man weiß nie, ob und wo sie gerade lauern, „Sarajevo-Roulette“ nennen sie das. Kenan ist kein Held, er hat Angst zu sterben, hat Angst, nicht mehr für seine Familie sorgen zu können.


    Auch Dragan, der Bäcker, hat Angst. Trotzdem nimmt er jeden Tag den gefährlichen Weg zur Arbeit auf sich. Seine Frau und seinen Sohn hat er zu Beginn der Unruhen nach Italien geschickt, so weiß er wenigstens sie in Sicherheit. Aber er vermisst sie. Sein missmutiger Schwager kann sie nicht ersetzen.


    Der Leser erlebt mit Strijela, Kenan und Dragan den schrecklichen Alltag in der belagerten und stark zerstörten Stadt. Man hat das Gefühl, wirklich mittendrin zu sein. Die Schilderung wirkt absolut authentisch. Der Roman übt einen wahnsinnigen Sog aus. Man hält förmlich den Atem an, wenn man mit den Protagonisten über die Straße geht und wartet jederzeit auf die tödliche Gewehrkugel. Die Charaktere haben eine enorme Tiefe, man glaubt jeden schon ewig zu kennen. Dabei kennen sie sich angesichts der Umstände manchmal selbst nicht wieder.


    Selten hat mich ein Buch so berührt wie dieses. Die Menschen lernen, mit dem Krieg zu leben, die Situation als „normal“ zu empfinden. Doch wirklich normal kann es ihnen doch nicht vorkommen. Immer wieder denken sie an früher, als alles noch in Ordnung war, und an die Zukunft, wenn hoffentlich wieder als in Ordnung sein wird. Sie arrangieren sich mit den Umständen, aber sie finden sich nicht damit ab. Für mich sind Strijela, Kenan und Dragan Helden.

  • Titel: Der Cellist von Sarajevo
    Autor: Steven Galloway
    Übersetzt aus dem Englischen von: Georg Schmidt
    Verlag: btb
    Erschienen als TB: Juni 2010
    Seitenzahl: 240
    ISBN-10: 344273892X
    ISBN-13: 978-3442738922
    Preis: 9.95 EUR


    Das sagt der Klappentext:
    Dem Geschehen liegt eine wahre Begebenheit zugrunde
    Bosnien, Anfang der 90er Jahre: Tag und Nacht wird das belagerte Sarajevo aus den Bergen ringsum beschossen. Die Bürger der Stadt leben in Angst, Nahrung und Wasser werden knapp. Doch immer wieder gibt es Menschen, die dem Irrsinn des Bürgerkriegs trotzen. Allen voran ein couragierter Musiker, der sich zum Zeichen des Protests gegen den sinnlosen Tod von 22 Menschen bei einem Granatenangriff jeden Tag um vier Uhr nachmittags im Frack mit seinem Cello inmitten der Ruinen auf die Straße setzt und das Adagio von Albinoni spielt, 22 Tage lang.


    Der Autor:
    Steven Galloway wurde 1975 in Vancouver, Kanada, geboren und lebt dort mit seiner Familie.


    Meine Meinung:
    Was gibt es zu diesem Buch zu sagen. Es ist kein besonderes Buch - aber es ist ein wichtiges Buch. Ein besonderes Buch wäre es dann, wenn der Autor mit weniger Distanz geschrieben hätte, wenn er die Schrecken des Krieges realistischer beschrieben hätte. Es wird nicht direkt weichgespült - aber so manches Mal legt sich ein Schleier über dieses Buch, ein Schleier, der manches nur schemenhaft erscheinen lässt. Dabei sollte doch gerade der Krieg mit knallharten, realistischen Beschreibungen erzählt werden. Kein Leser sollte auf Schonung hoffen. Doch der Leser wird an der einen oder anderen Stelle geschont. Und so wird der Schrecken den die Menschen dort in Sarajevo erlebt hatten nicht in seiner ganzen Breite geschildert.
    Was macht dieses Buch aber nun zu einem wichtigen Buch?
    Dieses Buch zeigt deutlich das fast schon verbrecherische Versagen der europäischen Staatengemeinschaft. Es zeigt, dass man die Menschen im Kriegsgebiet allein gelassen hat, das man vielfachen Mord zugelassen hat. Europa schaute zu, als unzählige Menschen einen sinnlosen Tod starben.
    Natürlich ist dieses Buch ein lesenswertes Buch. Es zeigt die Unmenschlichkeit in dieser Welt, die wir täglich neu antreffen und die sich nicht auf ein Gebiet beschränkt, sondern die an jedem Ort anzutreffen ist.
    Es ist aber auch ein Buch gegen das Wegschauen - etwas was die Menschen in der Regel wirklich großartig beherrschen. Aber warum sollen die Menschen hinschauen, wenn schon ihre Staatsleader Mord, Zerstörung und Krieg zulassen und gekonnt wegschauen.
    7 Eulenpunkte

    Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es sagen darfst. (Evelyn Beatrice Hall)


    Allenfalls bin ich höflich - freundlich bin ich nicht.


    Eigentlich mag ich gar keine Menschen.

  • Ich hatte teilweise Probleme damit, beim Schreibstil zu folgen, wobei gerade Kenan und Dragan ja viel vom alten Sarajevo berichtet haben, aber ich bei dem Einen immer das Gefühl hatte, das noch "mitgehen" zu können in Gedanken, mir das vorstellen zu können, während es bei dem Anderen irgendwie dumpfer, wie eine Straßenkarte rüberkam.


    Gut fand ich die spätere Entwicklung der drei Protagonisten, weil es zeigt, wie sie versucht haben im Krieg etwas von früher, von ihrem alten Ich zu bewahren und wie sie das wieder nach außen dringen lassen wollen...dass manche Menschen an ihnen nur vorüberzogen und nie wieder auftauchten, fand ich gut; bei Anderen fand ich es schade, insbesondere bei Frau Ristovski...da hätte ich mir irgendwie einen Abschluss gewünscht...


    7 Punkte.

  • Ein Buch über den Krieg der in den 90er Jahren in Ex-Jugoslawien gewütet hat. Gewiss kein Thema mit dem ich mich in meiner Freizeit eingehend befassen möchte und doch hat es dieses Buch geschafft, das ich mich in den letzten zwei, drei Tagen gedanklich damit beschäftigt habe. Nur eine paar Tage im belagerten Sarajevo werden in diesem Buch geschildert aber diese kleinen Episoden aus einem langen Krieg haben etwas bewegendes in sich. Aus der Sicht von drei Personen, die sich nicht kennen, wird der schreckliche Alltag erzählt wie er sich vor knapp zwanzig Jahren abgespielt hat. Mann muss wissen, dass Sarajevo inmitten des Dinarischen Gebirges liegt und diese geografische Lage führte dazu, dass Heckenschützen sich in den umliegenden Wäldern und Felsformationen verschanzen und Menschen über etliche hundert Meter Distanz gezielt töten konnten. Für die Zivilbevölkerung ein unmenschlicher Gräuel weil jeder, der sich auf offener Strasse bewegte, sich nie sicher sein konnte ob er nicht gerade unbemerkt von einem Scharfschützen ins Visier genommen wird. Irgendwann muss aber jeder das Haus verlassen um sich Lebensmittel zu beschaffen oder sich um Freunde und Verwandte zu kümmern.


    Ein wahre Begebenheit steht für die Rahmenhandlung dieser Geschichte Pate. Eine Mörsergranate tötete zweiundzwanzig Menschen die am Markt Brot kaufen wollten. Ein bekannter Cellist hat dieses Massaker miterlebt und es hat ihn dazu bewogen, vom nächsten Tag an an zweiundzwanzig aufeinanderfolgenden Tagen ein Musikstück auf seinem Cello zu spielen. Einen Tag für jedes Opfer und dies auf offener Straße in freier Schusslinie für die Heckenschützen. Immer Nachmittags um vier Uhr setzt er sich im Frack hin und spielt Musik. Eine absurde Tat inmitten des kriegerischen Wahnsinns aber eine Geste der Menschlichkeit. Für wen spielt er? Für die Toten? Für die Lebenden? Für sich selbst? Was kann er bewirken? Er tut schlicht und einfach das was er gelernt hat und das was er kann und das er in dem Moment für das Richtige hält. Es wird zwar kaum etwas bewirken oder verändern aber er hat zumindest das gute Gefühl ein Zeichen zu setzen.


    In diesem Roman geht es aber nicht um den Cellisten. Er ist bloss der Schnittpunkt um einen kurzen Lebensabschnitt von drei fiktiven Figuren zu schildern. Strijela, Dragan und Kenan leben und überleben in Sarajevo. Eine Scharfschützin, ein älterer Mann und ein Familienvater. Sie werden sich nie begegnen, jeder hat seine eigene Geschichte und sie stehen ohnmächtig dem schicksalhaften Gang des Lebens gegenüber. Mit wohlgewählten Worten und einem besonnen Schreibstil benötigt der Autor Steven Galloway nur rund 230 Seiten um in Ruhe das zu erzählen was er der Leserschaft mitteilen will. Gegen das Ende hin wird vielleicht es etwas gar schnell, auch mit der Entwicklung der Figuren, aber es entfaltet dennoch die gewünschte Wirkung. Ein gutes Buch und Literatur die zum Denken anregt und gegen das Vergessen ankämpft. Wertung: 8 Eulenpunkte


    Ein Buch das ich vom Büchertauschtisch vom Frühjahreseulentreffen 2015 habe. Vielen Dank an die/den mir unbekannte(n) edle(n) Spender(in). :-)